«Chloe, was ist das?»
Aarons Stimme dringt wie aus weiter Ferne zu mir, als riefe er mich vom anderen Ende eines Tunnels. Ich kann den Blick nicht von den Augen meines Vaters lösen. Von diesen Augen, die ich nicht mehr gesehen habe, seit ich als zwölfjähriges Mädchen im Wohnzimmer vor dem Fernseher auf dem Boden hockte. In diesem Augenblick muss ich an den Abend denken, an dem ich Daniel von meinem Vater erzählte und er tief besorgt zuhörte, während ich ihm Vaters Verbrechen in allen grausigen Einzelheiten schilderte. Daniel schüttelte den Kopf und behauptete, er habe noch nie davon gehört, er habe keine Ahnung gehabt.
Doch das war gelogen. All das: gelogen. Er wusste bereits von meinem Vater. Er wusste von seinen Verbrechen. Er bewahrte einen Artikel, der sämtliche Details aufführte, in seinem Jugendzimmer auf, in ein Buch gesteckt wie ein Lesezeichen. Er wusste, dass es meinem Vater gelungen war, diese Mädchen zu entführen und ihre Leichen so zu verstecken, dass sie niemals gefunden würden.
Hatte Daniel seiner Schwester etwas Ähnliches angetan? War mein Vater seine Inspirationsquelle gewesen? Ist er es noch?
«Chloe?»
Ich hebe den Kopf und sehe Aaron an. Meine Augen sind tränenverschleiert. Plötzlich wird mir klar: Wenn Daniel von meinem Vater wusste, bedeutet das, dass er auch über mich Bescheid wusste. Ich denke daran, wie wir uns im Krankenhaus über den Weg liefen – schicksalhafter Zufall oder Ergebnis sorgfältiger Planung, zur rechten Zeit am rechten Ort? Es war allgemein bekannt, dass ich dort arbeitete; der Zeitungsartikel belegte es. Ich denke daran, wie er mich ansah, so als würde er mich schon kennen. Wie er mein Gesicht absuchte, als wäre es ihm vertraut. Wie er den Kopf in den Karton mit meinen Habseligkeiten steckte; das Lächeln, das über sein Gesicht huschte, als ich ihm meinen Namen sagte. Wie er sich danach sofort in mich zu verlieben schien, nahtlos in mein Leben hineinglitt, so wie er sich überall und in jedes Umfeld einfügen kann.
Ich fasse es nur nicht, dass ich hier sitze. Mit Ihnen.
Nun frage ich mich, ob das alles zu seinem Plan gehörte. Ob ich zu seinem Plan gehörte. Die angeknackste Chloe , ein weiteres ahnungsloses Opfer.
«Wir müssen gehen», flüstere ich, falte mit zitternden Händen den Zeitungsausschnitt zusammen und stecke ihn in die Gesäßtasche. «Ich … ich muss gehen.»
Ich haste an Aaron vorbei, die Treppe hinunter und zurück zu Daniels Mutter, die noch im Wohnzimmer auf dem kleinen Sofa sitzt, mit abwesendem Blick. Als sie uns auf sich zukommen sieht, lächelt sie matt.
«Was Nützliches gefunden?»
Ich schüttle den Kopf und sehe aus dem Augenwinkel, dass Aaron mich misstrauisch beobachtet. Dianne nickt sanft, als hätte sie nichts anderes erwartet.
«Hab ich mir gedacht.»
Selbst nach so vielen Jahren ist ihre Enttäuschung unüberhörbar. Ich kann nachfühlen, wie das ist: Man grübelt unentwegt darüber nach, kann es niemals wirklich loslassen. Aber man will es auch nicht zugeben – dass man noch immer die Hoffnung hat, eines Tages die Wahrheit zu erfahren. Eines Tages alles zu verstehen. Und dass es sich am Ende irgendwie gelohnt haben wird, darauf zu warten. Plötzlich fühle ich mich hingezogen zu dieser Frau, die ich kaum kenne. Wir sind verbunden, erkenne ich. Wir sind auf die gleiche Art verbunden wie meine Mutter und ich. Wir lieben denselben Mann, dasselbe Ungeheuer. Ich gehe zur Couch, setze mich an ein Ende und lege meine Hand auf ihre.
«Danke, dass Sie mit uns gesprochen haben», sage ich und drücke sanft ihre Hand. «Das war sicher nicht leicht.»
Sie nickt und blickt auf meine Hand. Langsam legt sie den Kopf schräg, als hätte etwas ihr Interesse erregt. Mit einem Mal packt sie ihrerseits meine Hand.
«Wo haben Sie den her?»
Ich schaue auf meine Hand, und jetzt fällt mir auf, dass mein Verlobungsring, Daniels Familienerbstück, an meinem Ringfinger glänzt. Panik steigt in mir auf. Dianne hebt meine Hand an und betrachtet den Ring aus nächster Nähe.
«Wo haben Sie diesen Ring her?», fragt sie erneut und sieht mir in die Augen. «Das ist Sophies Ring.»
«Wa- was?», stammele ich und versuche, ihr meine Hand zu entziehen, aber sie hält sie fest, lässt nicht los. «Verzeihen Sie, was meinen Sie damit, Sophies Ring ?»
«Das ist der Ring meiner Tochter», sagt sie, lauter jetzt, und mustert den Ring noch einmal: den Diamanten mit dem Ovalschliff und dem Kranz aus kleineren Steinen auf einem Reif aus mattem 14-Karat-Gold, der etwas zu weit ist für meinen dünnen, knochigen Finger. «Dieser Ring ist schon seit Generationen in meiner Familie. Er war mein Verlobungsring, und als Sophie dreizehn wurde, habe ich ihn ihr geschenkt. Sie hat ihn immer getragen. Immer. Sie hat ihn auch an dem Tag getragen, an dem …»
Jetzt sieht sie mich an, die Augen angsterfüllt aufgerissen.
«An dem Tag, an dem sie verschwunden ist.»
Ich stehe auf und entreiße ihr meine Hand.
«Tut mir leid, wir müssen los», sage ich, gehe an Aaron vorbei und stoße die Fliegengittertür auf. «Kommen Sie, Aaron.»
«Wer sind Sie?», brüllt die Frau uns hinterher. Die Erschütterung nagelt sie an der Couch fest. «Wer sind Sie?»
Ich renne aus dem Haus und die Treppe hinunter. Mir ist schwindlig, ich fühle mich wie betrunken. Wie konnte ich nur vergessen, den Ring abzunehmen? Wie konnte ich das nur vergessen? Am Auto angekommen, zerre ich am Türgriff, aber die Tür ist abgeschlossen.
«Aaron?», brülle ich. Meine Stimme klingt erstickt, so, als lägen Hände um meinen Hals und drückten zu. «Aaron, könnten Sie die Tür entriegeln?»
«WER SIND SIE ?», brüllt Dianne. Ich höre sie aufstehen und durchs Haus rennen. Die Fliegengittertür öffnet sich und fällt wieder zu, und ehe ich mich umdrehen kann, höre ich, dass der Wagen entriegelt wird. Hastig reiße ich die Tür auf und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Gleich darauf schwingt Aaron sich hinters Lenkrad und lässt den Motor an.
«WO IST MEINE TOCHTER ?»
Das Auto macht einen Satz vorwärts, dann dreht Aaron und fährt zurück die Straße entlang. Ich sehe in den Rückspiegel, sehe die Staubwolke, die wir aufwirbeln, sehe Daniels Mutter, die uns hinterherrennt, aber mit jeder Sekunde weiter zurückfällt.
«WO IST MEINE TOCHTER ? BITTE !»
Sie rudert mit den Armen, rennt, so schnell sie kann, bis sie plötzlich auf die Knie fällt, den Kopf in den Händen vergräbt und in Tränen ausbricht.
Schweigend fahren wir durch die Stadt zurück zum Motel am Highway. Meine Hände liegen zitternd in meinem Schoß. Immer wieder sehe ich vor mir, wie diese arme Frau uns auf der Straße hinterherrannte, und mir wird übel. Mit einem Mal engt der Ring mich ein, und ich ziehe ihn hektisch vom Finger und werfe ihn in den Fußraum. Ich starre ihn an und stelle mir vor, wie Daniel ihn sanft von der kalten, toten Hand seiner Schwester abzog.
«Chloe», flüstert Aaron, den Blick auf die Straße gerichtet. «Was war das?»
«Tut mir leid. Tut mir leid, Aaron. Es tut mir so leid.»
«Chloe», sagt er noch einmal, lauter diesmal. Wütender. «Scheiße, was war das?»
«Tut mir leid», wiederhole ich mit zittriger Stimme. «Das wusste ich nicht.»
«Wer ist das?» Seine Hände umklammern das Lenkrad. «Wie haben Sie diese Frau gefunden?»
Ich sitze schweigend neben ihm, unfähig, seine Frage zu beantworten. Plötzlich sieht er mich mit offenem Mund an.
«Heißt Ihr Verlobter nicht Daniel?»
Ich antworte nicht.
«Chloe, antworten Sie mir. Heißt Ihr Verlobter nicht Daniel?»
Ich nicke, und die Tränen strömen mir über die Wangen.
«Ja», sage ich. «Ja, Aaron, aber ich wusste das nicht.»
«Was soll der Scheiß?» Aaron schüttelt den Kopf. «Chloe, was soll der Scheiß? Ich habe dieser Frau meinen Namen genannt. Sie weiß, wo ich arbeite. Himmel, ich werde deswegen meinen Job verlieren.»
«Tut mir leid», sage ich noch einmal. «Aaron, bitte, Sie waren es, der mir geholfen hat, es zu erkennen – als wir über den Schmuck sprachen, den mein Vater hatte, und wer davon gewusst haben kann. Daniel. Daniel wusste davon. Daniel wusste alles.»
«Und war das jetzt nur eine Ahnung oder …?»
«Ich habe in unserem Kleiderschrank eine Halskette gefunden. Eine Halskette, die ganz so aussieht wie die, die Aubrey am Tag ihres Verschwindens getragen haben muss.»
«Ich werd’ nicht mehr!»
«Von da an fiel mir dies und jenes auf. Dass er anders roch, wenn er von seinen Dienstreisen nach Hause kam. Nach Parfüm. Nach anderen Frauen. Er behauptete, er sei nicht in der Stadt gewesen, als Aubrey und Lacey entführt wurden, aber er war nicht dort, wo er seinen Angaben nach hätte sein sollen. Er war immer tagelang weg, aber ich hatte keine Ahnung, wo er war. Ich hatte keine Ahnung, was er in dieser Zeit tat – bis ich seine Aktentasche durchsuchte und seine Quittungen fand.»
Endlich sieht Aaron mich an, allerdings so, als wäre ich sein Untergang. Als wäre er an jedem anderen Ort auf der Welt lieber als hier neben mir.
«Was für Quittungen?»
«Ich zeige sie Ihnen im Motel. Aaron, bitte, Sie müssen mir dabei helfen.»
Er zögert und trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad.
«Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt.» Er spricht leiser denn je. «In meinem Beruf ist Vertrauen alles. Aufrichtigkeit ist alles.»
«Ich weiß. Und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen jetzt gleich alles erzähle.»
Wir fahren auf den Parkplatz, trostlos liegt das Motel vor uns. Aaron stellt den Motor ab und sitzt schweigend neben mir.
«Bitte kommen Sie mit rein», sage ich und lege ihm die Hand aufs Bein. Er zuckt zusammen, aber ich merke, dass seine Entschlossenheit ins Wanken gerät. Schweigend löst er den Sicherheitsgurt, öffnet die Tür und steigt aus.
Die Tür zu meinem Zimmer quietscht, als ich sie öffne. Wir treten beide ein, und ich schließe die Tür. Es ist kalt, dunkel. Die Vorhänge sind zugezogen, meine Tasche liegt noch auf dem Bett. Ich gehe zum Nachttisch und schalte die Lampe ein. Aaron steht noch an der Tür, das Neonlicht wirft Schatten auf sein Gesicht.
«Das ist es, was ich gefunden habe», sage ich und öffne meine Reisetasche. Ich greife hinein und streife mit der Hand das Xanax-Fläschchen, das obenauf liegt, doch ich schiebe es beiseite und packe stattdessen einen weißen Briefumschlag. Als ich ihn herausziehe, zittern mir die Hände ebenso wie an dem Tag, als ich Daniels Aktentasche auf dem Esszimmerboden aufklappte und die Papiere in den Mappen und Ringordnern durchsah. In Klarsichthüllen mit mehreren Fächern befanden sich Medikamentenproben, wie Baseballsammelkarten. Ich erkannte die Namen der Medikamente aus meiner eigenen Schreibtischschublade wieder: Alprazolam, Chlordiazepoxid, Diazepam. Bei der letzten Bezeichnung schnürte es mir die Kehle zu, und ich sah vor mir, wie ein einzelnes Haar federgleich zu Boden schwebte. Doch dann zwang ich mich, weiterzublättern, bis ich fand, was ich gesucht hatte.
Quittungen. Ich brauchte Quittungen. Denn ich wusste, dass Daniel alles aufbewahrte, von Hotel- und Restaurantrechnungen bis hin zu Tankquittungen und Rechnungen für Autoreparaturen. Alles konnte als Spesen abgesetzt werden.
Ich öffne den Umschlag, drehe ihn um, und ein Haufen Quittungen flattert aufs Bett. Ich sichte sie und überfliege die Adressen am unteren Rand.
«Es gibt natürlich Quittungen aus Baton Rouge», sage ich. «Restaurants in Jackson, Hotels in Alexandria. Alle diese Quittungen zeichnen ein Bild davon, wo er den Tag verbringt – und die Datumsangaben am unteren Rand sagen uns, wann er wo war.»
Aaron kommt herüber und setzt sich so dicht neben mich, dass sein Bein an meinem liegt. Er nimmt die oberste Quittung und liest sie.
«Angola», sagt er. «Liegt das in seinem Gebiet?»
«Nein.» Ich schüttle den Kopf. «Aber er fährt dorthin – oft. Und das ist auch die Quittung, die meine Aufmerksamkeit erregt hat.»
«Warum?»
Ich nehme sie ihm ab und halte sie zwischen Daumen und Zeigefinger von mir weg, als wäre sie giftig. Als könnte sie beißen.
«In Angola liegt das größte Hochsicherheitsgefängnis in Amerika», sage ich. «Das Louisiana State Penitentiary.»
Aaron hebt den Kopf und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
«Wo mein Vater zu Hause ist.»
«Ach du Scheiße.»
«Vielleicht kennen sie sich», fahre ich fort und sehe wieder auf die Quittung. Eine Flasche Wasser, Benzin für zwanzig Dollar. Ein Tütchen Sonnenblumenkerne. Ich weiß noch, dass mein Vater sich früher das gesamte Tütchen in den Mund schüttete und es knirschte, als ob er auf einer Handvoll Fingernägel herumkaute. Und die Schalen tauchten überall im Haus auf, klebten an allem. Klemmten in den Ritzen des Küchentischs, gerieten mir unter die Schuhe. Klumpten am Boden eines Wasserglases zusammen, ertranken in Speichel.
Ich denke an meine Mutter, die mit ihrem Fingerklopfen Daniel buchstabieren wollte.
«Das muss der Grund sein, warum er das tut», sage ich. «Warum er mich gefunden hat. Sie stehen in Verbindung.»
«Chloe, Sie müssen zur Polizei gehen.»
«Die Polizei wird mir nicht glauben, Aaron. Ich habe es schon versucht.»
«Wie meinen Sie das, Sie haben es schon versucht?»
«Ich habe eine Vorgeschichte. Eine Vergangenheit, die gegen mich spricht. Sie halten mich für verrückt –»
«Sie sind nicht verrückt», unterbricht er mich.
Es macht mich beinahe fassungslos, dass er das sagt, so als spräche er plötzlich Französisch. Denn zum ersten Mal seit Wochen glaubt mir jemand. Jemand ist auf meiner Seite. Und es fühlt sich so gut an, wenn einem geglaubt wird, wenn man mit aufrichtigem Interesse angesehen wird anstatt voller Misstrauen, Sorge oder Wut. Ich denke an all die kleinen Momente mit Aaron, die ich zu verdrängen versucht habe, von denen ich mir eingeredet habe, dass sie nichts zu bedeuten haben. Momente wie den, als wir zusammen an der Brücke saßen und über Erinnerungen sprachen. Und mir fällt ein, dass ich ihn an jenem Abend, als ich betrunken und einsam auf meiner Couch saß, anrufen wollte. Ich merke, dass er weitersprechen möchte, also beuge ich mich vor und gebe ihm einen Kuss, bevor er noch etwas sagen kann. Bevor dieses Gefühl vergeht.
«Chloe.» Unsere Gesichter sind einander ganz nahe, Stirn an Stirn. Er sieht mich an, als wollte er sich von mir lösen, als sollte er sich von mir lösen, aber stattdessen wandert seine Hand zu meinem Bein, dann meinen Arm hinauf und in mein Haar. Gleich darauf erwidert er meinen Kuss, die Lippen fest auf meinen Mund gepresst, und seine Finger berühren mich überall. Ich schiebe die Hände in sein Haar, dann öffne ich die Knöpfe an seinem Hemd, seiner Hose. Ich bin wieder auf dem College, werfe mich einem anderen schlagenden Herzen entgegen, damit mein eigenes sich nicht mehr so allein fühlt. Er drückt mich sanft aufs Bett, presst sich an mich, und seine kräftigen Arme heben meine Hände über den Kopf und halten meine Handgelenke dort fest. Seine Lippen wandern an meinem Hals entlang, über meine Brust, und während ich spüre, wie Aaron sich in mir bewegt, gebe ich mich für einige Minuten dem Vergessen hin.
Hinterher ist es dunkel draußen, und das einzige Licht ist das meiner Nachttischlampe. Aaron liegt neben mir und spielt mit meinem Haar. Wir haben kein Wort gesprochen.
«Ich glaube dir», sagt er schließlich. «Das mit Daniel. Das weißt du, oder?»
«Ja.» Ich nicke. «Ja, das weiß ich.»
«Dann gehst du also morgen zur Polizei?»
«Aaron, sie würden mir nicht glauben. Das habe ich dir doch gesagt. Ich überlege –» Ich zögere und drehe mich zu ihm um. Er starrt an die Decke, nur eine Silhouette in der Dunkelheit. «Ich überlege, ob ich ihn vielleicht besuchen muss. Meinen Vater.»
Er setzt sich auf und lehnt den nackten Rücken ans Kopfteil. Dann sieht er mich an.
«Allmählich glaube ich, dass er vielleicht der Einzige ist, der Antworten hat», fahre ich fort. «Vielleicht ist er der Einzige, der mir helfen kann, zu verstehen –»
«Das ist gefährlich, Chloe.»
«Wieso gefährlich? Er sitzt im Gefängnis, Aaron. Er kann mir nichts tun.»
«Doch, das kann er. Er kann dich trotzdem verletzen. Vielleicht nicht körperlich, aber –» Er bricht ab und reibt sich übers Gesicht. «Schlaf drüber», sagt er dann. «Versprich mir, das du drüber schläfst, ja? Wir können das morgen entscheiden. Und falls du möchtest, dass ich mitkomme, dann mache ich das. Dann reden wir zusammen mit ihm.»
«Okay», sage ich nach einer Weile. «Okay, das mache ich.»
«Gut.»
Er schwingt die Beine aus dem Bett und nimmt seine Jeans vom Boden. Ich beobachte, wie er sie anzieht, ins Bad geht und das Licht einschaltet. Dann schließe ich die Augen. Gleich darauf quietscht der Wasserhahn, und Wasser rauscht. Als ich die Augen wieder aufschlage, kommt er gerade zurück ins Schlafzimmer, ein Glas Wasser in der Hand.
«Ich muss eine Weile weg», sagt er und reicht mir das Glas. Ich nehme es und trinke einen Schluck. «Mein Redakteur hat den ganzen Tag nichts von mir gehört. Kommst du zurecht?»
«Ja», erwidere ich und lege den Kopf wieder auf mein Kissen. Dann sehe ich, dass Aaron nach unten blickt. Er bückt sich und nimmt das Xanax-Fläschchen aus meiner Reisetasche.
«Möchtest du eine von denen? Um besser einschlafen zu können?»
Ich starre das Fläschchen mit den Tabletten darin an. Aaron schüttelt es sanft, hebt die Augenbrauen, und ich nicke und strecke die Hand aus.
«Verurteilst du mich, wenn ich zwei nehme?»
«Nein.» Er lächelt, öffnet das Fläschchen und lässt zwei in meine Hand fallen. «Du hattest einen höllischen Tag.»
Ich betrachte die Tabletten in meiner Hand. Dann werfe ich sie ein, spüle mit ein wenig Wasser hinterher und spüre, wie sie immer wieder in meiner Speiseröhre hängen bleiben, als wehrten sie sich mit allen Kräften.
«Ich kann nicht anders, ich fühle mich verantwortlich», sage ich und lehne den Kopf ans Kopfteil. Ich denke an Lena. An Aubrey. An Lacey. An all diese Mädchen, deren Tod auf meinem Gewissen lastet. An alle Mädchen, die ich unabsichtlich in die Hände eines Ungeheuers gelockt habe – zuerst in die meines Vaters. Und jetzt in Daniels.
«Du bist dafür nicht verantwortlich», sagt Aaron und setzt sich auf die Bettkante. Er streicht mir durchs Haar. Das Zimmer beginnt, sich sanft zu drehen, und meine Lider fallen zu. Als ich die Augen schließe, zuckt ein Bild aus meinem Traum durch meinen Kopf: Ich selbst, unter dem Fenster meines Kinderzimmers, eine blutige Schaufel in Händen.
«Es ist meine Schuld», nuschle ich. Ich spüre die Wärme von Aarons Hand auf meiner Stirn. «Alles meine Schuld.»
«Schlaf ein bisschen», höre ich ihn sagen, beinahe wie ein Echo. Er küsst mich auf die Stirn, und seine Lippen haften kurz an meiner Haut. «Ich mach die Tür hinter mir zu.»
Ich nicke, dann drifte ich weg.