Kapitel Dreiundvierzig

Ich sitze im Vernehmungsraum der Polizeiwache von Breaux Bridge. Im Licht der billigen Glühbirnen an der Decke leuchtet meine Haut grünlich wie radioaktive Algen. Die Wolldecke, die man mir um die Schultern gelegt hat, ist so kratzig wie ein Klettverschluss, aber mir ist zu kalt, um sie abzunehmen.

«Also gut, Chloe. Erzählen Sie uns doch noch einmal der Reihe nach, was passiert ist.»

Ich hebe den Kopf und sehe Detective Thomas an. Er sitzt auf der anderen Seite des Tischs neben Officer Doyle und einer Polizistin aus Breaux Bridge, deren Namen ich bereits wieder vergessen habe.

«Ich habe es ihr schon erzählt», sage ich und sehe die namenlose Polizistin an. «Sie hat es mitgeschnitten.»

«Nur noch einmal, für mich», sagt er. «Und dann können wir Sie nach Hause bringen.»

Ich atme aus und greife nach dem Pappbecher mit Kaffee, der vor mir auf dem Tisch steht. Es ist mein dritter Kaffee in dieser Nacht, und als ich ihn zum Mund führe, bemerke ich winzige getrocknete Blutspritzer auf meiner Haut. Ich stelle den Becher ab, zupfe mit dem Fingernagel an einem Spritzer, und er blättert ab wie Farbe.

«Ich habe den Mann, den ich als Aaron Jansen kannte, vor ein paar Wochen kennengelernt», erzähle ich. «Er sagte, er schreibe einen Artikel über meinen Vater. Er sei Reporter bei der New York Times. Später behauptete er, wegen des Verschwindens von Aubrey Gravino und Lacey Deckler habe sich das Thema seines Artikels verändert. Er glaubte, es sei das Werk eines Nachahmungstäters, und er wollte meine Hilfe, um die Sache aufzuklären.»

Detective Thomas nickt und bedeutet mir, fortzufahren.

«Im Lauf unserer Unterhaltungen glaubte ich ihm allmählich. Da waren so viele Ähnlichkeiten: die Opfer, der fehlende Schmuck. Der bevorstehende Jahrestag. Anfangs dachte ich, es könnte Bert Rhodes gewesen sein – das habe ich Ihnen ja gesagt –, aber am selben Tag fand ich abends etwas in meinem Schrank. Eine Halskette, die zu Aubreys Ohrringen passte.»

«Und warum sind Sie mit diesem Beweis nicht gleich zu uns gekommen?»

«Das wollte ich ja. Aber am nächsten Morgen war sie weg. Mein Verlobter hatte sie an sich genommen – ich habe in meinem Telefon ein Video, auf dem er sie in der Hand hält –, und da glaubte ich allmählich, dass er etwas damit zu tun haben könnte. Aber selbst wenn ich die Kette gehabt hätte – bei unserem letzten Gespräch haben Sie keinen Zweifel daran gelassen, dass Sie mir kein Wort glauben. Im Grunde haben Sie mir gesagt, ich solle mich zum Teufel scheren.»

Er starrt mich an und rutscht verlegen zur Seite. Ich starre zurück.

«Jedenfalls, da ist noch mehr. Er besucht meinen Vater im Gefängnis. In seiner Aktentasche habe ich Diazepam gefunden. Seine eigene Schwester verschwand vor zwanzig Jahren, und als ich seine Mutter besuchte, hat sie mir gesagt, dass sie tatsächlich glaubt, er hätte etwas damit zu tun –»

«Okay», unterbricht mich der Detective und hebt die Hand. «Eins nach dem anderen. Was hat Sie heute Nacht nach Breaux Bridge geführt? Woher wussten Sie, dass Riley Tack hier sein würde?»

Der Anblick der gespenstisch bleichen Riley hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Ich sehe vor mir, wie der Rettungswagen die Zufahrt heraufgerast kommt – ich sehe mich im Garten vor dem Haus stehen, das Telefon, das ich aus dem Auto geholt hatte, in der Hand, während ich wartete, steif und ohne etwas zu sehen. Unfähig, zurück ins Haus zu gehen, unfähig, mich der Leiche am Boden zu stellen. Dann die Sanitäter, die Riley mit diversen Infusionen auf einer Trage ins Heck des Rettungswagens schoben.

«Daniel hatte mir eine Voicemail hinterlassen, auf der er sagte, er wolle fortgehen. Ich habe überlegt, wohin er fahren könnte, wohin er die Mädchen gebracht haben könnte. Ich hatte einfach das Gefühl, dass er sie hierherbringt. Ich weiß auch nicht.»

«Okay.» Detective Thomas nickt. «Und wo ist Daniel jetzt?»

Ich sehe ihn an. Meine Augen brennen vom grellen Licht, vom bitteren Kaffee, vom Schlafmangel. Von allem.

«Ich weiß es nicht», antworte ich. «Er ist fort.»

Es ist still im Raum bis auf das Brummen der Lampen an der Decke, das wie eine Fliege in einer Blechdose klingt. Aaron hat diese Mädchen getötet. Er hat auch versucht, Riley zu töten. Endlich habe ich meine Antworten – aber da ist noch so vieles, was ich nicht verstehe. So vieles, was keinen Sinn ergibt.

«Ich weiß, Sie glauben mir nicht», sage ich und hebe den Blick wieder. «Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich hatte keine Ahnung –»

«Ich glaube Ihnen, Chloe», unterbricht mich Detective Thomas. «Wirklich.»

Ich nicke und versuche, mir die grenzenlose Erleichterung, die mich überkommt, nicht anmerken zu lassen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, das jedenfalls nicht. Ich habe mit Widerspruch gerechnet, damit, dass er einen Beweis verlangt, den ich nicht vorlegen kann. Und da begreife ich: Er muss etwas wissen, was ich nicht weiß.

«Sie wissen, wer er ist», sage ich, als es mir allmählich dämmert. «Aaron meine ich. Sie wissen, wer er in Wirklichkeit ist.»

Detective Thomas sieht mich mit unergründlicher Miene an.

«Sie müssen es mir sagen. Ich verdiene es, das zu wissen.»

«Er hieß Tyler Price», sagt er schließlich. Er bückt sich nach seiner Aktentasche, legt sie auf den Tisch, öffnet sie und zieht ein Foto heraus, das er zwischen uns legt. Ich betrachte Aarons – nein, Tylers Gesicht. Er sieht aus wie ein Tyler, ganz anders ohne die Brille, die seine Augen größer wirken lässt, ohne das gut sitzende Hemd, das kurze Haar. Er hat eines dieser Durchschnittsgesichter, die jeder wiederzuerkennen meint – farblos und ohne besondere Kennzeichen –, doch es besteht eine vage Ähnlichkeit zu dem Foto des echten Aaron Jansen, das ich online gefunden hatte. Er könnte vielleicht als Cousin zweiten Grades durchgehen. Als älterer Bruder. Der Typ, der für Highschool-Schüler Alkohol kauft und dann auf der Party auftaucht, sich in eine Ecke verzieht, schweigend sein Bier trinkt und alles beobachtet.

Ich schlucke und fixiere das Foto auf dem Tisch. Tyler Price. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich darauf hereingefallen bin, weil ich so schnell das sah, was ich sehen sollte – doch zugleich sah ich vielleicht auch das, was ich sehen wollte. Schließlich brauchte ich einen Verbündeten. Jemanden, der auf meiner Seite war. Aber für ihn war das nur ein Spiel. Alles: ein Spiel. Und Aaron Jansen war nur eine Rolle.

«Wir konnten ihn fast auf Anhieb identifizieren», erklärt Detective Thomas. «Er stammt aus Breaux Bridge.»

Ich reiße den Kopf in die Höhe und die Augen auf.

«Was?»

«Er war hier schon aktenkundig, wegen kleinerer Sachen vor längerer Zeit. Besitz von Marihuana, Hausfriedensbruch. Hat die Schule kurz vor der neunten Klasse abgebrochen.»

Noch einmal betrachte ich das Foto und versuche, eine Erinnerung heraufzubeschwören. Irgendeine Erinnerung an Tyler Price. Breaux Bridge ist schließlich eine Kleinstadt – andererseits hatte ich nie viele Freunde.

«Was wissen Sie sonst noch über ihn?»

«Er wurde auf dem Cypress Cemetery gesehen.» Detective Thomas zieht ein weiteres Foto aus seiner Aktentasche. Dieses zeigt den Suchtrupp – und in der Ferne Tyler, ohne Brille, eine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. «Mörder sind dafür bekannt, dass es sie an ihre Tatorte zurückzieht, besonders Wiederholungstäter. Bei Ihnen ist Tyler offenbar einen Schritt weitergegangen. Er ist nicht nur an die Tatorte zurückgekehrt, sondern hat sich in die Ermittlungen eingemischt. Aus der Ferne natürlich. Das hat es schon gegeben.»

Tyler war dort gewesen, er war überall gewesen. Ich denke zurück an den Friedhof, an den Blick, den ich im Rücken spürte. Die ganze Zeit. Er hat mich beobachtet, als ich zwischen den Grabsteinen hindurchlief, als ich in die Hocke ging. Ich stelle mir vor, wie er Aubreys Ohrring in der Hand hielt – mit Handschuh –, wie er in die Hocke ging, um seinen Schuh neu zu binden, und den Ohrring dann dort liegen ließ, damit ich ihn finde. Das Foto von mir, das er mir auf seinem Telefon gezeigt hat. Das hat er nicht online gefunden, wird mir klar. Das hat er selbst gemacht.

Und dann fällt es mir wieder ein.

Ich erinnere mich an meine Kindheit nach der Festnahme meines Vaters. An die Fußabdrücke, die wir überall auf unserem Grundstück fanden. An den unbekannten Jungen, den ich dabei erwischte, wie er durch unser Fenster glotzte. Angetrieben von einer kranken Neugier, fasziniert vom Tod.

Wer bist du? , schrie ich und stürmte auf ihn zu. Seine Antwort war die gleiche wie heute Nacht, zwanzig Jahre später.

Ich bin niemand.

«Wir untersuchen jetzt sein Auto», fährt Detective Thomas fort, aber ich kann ihn kaum hören. «In seiner Tasche haben wir Diazepam gefunden. Einen goldenen Ring, bei dem wir im Moment davon ausgehen, dass er Riley gehört. Und ein Armband. Holzperlen mit einem Silberkreuz.»

Ich kneife mir in die Nase. Das ist alles zu viel.

«Hey», sagt er und beugt sich über den Tisch, damit er mir in die Augen sehen kann. Müde blicke ich hoch. «Das ist nicht Ihre Schuld.»

«Doch, das ist es», sage ich. «Es ist meine Schuld. Er hat sie meinetwegen gefunden. Sie sind meinetwegen gestorben. Ich hätte ihn erkennen müssen –»

Detective Thomas hebt die Hand und schüttelt kurz den Kopf.

«Fangen Sie damit erst gar nicht an», sagt er. «Das war vor zwanzig Jahren. Sie waren noch ein Kind.»

Er hat recht, ich weiß. Ich war noch ein Kind, erst zwölf Jahre alt. Aber trotzdem.

«Wissen Sie, wer auch noch ein Kind ist?», fragt er.

Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

«Wer?»

«Riley. Und Ihretwegen ist sie da lebend rausgekommen.»