Kapitel Siebenunddreißig

«Was können Sie uns über Sophie erzählen?»

Dianne sieht zu mir, als hätte sie mich völlig vergessen. Es fühlt sich falsch an, dass ich meine Beinahe-Schwiegermutter auf diese Weise kennenlerne. Sie ahnt eindeutig nicht, wer ich bin, und solange ich es vermeiden kann, ihr meinen Namen zu nennen, sollte es auch so bleiben. Ich bin nicht mehr auf Facebook, deshalb poste ich niemals Fotos von mir online, und selbst wenn ich es täte – Daniel spricht nicht mehr mit seinen Eltern. Sie sind nicht zur Hochzeit eingeladen. Ich frage mich, ob sie überhaupt von der Verlobung weiß.

Sie denkt kurz über die Frage nach, als hätte sie es vergessen, und kratzt sich an ihrem faltigen Arm.

«Was kann ich Ihnen über Sophie erzählen?», wiederholt sie meine Frage und zieht ein letztes Mal an ihrer Zigarette, bevor sie sie auf dem Holztisch ausdrückt. «Sie war ein wunderbares Mädchen. Klug, schön. Einfach schön. Das ist sie, da drüben.»

Dianne deutet auf ein einzelnes gerahmtes Foto an der Wand, ein Schulporträt. Es zeigt ein lächelndes Mädchen mit heller Haut und krausem blondem Haar vor einem türkisen Hintergrund, der wie ein Pool aussieht. Mich irritiert, dass sie nur ein Schulfoto aufgehängt haben und sonst keines. Es wirkt gestellt und unnatürlich, wie ein trauriger Schrein. Ich frage mich, ob Familie Briggs es einfach nicht so mit dem Fotografieren hat oder ob es tatsächlich keine anderen erinnerungswürdigen Momente gab. Ich sehe mich nach Fotos von Daniel um, finde aber keine.

«Ich hatte große Hoffnungen für sie», fährt sie fort. «Bevor sie verschwunden ist.»

«Was für Hoffnungen?»

«Ach, Sie wissen schon, einfach, dass sie hier rauskommt.» Dianne deutet auf den Raum, in dem wir sitzen. «Sie war besser als das hier. Besser als wir.»

«Wer ist ‹wir›?», fragt Aaron und tippt sich mit dem Stift an die Wange. «Sie und Ihr Ehemann?»

«Ich, mein Mann, mein Sohn. Ich dachte einfach immer, sie wäre die, die eines Tages hier rauskommt, wissen Sie. Die was aus sich macht.»

Als sie Daniel erwähnt, setzt mein Herz kurz aus. Ich versuche, mir vorzustellen, wie er hier aufwuchs, lebendig begraben unter Müllbergen und Zigarettenrauchschwaden. Mir wird klar, dass ich mich in ihm geirrt habe. Seine makellosen Zähne, seine glatte Haut, seine teure Ausbildung, sein gutbezahlter Job – ich hatte immer angenommen, dass das alles ein Produkt seiner Herkunft, seiner Privilegien sei. Dass er von Natur aus besser sei als ich, die angeknackste Chloe. Aber so ist es nicht; er ist nicht besser. Auch er ist beschädigt.

Er kennt dich nicht, Chloe. Und du kennst ihn nicht.

Kein Wunder, dass er heute so reinlich ist und immer so auf seine Erscheinung achtet. Er gibt sich große Mühe, genau das Gegenteil hiervon zu sein.

Oder vielleicht versucht er auch nur, zu verbergen, wer er in Wirklichkeit ist.

«Was können Sie uns über Ihren Mann und Ihren Sohn erzählen?»

«Mein Mann, Earl. Er ist jähzornig, das ist Ihnen bestimmt schon aufgefallen.» Sie sieht zu mir und grinst matt, als ob das Thema Männer und was sie so tun ein unausgesprochenes Band zwischen uns bildet. Jungs sind eben Jungs. Ich wende den Blick von dem Hämatom unter ihrem Auge ab, aber diese Frau ist nicht dumm. Sie muss mich dabei ertappt haben, dass ich dorthin sah. «Und mein Sohn, tja. Über den weiß ich nicht mehr viel. Aber ich hatte immer Sorge, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.»

Aaron und ich wechseln einen Blick, und ich fordere ihn mit einem Nicken auf, weiterzumachen.

«Wie meinen Sie das?»

«Ich meine, dass er auch jähzornig ist.»

Ich muss daran denken, wie Daniel mein Handgelenk brutal festhielt.

«Er hat immer versucht, gegen seinen Vater anzukämpfen und mich zu beschützen, wenn Earl nach einem Abend in der Kneipe zurückkam», fährt sie fort. «Aber als er älter wurde … ich weiß auch nicht. Irgendwann hat er damit aufgehört, er hat es einfach geschehen lassen. Ich glaube, er ist abgestumpft. Dafür muss ich wohl mir selbst die Schuld geben.»

«Okay.» Aaron nickt und macht sich Notizen. «Und wie hat Ihr Sohn – tut mir leid, wie, sagten Sie, heißt er?»

«Daniel. Daniel Briggs.»

Mir wird mulmig zumute, und ich zermartere mir das Hirn, ob ich Aaron gegenüber einmal Daniels vollen Namen erwähnt habe. Ich glaube nicht. Ich sehe ihn an. Er ist ganz darauf konzentriert, den Namen zu notieren, doch der scheint ihm nichts zu sagen.

«Okay, und wie hat Daniel auf Sophies Verschwinden reagiert?»

«Ganz ehrlich? Es schien ihm egal zu sein.» Dianne greift nach ihren Zigaretten und zündet sich eine weitere an. «Ich weiß, es ist nicht sehr mütterlich von mir, so etwas zu sagen, aber es stimmt. Insgeheim habe ich mich immer gefragt …»

Sie bricht ab, starrt in die Ferne und schüttelt sanft den Kopf.

«Was haben Sie sich gefragt?», hake ich nach. Jetzt sieht sie mich an, ihre Benommenheit ist fort. In ihrem Blick liegt eine gewisse Intensität, und ganz kurz bin ich davon überzeugt, dass sie weiß, wer ich bin. Dass sie jetzt mit mir redet, mit Chloe Davis, der Verlobten ihres Sohns. Dass sie versucht, mich zu warnen.

«Ich habe mich gefragt, ob er etwas damit zu tun hatte.»

«Wie kommen Sie darauf?», fragt Aaron, dessen Tonfall von Frage zu Frage eindringlicher wird. Er schreibt jetzt schneller mit, versucht, jedes Detail zu notieren. «Das ist eine schwerwiegende Anschuldigung.»

«Ich weiß nicht, nur so ein Gefühl. Vermutlich könnte man es Mutterinstinkt nennen. Kurz nachdem sie verschwunden war, habe ich Daniel gefragt, ob er wüsste, wo sie ist, und ich habe immer gemerkt, wenn er log. Er hat etwas verheimlicht. Und manchmal, wenn wir Nachrichten geguckt haben und da über ihr Verschwinden berichtet wurde, habe ich ihn dabei ertappt, wie er gelächelt hat – nein, eher gegrinst, wie über ein Geheimnis, das außer ihm keiner kennt.»

Ich spüre, dass Aaron mich ansieht, aber ich ignoriere ihn und konzentriere mich ganz auf Dianne.

«Und wo ist Daniel jetzt?»

«Ich habe keinen blassen Schimmer.» Dianne lehnt sich zurück. «Er ist am Tag nach seinem Highschool-Abschluss ausgezogen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.»

«Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein bisschen umsehen?», frage ich, mit einem Mal begierig, das Gespräch zu beenden, ehe Aaron zu viel erfährt. «Vielleicht in Daniels Zimmer? Wer weiß? Vielleicht finden wir da etwas, was uns die richtige Richtung weist?»

Sie streckt den Arm aus und deutet zur Treppe.

«Nur zu», sagt sie. «Ich habe das schon vor zwanzig Jahren der Polizei erzählt, ist nichts dabei rausgekommen. Die meinten, ein Teenager hätte das nicht durchziehen können.»

Ich stehe auf, steige mit übertrieben großen Schritten über die Hindernisse im Wohnzimmer hinweg und gehe über den schmutzigen, fleckigen beigen Teppich zur Treppe.

«Erstes Zimmer rechts», ruft Dianne, als ich schon auf der Treppe bin. «Hab es seit Jahren nicht angerührt.»

Oben angekommen, bleibe ich stehen. Meine Hand findet den Knauf, ich öffne die Tür und blicke in das Zimmer eines männlichen Teenagers. Ein Sonnenstrahl fällt durchs Fenster, sodass man den Staub in der Luft tanzen sieht.

«Sophies auch nicht», fährt Dianne unten fort. Ich höre Aaron aufstehen und ebenfalls die Treppe hinaufsteigen. «Hatte keinen Grund mehr, da hochzugehen. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was ich damit anfangen soll.»

Ich betrete den Raum und halte dabei die Luft an wie ein Kind, das über einen Spalt im Gehweg steigt – ein sonderbarer Aberglaube. Als würde etwas Schlimmes passieren, wenn ich dabei atme. Dies ist Daniels Jugendzimmer. An der Wand hängen Poster von Rockbands aus den Neunzigern, Nirvana etwa und die Red Hot Chili Peppers, an den Rändern eingerissen. Eine blau-grün karierte Bettdecke liegt zerwühlt auf einer Matratze am Boden, als wäre er gerade erst aufgewacht und aus dem Zimmer gegangen. Ich stelle mir vor, wie Daniel im Bett lag und seinen Vater nach Hause kommen hörte, betrunken und grölend. Zornig. Laut. Ich stelle mir das Geschrei vor, das Scheppern von Töpfen und Pfannen, den dumpfen Knall, mit dem ein Körper an die Wand prallt. Ich stelle mir vor, wie er reglos dalag und lauschte. Lächelte. Abgestumpft.

«Wir sollten besser gehen», flüstert Aaron, der geräuschlos hinter mich getreten ist. «Wir haben, weswegen wir gekommen sind.»

Aber ich höre nicht zu. Ich kann nicht. Ich gehe weiter durchs Zimmer und nehme diesen Ort aus Daniels Vergangenheit in mich auf, fahre mit den Fingern über die Wand bis zu einem Regal, auf dem Reihen verstaubter Bücher stehen, deren Papier vergilbt ist. Daneben liegen ein doppeltes Kartendeck und ein alter Baseball in einem Fanghandschuh. Mein Blick wandert über die Buchrücken – Stephen King, Lois Lowry, Michael Crichton. Es wirkt alles so typisch für einen Jugendlichen, so normal.

«Chloe», mahnt Aaron, aber mit einem Mal ist es, als hätte ich Watte in den Ohren. Ich kann ihn kaum hören, so laut rauscht mein Blut. Ich nehme ein Buch aus dem Regal und denke daran, was Daniel sagte an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegneten. Als er das gleiche Buch aus meinem Karton zog und mit der Hand über den Einband strich. Ich sehe noch das Funkeln in seinen Augen vor mir, als er mein Exemplar von Mitternacht im Garten von Gut und Böse in der Hand hielt.

Nichts für ungut , sagte er und blätterte durch die Seiten. Das ist ein tolles Buch.

Ich blase den Staub vom Einband und betrachte die berühmte Statue eines jungen, unschuldigen Mädchens, das den Kopf schräg hält, als wollte es fragen: Warum? Ich fahre mit der Hand über den Hochglanzeinband, ebenso wie er damals. Dann drehe ich es auf die Seite und entdecke eine Stelle, wo das Papier ein bisschen weiter auseinanderklafft, genauso wie in meinem Buch damals, nachdem er seine Visitenkarte hineingesteckt hatte.

Haben Sie’s mit Mord?

«Chloe», drängt Aaron erneut, aber ich achte nicht auf ihn, sondern atme tief durch, stecke einen Fingernagel in die schmale Lücke und schlage das Buch auf. Mein Blick fällt auf einen Namen, und in meiner Brust regt sich etwas, genau wie damals. Nur ist es diesmal nicht Daniels Name. Und es ist keine Visitenkarte. Es ist eine Sammlung alter Zeitungsausschnitte, ganz glatt, nachdem sie zwanzig Jahre in diesem Buch gesteckt haben. Mir zittern die Hände, aber ich zwinge mich, die Zeitungsausschnitte herauszunehmen. Die erste fettgedruckte Schlagzeile zu lesen.

Richard Davis als Serienmörder von Breaux Bridge entlarvt,

Leichen noch immer nicht gefunden

Und darunter starrt mich ein Bild meines Vaters an.