Für den Rest dieses Vormittags bin ich wie betäubt. Ich habe drei Therapiesitzungen unmittelbar hintereinander, von denen ich mich an keine deutlich erinnere. Zum ersten Mal bin ich dankbar für die kleinen Icons auf meinem Desktop – ich kann mir die Tonaufzeichnungen später anhören, wenn ich weniger abgelenkt, mehr bei der Sache bin. Beschämt stelle ich mir mein teilnahmsloses Gemurmel vor, das unbeteiligte Hm, hm , das ich anstelle von aufrichtig interessierten Fragen von mir gegeben habe. Das ausgedehnte Schweigen, bevor mein Blick wieder scharf wurde und ich mich daran erinnerte, wo ich war und was ich hier tat. Meine erste Klientin saß im Wartebereich, als Detective Thomas die Praxis verließ. Ich sah ihren Gesichtsausdruck, als ich mich endlich erhob und in den Empfangsbereich ging, ihren Blick, der von mir zur Tür zuckte, als überlegte sie, ob sie wirklich in mein Sprechzimmer kommen oder aufstehen und einfach gehen sollte.
Um 12:02 Uhr – es soll nicht überhastet wirken – stehe ich auf, fahre den Computer herunter, öffne meine Schreibtischschublade und lasse die Finger über die diversen Medikamente wandern. Ich betrachte das Diazepam in der Ecke, lasse es stehen und entscheide mich stattdessen für ein Fläschchen Xanax, nur vorsichtshalber. Dann schließe ich die Schublade ab, eile hinaus und weise Melissa im Vorbeigehen an, abzuschließen, wenn sie nach Hause geht.
«Am Montag sind Sie wieder da?», fragt sie und steht auf.
«Ja, am Montag.» Ich drehe mich um und versuche, ein Lächeln aufzusetzen. «Ich will nur ein paar Hochzeitseinkäufe machen. Letzte Erledigungen abhaken.»
«Richtig.» Sie mustert mich aufmerksam. «In New Orleans. Das sagten Sie doch.»
«Genau.» Ich überlege, was ich sonst noch sagen könnte, irgendetwas Normales, aber das Schweigen zieht sich in die Länge, unbehaglich und quälend. «Tja, wenn das alles ist –»
«Chloe», sagt sie und zupft an ihrer Nagelhaut. Melissa spricht mich in der Praxis niemals mit dem Vornamen an; sie trennt das Private und das Berufliche immer strikt. Offenbar möchte sie mir etwas Persönliches sagen. «Ist alles in Ordnung? Was ist in letzter Zeit mit Ihnen los?»
«Nichts», erwidere ich und lächle noch einmal. «Nichts ist los, Melissa. Ich meine, außer dass eine Klientin von mir ermordet wurde und in einem Monat meine Hochzeit ist.»
Ich versuche, über meinen kläglichen Versuch eines Witzes zu lachen, aber es klingt erstickt. Ich hüstle. Melissa lächelt nicht.
«Ich stehe in letzter Zeit einfach sehr unter Druck.» Es kommt mir so vor, als wäre dies der erste aufrichtige Satz, den ich seit Langem zu ihr gesagt habe. «Ich brauche eine Pause. Eine mentale Auszeit.»
«Okay», erwidert sie zögerlich. «Und dieser Polizist?»
«Der hatte nur noch ein paar Fragen zu Lacey, das ist alles. Ich war die Letzte, die sie lebend gesehen hat. Ich bin ihre gewichtigste Zeugin, offensichtlich haben sie im Moment nicht viel, womit sie arbeiten können.»
«Okay», sagt sie noch einmal, diesmal zuversichtlicher. «Okay. Na, dann genießen Sie Ihre Auszeit. Ich hoffe, Sie kommen erfrischt zurück.»
Ich gehe hinaus zum Auto, werfe meine Reisetasche wie eine unverlangte Werbesendung auf den Beifahrersitz, setze mich hinters Steuer und lasse den Motor an. Dann hole ich mein Telefon heraus, rufe meine Kontakte auf und schreibe eine Nachricht.
Bin unterwegs.
Die Fahrt zum Motel dauert nicht lange, nur eine Dreiviertelstunde. Ich habe das Zimmer am Montag reserviert, gleich nachdem ich Melissa gebeten hatte, mir die Zeit im Terminkalender zu blocken. Da ich bar zahlen wollte und wusste, dass ich ohnehin nicht viel Zeit auf meinem Zimmer verbringen würde, hatte ich die erstbeste billige Übernachtungsmöglichkeit mit mehr als drei Sternen genommen, die ich bei Google gefunden hatte. Ich stelle den Wagen auf dem Parkplatz ab, gehe zur Rezeption und hole meinen Schlüssel, ohne mich auf Small Talk mit dem Mann am Empfang einzulassen.
«Zimmer zwölf», sagt er und reicht mir den Schlüssel. Ich nehme ihn entgegen und lächle matt, beinahe, als wollte ich mich für irgendetwas entschuldigen. «Sie sind gleich neben dem Eiswürfelautomaten, Sie Glückspilz.»
Während ich die Zimmertür aufschließe, vibriert das Telefon in meiner Tasche. Ich hole es heraus, lese die Nachricht – Ich bin da – und schicke schnell eine Antwort mit meiner Zimmernummer. Dann werfe ich meine Tasche auf das einzelne breite Bett und sehe mich im Raum um.
Er wirkt so trostlos mit seinem Neonlicht, wie man es nur in Highway-Motels erlebt. Sämtliche Verschönerungsbemühungen lassen das Zimmer beinahe noch trauriger erscheinen: das Bild einer beliebigen Strandszene, das schief über dem Bett hängt, die Schokolade, die umsichtig auf meinem Kopfkissen platziert ist und sich schon ein bisschen weich anfühlt, als ich sie in die Hand nehme. In der Nachttischschublade finde ich eine Bibel ohne Einband. Ich gehe ins Bad und spritze mir Wasser ins Gesicht, dann drehe ich mein Haar zu einem Knoten auf. Es klopft an der Tür, und ich atme langsam aus, werfe verstohlen einen letzten Blick in den Spiegel und versuche, die Ringe unter meinen Augen zu ignorieren, die im grellen Licht besonders ausgeprägt wirken. Ich zwinge mich, das Licht auszuschalten, gehe zur Tür und sehe durch die Gardinen am Fenster eine Silhouette. Mit festem Griff packe ich den Türknauf und öffne.
Aaron steht vor mir, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Er wirkt, als wäre ihm unbehaglich zumute, und ich kann es ihm nicht verdenken. Ich versuche zu lächeln, um die Stimmung aufzulockern und davon abzulenken, dass wir uns in einem unscheinbaren Motelzimmer am Rande von Baton Rouge treffen. Ich habe ihm nicht gesagt, warum er hier ist und was wir eigentlich tun. Ich habe ihm nicht gesagt, warum ich heute nicht in meinem eigenen Haus schlafen kann, obwohl wir nicht einmal eine Autostunde weit entfernt sind. Als ich ihn am Montag anrief, sagte ich ihm nur, ich hätte eine Spur, die er bestimmt nicht ignorieren wolle – und dass ich seine Hilfe brauchte, um ihr nachzugehen.
«Hey», sage ich und lehne mich an die Tür. Sie ächzt unter meinem Gewicht, und so richte ich mich wieder auf und verschränke stattdessen die Arme. «Danke, dass Sie gekommen sind. Ich hole nur schnell meine Handtasche.»
Ich winke ihn herein. Er folgt der Einladung befangen und sieht sich um. Anscheinend beeindruckt ihn meine neue Unterkunft nicht. Wir haben kaum miteinander gesprochen, seit ich ihn letztes Wochenende bat, sich Bert Rhodes anzusehen, und das scheint ein ganzes Leben zurückzuliegen. Er hat keine Ahnung von meiner Auseinandersetzung mit Bert, meinem Besuch auf der Polizeiwache und Detective Thomas’ Befehl heute, mich aus der Ermittlung herauszuhalten – genau das Gegenteil dessen, was ich gerade tue. Er hat auch keine Ahnung, dass mein Verdacht sich von Bert Rhodes auf meinen eigenen Verlobten verlagert hat und ich seine Hilfe in Anspruch nehmen möchte, um meine Theorie zu beweisen.
«Wie läuft es mit der Story?», frage ich, aufrichtig neugierig, ob er mehr aufdecken konnte als ich.
«Mein Redakteur gibt mir bis Ende nächster Woche», sagt er und setzt sich auf die Bettkante. Die Matratze quietscht. «Wenn ich bis dahin nichts herausgefunden habe, ist es Zeit, zusammenzupacken und nach Hause zu fahren.»
«Mit leeren Händen?»
«Genau.»
«Aber Sie haben so viel Arbeit investiert. Was ist mit Ihrer Theorie? Mit dem Nachahmungstäter?»
Aaron zuckt die Achseln.
«Ich glaube immer noch daran», sagt er und zupft am Saum der Bettdecke. «Aber ganz ehrlich, ich komme nicht weiter.»
«Nun, vielleicht kann ich helfen.»
Ich gehe zum Bett, setze mich neben ihn, und die Matratze gibt so stark nach, dass wir einander zugeneigt sitzen.
«Wie denn das? Hat das mit Ihrer geheimnisvollen Spur zu tun?»
Ich betrachte meine Hände. Meine Antwort muss so formuliert sein, dass Aaron nur das erfährt, was er wissen muss.
«Wir werden mit einer Frau namens Dianne sprechen. Ihre Tochter verschwand etwa um die Zeit, als mein Vater die Morde beging – noch eine attraktive Jugendliche –, und auch ihre Leiche wurde nie gefunden, wie bei seinen Opfern.»
«Okay, aber Ihr Vater hat den Mord an ihr nie gestanden, oder? Nur die sechs.»
«Nein, das hat er nicht», bestätige ich. «Und er hatte auch keinen Schmuck von ihr. Sie passt eigentlich nicht ins Schema, aber da ihr Entführer nie gefunden wurde, lohnt es sich, die Sache mal genauer anzusehen, finde ich. Ich dachte, vielleicht ist er der Nachahmungstäter, wissen Sie? Wer er auch sein mag. Vielleicht hat er früher damit angefangen, die Verbrechen meines Vaters nachzuahmen, als wir dachten – vielleicht sogar schon, während sie noch geschahen. Er ist eine Weile abgetaucht, und vielleicht taucht er jetzt, zum zwanzigsten Jahrestag, wieder auf.»
Aaron sieht mich an, und fast rechne ich damit, dass er diese halbgare Idee, wegen der ich ihn herzitiert habe, als Beleidigung auffasst und einfach geht. Doch stattdessen schlägt er sich auf die Oberschenkel, atmet geräuschvoll aus und steht auf.
«Tja, okay», sagt er und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich kann nicht beurteilen, ob er mir meine Geschichte wirklich abkauft, ob er so verzweifelt nach einer Spur sucht, dass er bereit ist, mir blindlings zu folgen, oder ob er bloß mitspielt, um mir den Gefallen zu tun. So oder so, ich bin dankbar dafür. «Dann reden wir mit Dianne.»