Ich setze den Blinker und nehme die nächste Ausfahrt. Breaux Bridge. Ein Ort, den ich nicht mehr besucht habe, seit ich vor über zehn Jahren aufs College ging; ein Ort, von dem ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen.
Ich fahre durch die Stadt, vorbei an den Reihen alter Backsteingebäude mit ihren moosgrünen Markisen. In meinem Kopf scheint dieser Ort durch eine präzise Trennlinie sauber zweigeteilt: in vorher und nachher. Auf der einen Seite dieser Grenze sind die Erinnerungen hell und schön. Eine Kleinstadtkindheit voller Wassereis von der Tankstelle, mit Rollschuhen aus dem Secondhandladen; mit einer Bäckerei, in die ich nach der Schule jeden Nachmittag um drei ging, um mir eine kostenlose Scheibe noch ofenwarmes Sauerteigbrot zu holen. Geschmolzene Butter lief mir übers Kinn, wenn ich nach Hause ging, über die Spalten im Gehweg hüpfte und am Wegrand blühendes Unkraut pflückte, das ich meiner Mutter dann in einem mattierten Trinkglas brachte.
Auf der anderen Seite türmen sich übergroße Schatten.
Ich fahre am Festplatz vorbei, auf dem jedes Jahr das Krebsfest stattfindet, blicke auf ebendie Stelle, an der ich mit Lena stand, die Stirn an ihren warmen Bauch gedrückt, und ihre verschwitzte Haut spürte, während zwischen ihren gewölbten Händen ein Schmuckglühwürmchen leuchtete. Kurz sehe ich dorthin, wo mein Vater stand und zu uns hinüberstarrte. Zu ihr. Ich fahre an meiner alten Schule vorbei, an dem Müllcontainer, gegen den ein älterer Junge meinen Kopf schlug und mir drohte, er werde mir das Gleiche antun wie mein Vater seiner Schwester.
Daniel ist genau diese Strecke wochenlang immer wieder gefahren, wird mir klar, wenn er in die Nacht verschwand, bevor er müde, verschwitzt und sehr lebendig nach Hause kam. Ich nähere mich meiner Abzweigung und halte kurz vorher am Straßenrand. Dann betrachte ich den Weg, den ich früher immer entlangrannte und dabei so viel Staub aufwirbelte, dass man es von der Straße aus sah, bis ich mich zwischen den Bäumen verlor, die Treppe zur Veranda hinaufrannte und meinem Vater in die ausgestreckten Arme fiel. Es ist das ideale Versteck für ein entführtes Mädchen: ein verlassenes altes Haus auf einem vier Hektar großen verwilderten Grundstück. Ein Haus, das niemand aufsucht, niemand anrührt. Ein Haus, in dem es angeblich spukt, weil Dick Davis irgendwo dort seine sechs Opfer vergrub, bevor er in mein Kinderzimmer kam und mir einen Gutenachtkuss gab.
Ich denke an die Unterhaltung mit Daniel, bei der wir beide auf meiner Wohnzimmercouch lagen. Die Unterhaltung, bei der ich ihm zum ersten Mal alles erzählte – während er ach so aufmerksam zuhörte. Lena und ihr Bauchnabelpiercing, ein einzelnes Glühwürmchen, das im Dunkeln leuchtete. Mein Vater, ein Schatten zwischen den Bäumen. Das Kästchen im Schrank, das seine Geheimnisse enthielt.
Und unser Haus. Ich erzählte ihm auch von unserem Haus. Dem Epizentrum von allem.
Als mein Vater ins Gefängnis kam und meine Mutter nicht mehr in der Lage war, sich um den Besitz zu kümmern, landete die Verantwortung bei uns – bei Cooper und mir. Aber ebenso, wie wir unsere Mutter in Riverside zurückließen, gaben wir auch dieses Haus auf. Wir wollten uns nicht damit befassen, wollten uns nicht den Erinnerungen stellen, die noch darin lebten. Also ließen wir es einfach zurück, ließen es jahrzehntelang leer stehen, ließen alles, wie es war. Mittlerweile ist das alles wahrscheinlich von einer dicken Staubschicht bedeckt. Die Holzstange im Schrank meiner Mutter, die unter ihrem Gewicht durchbrach, die Asche aus der Pfeife meines Vaters auf dem Wohnzimmerteppich. All das – ein Schnappschuss meiner Vergangenheit, eingefroren in der Zeit; die Staubkörnchen hängen in der Luft, als hätte jemand einfach auf Pause gedrückt, dann kehrtgemacht, die Tür geschlossen und wäre davongegangen.
Und Daniel wusste davon. Daniel wusste, wo es ist. Er wusste, dass es leer steht – bereit für ihn.
Meine Hände umklammern das Lenkrad, das Herz klopft mir bis zum Hals. Eine Weile sitze ich still da und überlege, was ich tun soll. Soll ich Detective Thomas anrufen und ihn bitten, sich hier mit mir zu treffen? Aber was würde er tun? Welche Beweise habe ich? Dann sehe ich wieder meinen Vater vor mir, wie er nachts mit einer Schaufel über der Schulter durch diesen Wald ging. Und mich selbst, wie ich ihn im Alter von zwölf Jahren durch das geöffnete Fenster beobachtete.
Wie ich ihn beobachtete, abwartete, aber nichts unternahm.
Riley könnte dort sein. Sie könnte in Schwierigkeiten sein. Mit zitternden Händen nehme ich meine Handtasche, öffne sie und betrachte die Pistole darin – die Pistole, die ich aus dem Schrank geholt habe, bevor ich mich zum Motel aufmachte, die Pistole, die ich in der Nacht, in der die Alarmanlage losging, gesucht hatte. Ich atme tief durch, steige geräuschlos aus und schließe leise die Autotür.
Es ist warm und feucht und riecht wie ein Rülpser nach dem Verzehr eines gekochten Eis – die Schwefeldünste aus dem Sumpf hängen schwer in der schwülen Sommerluft. Ich schleiche zur Auffahrt, bleibe dort eine Weile stehen und blicke zum Haus. Der Wald beiderseits der Straße ist stockfinster, aber ich zwinge mich, einen Schritt vorzugehen. Dann noch einen. Und noch einen. Gleich darauf gehe ich zügig auf das Haus zu. Ich hatte ganz vergessen, wie undurchdringlich die Finsternis hier draußen ist, ohne Straßenlaternen oder erleuchtete Fenster in Nachbarhäusern – aber mit diesem perfekten Kontrast, weil der Mond immer so hell scheint. Ich sehe hoch zum Vollmond am wolkenlosen Himmel über mir. Er beleuchtet das Haus wie ein Scheinwerfer. Jetzt kann ich es gut erkennen – den abblätternden weißen Anstrich, die sich nach Jahren der Hitze und Feuchtigkeit ablösende Holzverkleidung, das hohe Gras unter meinen Füßen. Ranken schlängeln sich an der Hausseite hinauf wie Adern und verleihen ihm etwas Unirdisches, lassen es mit teuflischem Leben pulsieren. Ich schleiche die Treppe hinauf und weiche dabei Stellen aus, die früher manchmal knarrten. Mir fällt auf, dass die Jalousien nicht herabgelassen sind – und in diesem hellen Mondlicht könnte Daniel mich sehen, falls er dort drin ist. Also mache ich kehrt und gehe ums Haus herum. Ich mustere den Plunder, mit dem der Garten vollgestellt ist, wie er es immer war – an der Rückseite des Hauses stapelt sich verrottendes Sperrholz, daneben stehen eine Schaufel und eine Schubkarre mit weiteren Gartenwerkzeugen. Kurz sehe ich meine Mutter vor mir, die mit Erde an der Haut und einem Schmutzstreifen auf der Stirn auf allen vieren im Garten arbeitet. Als ich durch die Fenster ins Haus sehen will, stelle ich fest, dass hier hinten alle Jalousien heruntergelassen sind, und im Dunkeln kann man durch die Ritzen nichts erkennen. Ich drehe versuchsweise am Türknauf, rüttle ein wenig daran, aber die Tür lässt sich nicht öffnen. Sie ist abgeschlossen.
Ich atme aus und stemme die Hände in die Hüften.
Dann habe ich eine Idee.
Ich betrachte die Tür und rufe mir den Tag mit Lena in Erinnerung, an dem sie mit meiner Bibliothekskarte ins Zimmer meines Bruders einbrach.
Zuerst suchst du die Türangeln. Wenn du sie nicht sehen kannst, ist es die richtige Art von Schloss.
Ich greife in die Gesäßtasche und ziehe Aarons Presseausweis heraus, den ich im Motel unter der Bettdecke gefunden und an mich genommen hatte. Ich biege ihn probeweise – er ist ausreichend stabil – und stecke ihn schräg in den Türspalt, genauso wie Lena es mir damals gezeigt hat.
Wenn die Kante drin ist, halt sie wieder gerade.
Ich rüttle vorsichtig an der Karte, übe sanften Druck aus, schiebe sie vor und zurück, vor und zurück. Schiebe sie tiefer hinein und drehe mit der anderen Hand den Türknauf – bis ich es klicken höre.