Kapitel Neununddreißig

Als ich erwache, vibriert mein Telefon auf dem Nachttisch und wandert dabei übers Holz, bis es über den Rand rutscht und zu Boden fällt. Benommen öffne ich die Augen und sehe auf den Wecker.

Es ist zehn Uhr abends.

Ich versuche, die Augen weiter zu öffnen, aber ich sehe alles unscharf, und in meinem Kopf pocht es. Der Besuch in Daniels Elternhaus fällt mir wieder ein – seine Mutter in dieser alten Bruchbude, der Zeitungsausschnitt im Buch. Plötzlich wird mir übel. Hastig stehe ich auf und laufe ins Bad, klappe den Toilettensitz hoch und würge, doch es kommt nur gelbe, saure Galle hoch, die mir die Zunge verätzt. Hinten im Rachen hängt ein dünner Speichelfaden, und ich muss erneut würgen. Mit dem Handrücken wische ich mir den Mund ab, gehe zurück ins Schlafzimmer und hocke mich auf die Bettkante. Ich greife nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch, aber es ist umgefallen. Wasser tropft über den Rand auf den Teppich. Mein Telefon muss es umgestoßen haben. Ich bücke mich, hebe es auf und drücke auf den Knopf an der Seite, um das Display aufleuchten zu lassen.

Da sind ein paar entgangene Anrufe von Aaron und ein paar Textnachrichten, in denen er fragt, wie es mir geht. Sofort spüre ich wieder seinen Körper auf mir. Seine Hände an meinen Handgelenken, seine Lippen an meinem Hals. Es war ein Fehler, was wir da getan haben, aber damit muss ich mich später auseinandersetzen. Ich scrolle durch die übrigen entgangenen Anrufe und Textnachrichten – die hauptsächlich von Shannon sind, dazwischen ein paar von Daniel. Wie kann ich so viele entgangene Anrufe haben? Es ist erst zehn Uhr – ich habe vier Stunden geschlafen, höchstens. Dann fällt mir das Datum im Display auf.

Es ist zehn Uhr abends am Freitag.

Ich habe einen ganzen Tag geschlafen.

Hastig entsperre ich mein Telefon, überfliege die Textnachrichten und erschrecke immer mehr.

Chloe, ruf mich bitte an. Es ist wichtig.

Chloe, wo bist du?

Chloe, ruf mich an. SOFORT .

Mist, denke ich und reibe mir die Schläfen, in denen es immer noch pocht, ein stummer Protestschrei meines Körpers. Zwei Xanax auf leeren Magen zu nehmen, war eindeutig ein Fehler, aber das wusste ich vorher. Ich wollte einfach nur schlafen. Vergessen. Schließlich habe ich eine Woche lang kaum geschlafen mit Daniel neben mir. Das rächt sich jetzt offensichtlich.

Ich scrolle in meinen Kontakten bis zu Shannon und drücke auf Anrufen , dann halte ich mir das Telefon ans Ohr. Offenbar haben sie meine Lüge entlarvt. Daniel hat ihr wohl doch eine Nachricht geschrieben, obwohl ich ihn gebeten hatte, es nicht zu tun. Als sie dann erkannten, dass ich sie beide angelogen hatte, dass ich verschwunden war, ohne jemandem zu sagen, wohin oder mit wem, müssen sie in Panik geraten sein. Aber das ist mir im Moment eigentlich egal. Ich fahre nicht nach Hause zu Daniel. Und ich bin auch noch nicht davon überzeugt, dass ich zur Polizei gehen kann – Detective Thomas hat deutlich gesagt, dass ich mich aus den Ermittlungen herauszuhalten habe. Doch mit dem, was ich jetzt habe, dem Zeitungsausschnitt und dem Verlobungsring, den Quittungen aus Angola und meiner Unterhaltung mit Daniels Mutter, kann ich sie vielleicht doch dazu bringen, mir Beachtung zu schenken. Mir zuzuhören.

Dann fällt es mir wieder ein: der Verlobungsring! Ich habe ihn mir in Aarons Wagen vom Finger gezogen und zu Boden geworfen. Und ich glaube nicht, dass ich ihn wieder aufgehoben habe. Ich betrachte meine ringlose Hand, dann drehe ich mich um und taste das zerwühlte Bett ab. Unter der Bettdecke spüre ich etwas Hartes und schlage sie zurück – aber es ist nicht der Ring. Es ist Aarons Presseausweis. Blitzartig sehe ich vor mir, wie ich sein Hemd aufknöpfte und es ihm von den Schultern zog. Ich nehme das Schildchen, betrachte es aus nächster Nähe und gestatte mir eine Minute lang, mich zu fragen, ob die vergangene Nacht vielleicht doch kein Fehler war. Ob es uns vielleicht bestimmt war, durch diese eigenartige Wendung des Schicksals zueinanderzufinden.

Endlich meldet sich Shannon, und ich höre sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie schnieft.

«Chloe, wo bist du, verdammt noch mal?»

Ihre Stimme klingt so heiser, als hätte sie mit Nägeln gegurgelt.

«Shannon», sage ich und setze mich aufrechter hin. Aarons Schildchen stecke ich ein. «Alles in Ordnung?»

«Nein, ist es nicht», fährt sie mich an, doch dann schluchzt sie leise. «Wo bist du?»

«Ich bin … in der Stadt. Ich musste einfach mal den Kopf frei bekommen. Was ist los?»

Ein weiteres Schluchzen tönt mir ins Ohr, so laut diesmal, dass es sich wie eine Ohrfeige anfühlt. Ich zucke zusammen, entferne das Telefon von meinem Ohr und lausche so dem Heulen am anderen Ende der Leitung, während Shannon versucht, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

«Es ist … Riley», sagt sie, und sofort wird mir wieder übel. Ich weiß im Voraus, was sie sagen wird. «Sie ist … sie ist weg. »

«Wie meinst du das, sie ist weg?», frage ich, obwohl ich weiß, was sie meint. Mein Bauchgefühl sagt es mir. Ich sehe Riley bei unserer Verlobungsparty vor mir, wie sie in unserem Wohnzimmer herumlümmelte, die mageren Beine übereinandergeschlagen. Die Füße in Sneakers, mit einem Fuß trat sie gegen das Stuhlbein. In einer Hand das Telefon, die andere spielte mit einer Haarsträhne.

Ich denke an Daniel und wie er sie ansah. Was er zu Shannon sagte, Worte, die ich damals für beruhigend hielt, die jetzt jedoch eine deutlich ominösere Bedeutung bekommen.

Eines Tages sind das nur noch ferne Erinnerungen.

«Ich meine, sie ist weg. » Shannon atmet dreimal hechelnd ein. «Als wir heute Morgen wach wurden, war sie nicht in ihrem Zimmer. Sie hat sich wieder davongeschlichen, durchs Fenster, aber sie ist nicht nach Hause gekommen. Sie ist schon einen ganzen Tag weg.»

«Hast du Daniel angerufen?», frage ich und hoffe, dass meine angespannte Stimme mich nicht verrät. «Ich meine, als du mich nicht erreichen konntest.»

«Ja.» Jetzt klingt auch ihre Stimme angespannt. «Er war der Meinung, wir wären zusammen. Bei deinem Junggesellinnenabschied.»

Ich schließe die Augen und senke den Kopf.

«Bei euch beiden stimmt offensichtlich was nicht. Du hast uns angelogen. Aber weißt du, was, Chloe? Dafür habe ich keine Zeit. Ich will nur wissen, wo meine Tochter ist.»

Ich schweige, denn ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ihre Tochter ist in Schwierigkeiten, Riley ist in Schwierigkeiten, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, warum. Aber wie bringe ich ihr das bei? Wie sage ich ihr, dass wahrscheinlich Daniel sie hat? Dass er wahrscheinlich auf sie gewartet hat, als sie ihr Laken aus dem Fenster warf und im Dunkeln hinunterkletterte. Dass er wusste, sie würde dort sein, weil Shannon ihm auf unserer Party selbst davon erzählt hatte. Dass er die letzte Nacht wählte, weil ich fort war, sodass er tun und lassen konnte, was er wollte.

Wie sage ich ihr, dass ihre Tochter meinetwegen wahrscheinlich nicht mehr am Leben ist?

«Ich komme zu dir», sage ich. «Ich komme jetzt gleich zu dir und erkläre dir alles.»

«Ich bin nicht zu Hause. Ich sitze im Auto und fahre durch die Gegend. Suche nach meiner Tochter. Aber wir könnten deine Hilfe brauchen.»

«Natürlich», sage ich. «Sag mir einfach, wohin ich kommen soll.»

Ich bekomme den Auftrag, sämtliche Seitenstraßen in einem Zehnmeilenradius um ihr Haus abzufahren, und wir beenden das Gespräch. Dann stehe ich auf und betrachte die Reisetasche zu meinen Füßen und Daniels Quittungen auf dem weißen Umschlag. Ich packe alles wieder ein, ziehe den Reißverschluss zu und hänge mir die Tasche über die Schulter. Schließlich sehe ich noch einmal auf mein Telefon und lese Daniels Nachrichten.

Chloe, kannst du mich bitte anrufen?

Chloe, wo bist du?

Außerdem habe ich eine Voicemail-Nachricht von ihm und erwäge kurz, sie zu löschen. Ich kann mir seine Stimme jetzt nicht anhören. Ich kann mir seine Ausreden nicht anhören. Aber was, wenn er Riley hat? Was, wenn ich sie noch retten kann? Ich höre die Nachricht ab. Seine Stimme sickert ölig in mein Ohr und füllt sämtliche Ecken und Lücken in meinem Kopf. Überzieht alles.

Hi, Chloe. Hör mal … Ich weiß nicht recht, was im Moment mit dir los ist. Du bist nicht bei deinem Junggesellinnenabschied. Ich habe gerade mit Shannon gesprochen. Ich weiß nicht, wo du bist, aber ganz offensichtlich stimmt etwas nicht.

Dann ist es sehr lange still. Ich sehe aufs Display, um mich zu vergewissern, ob die Nachricht schon zu Ende ist, aber die Zeit läuft noch. Schließlich spricht er weiter.

Wenn du nach Hause kommst, werde ich fort sein. Weiß der Himmel, wo du jetzt bist. Morgen früh bin ich weg. Es ist dein Haus. Was es auch ist, worüber du dir klar werden musst, du solltest nicht das Gefühl haben, dass du es hier nicht tun kannst.

Mir wird eng in der Brust. Er geht fort. Er flieht.

«Ich liebe dich», sagt er noch. Es klingt eher wie ein Seufzen. «Mehr als du weißt.»

Hier endet die Nachricht abrupt. Ich stehe mitten im Motelzimmer und habe noch Daniels Stimme im Ohr. Morgen früh bin ich weg. Ich sehe auf den Wecker. Jetzt ist es halb elf. Vielleicht ist er noch da. Vielleicht ist er noch zu Hause. Vielleicht kann ich dort sein, bevor er fährt, herausfinden, wohin er flieht, und die Polizei benachrichtigen.

Rasch gehe ich zur Tür und hinaus auf den Parkplatz. Die Sonne ist längst hinter den Bäumen versunken, das Licht der Straßenlaternen verwandelt ihre Äste in knorrige Schatten. Kurz bleibe ich stehen, die Nacht erfüllt mich mit Unbehagen. Was lauert im Schutz der Dunkelheit? Doch dann denke ich an Riley. An Aubrey und Lacey. Ich denke an Lena. Ich denke an die Mädchen, an all die vermissten Mädchen da draußen, und ich zwinge mich, weiterzugehen in Richtung Wahrheit.