Eine kühle Brise weht durch die offenen Fenster und fährt mir durch die Haare, sodass einzelne Strähnen zum geöffneten Verdeck hinaustanzen und mich an der Wange kitzeln. Das Licht der untergehenden Sonne fühlt sich warm an auf meiner Haut, aber dennoch – es ist ungewöhnlich frisch heute. Am Freitag, den 26. Juli.
Meinem Hochzeitstag.
Nach einem Blick auf den Zettel mit der Wegbeschreibung auf meinem Schoß – eine Reihe von Anweisungen, hier und dort abzubiegen, die mit einer einzelnen Adresse enden – betrachte ich durch die Windschutzscheibe die lange Auffahrt, die sich vor mir erstreckt, und den Holzbriefkasten mit den vier Ziffern aus Kupfer darauf. Ich biege ab, fahre die Auffahrt entlang und ziehe eine Staubfahne hinter mir her, bis ich schließlich vor einem kleinen Haus anhalte – roter Backstein, grüne Fensterläden. Hattiesburg, Mississippi.
Ich steige aus und schlage die Tür zu. Dann gehe ich zum Haus, steige die Treppe hinauf und klopfe zweimal an die dicke, grün gestrichene Kiefernholztür, in deren Mitte ein Strohkranz hängt. Drinnen höre ich Schritte und leises Stimmengemurmel. Die Tür öffnet sich, und vor mir steht eine Frau in einer schlichten Jeans, einem ärmellosen weißen T-Shirt und Slippern. Sie hat ein offenes Lächeln, und über ihrer nackten Schulter hängt ein Geschirrtuch.
«Kann ich Ihnen helfen?»
Sie mustert mich einen Moment, weiß zunächst nicht, wer ich bin, doch dann dämmert es ihr. Ich sehe genau, wann es passiert. Es ist der Moment, in dem ihr höfliches Lächeln verblasst, weil sie mein Gesicht erkennt. Ich atme den vertrauten Duft ein, den ich so oft an Daniel gerochen habe – sehr süßlich, wie mit karamellisiertem Zucker überzogenes Geißblatt. Ich kann noch das junge Mädchen auf dem Schulfoto in ihr sehen: Sophie Briggs. Ihr krauses Haar ist jetzt mit Gel zu großen Locken gezähmt, und auf ihrem Nasenrücken ist eine zufällige Konstellation aus Sommersprossen versammelt, so als hätte jemand eine Prise voll genommen und darübergestreut wie Salz über eine Speise.
«Hi», sage ich, mit einem Mal verlegen. Ich bleibe auf ihrer Veranda stehen und frage mich, wie Lena jetzt aussähe, wenn sie hätte erwachsen werden dürfen. Ich stelle mir gern vor, sie wäre noch irgendwo da draußen, irgendwo verborgen so wie Sophie, in Sicherheit in ihrer eigenen kleinen Ecke der Welt.
«Daniel ist drinnen.» Sie dreht sich halb um und deutet auf die Tür. «Wenn Sie –»
«Nein.» Ich schüttle den Kopf und werde rot. Daniel zog unmittelbar nach Coopers Verhaftung aus, und aus irgendeinem Grund kam ich nicht auf den Gedanken, dass er hierhergekommen sein könnte. «Nein, schon gut. Offen gesagt bin ich Ihretwegen hier.»
Ich strecke die Hand aus, meinen Verlobungsring zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Polizei brachte ihn mir letzte Woche zurück, nachdem die Spurensicherung ihn im Fußraum von Tylers Wagen gefunden hatte. Sophie nimmt ihn mir wortlos aus der Hand und dreht ihn zwischen den Fingern.
«Er gehört zu Ihnen», sage ich. «In Ihre Familie.»
Sie steckt ihn an den Mittelfinger, an seinen alten Platz, spreizt die Hand und bewundert ihn. Ich blicke an ihr vorbei und sehe Fotos auf einem Flurtisch, und am Fuß der Treppe liegen kreuz und quer Schuhe. Auf der Geländerecke liegt eine Baseballkappe. Ich reiße den Blick davon los und sehe mich im Garten um. Ihr Zuhause ist klein, aber malerisch und sichtlich bewohnt: An einem Ast hängt eine Holzschaukel, an der Garage lehnen Rollschuhe. Dann ertönt drinnen eine Stimme – eine Männerstimme. Daniels Stimme.
«Soph? Wer ist da?»
«Ich sollte wohl besser gehen», sage ich und drehe mich um, weil ich plötzlich das Gefühl habe, hier herumzulungern. Als spähte ich bei einem Fremden in den Badezimmerschrank und versuchte, aus dem Inhalt auf sein Leben zu schließen. Versuchte, einen Blick auf die letzten zwanzig Jahre zu erhaschen, von dem Moment an, in dem sie jenes heruntergekommene alte Haus verließ und ohne einen Blick zurück davonging. Wie schwer das gewesen sein muss – dreizehn Jahre war sie alt, noch ein Kind. Einfach das Haus ihrer Freundin zu verlassen und allein diesen dunklen Straßenabschnitt entlangzugehen. Bis hinter ihr ein Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern anhielt. Daniel, ihr Bruder, der langsam mit ihr davonfuhr und sie zwei Städte weiter an einer Bushaltestelle absetzte. Ihr einen Umschlag mit Geld in die Hand drückte. Geld, das er genau für diesen Zeitpunkt angespart hatte.
Wir sehen uns , hatte er ihr versprochen. Wenn ich mit der Schule fertig bin. Dann kann ich auch weggehen.
Seine Mutter, die sich mit ihren schmutzigen Fingernägeln die faltige Haut kratzte; die mich mit wässrigen Augen ansah. Er ist am Tag nach seinem Highschool-Abschluss ausgezogen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
Ich frage mich, wie diese Jahre waren – für sie beide, zusammen. Für Daniel, während er ein Fernstudium absolvierte. Seinen Abschluss machte. Und für Sophie, die mit allen möglichen Jobs Geld verdiente – als Kellnerin, als Aushilfe im Supermarkt. Dann sahen sie sich eines Tages in die Augen und erkannten, dass sie erwachsen waren. Dass die Jahre vergangen waren und die Gefahr vorüber war. Dass sie beide ein Leben verdienten – ein echtes Leben –, und so ging Daniel fort, nach Baton Rouge, doch er fand immer einen Weg, zurückzukommen.
Als mein Fuß schon auf der Treppe ist, ergreift Sophie noch einmal das Wort – in ihrer selbstsicheren, festen Stimme erkenne ich ihren Bruder wieder.
«Es war meine Idee. Ihnen den Ring zu geben.» Ich drehe mich um und sehe sie an. Sie hat die Arme eng vor der Brust verschränkt. «Daniel hat ständig von Ihnen gesprochen. Tut er immer noch.» Sie grinst. «Als er mir erzählt hat, dass er Ihnen einen Antrag machen wollte, habe ich wohl gedacht, dass ich so mit Ihnen verbunden wäre, in gewisser Weise. Ich habe mir vorgestellt, wie Sie ihn tragen. So als könnten wir uns eines Tages kennenlernen.»
Ich denke an Daniel und die Zeitungsartikel in dem Buch in seinem Jugendzimmer. Und daran, dass Coopers Verbrechen die Inspiration waren, die er brauchte, um Sophie da herauszuholen – um sie verschwinden zu lassen. So viele Menschen haben wegen meines Bruders ihr Leben gelassen; das hält mich noch immer nachts wach, und ihre Gesichter haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Ein großer schwarzer Fleck, wie der Ruß auf Lenas Handfläche.
So viele Menschenleben – dahin. Bis auf das von Sophie Briggs. Ihr Leben wurde gerettet.
«Ich bin froh, dass Sie das getan haben.» Ich lächle. «Und jetzt kennen wir uns ja.»
«Ihr Vater ist wieder frei, habe ich gehört.» Sie tritt einen Schritt vor, als wollte sie nicht so recht, dass ich gehe. Ich nicke und weiß nicht, was ich darauf sagen soll.
Ich hatte recht damit, dass Daniel meinen Vater in Angola besuchte; dorthin fuhr er auf allen diesen Reisen. Er wollte die Wahrheit über Cooper in Erfahrung bringen. Als er ihm erzählte, dass wieder Morde verübt wurden, dass Mädchen vermisst wurden – zum Beweis zeigte er ihm Aubreys Halskette –, erklärte mein Vater sich bereit, ihm reinen Wein einzuschenken. Doch wenn man sich einmal des Mordes schuldig bekannt hat, kann man nicht einfach seine Meinung ändern. Dazu braucht es mehr; man braucht ein Geständnis. Und da kam ich ins Spiel.
Schließlich war es meine Aussage, die meinen Vater hinter Gitter gebracht hatte; da erschien es nur passend, dass meine Unterhaltung mit Cooper ihn zwanzig Jahre später befreite.
Letzte Woche sah ich in den Nachrichten, wie mein Vater sich entschuldigte. Dafür, dass er seinen Sohn geschützt hatte. Und für die Menschenleben, die das zusätzlich gekostet hat. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihn persönlich zu treffen, noch nicht, aber ich habe ihn mir im Fernsehen angesehen, genau wie damals. Nur versuchte ich diesmal, sein neues Gesicht mit dem in Einklang zu bringen, das ich immer noch vor mir sah. Die Brille mit dem dicken Rand war durch eine schlichte mit dünnem Metallgestell ersetzt worden. Auf seiner Nase war eine Narbe zurückgeblieben von der Verletzung, die er erlitten hatte, als man ihn mit dem Kopf gegen den Streifenwagen gerammt hatte, die alte Brille zerbrochen war und ein dünnes Rinnsal aus Blut ihm die Wange hinunterlief. Sein Haar war kürzer, sein Gesicht rauer, so als hätte man es geschmirgelt oder über Beton gezerrt. Außerdem fielen mir kreisrunde Narben an seinen Armen auf – Verbrennungen von Zigaretten vielleicht. Die Haut an diesen Stellen war dünn und spannte.
Aber trotz allem war er es. Mein Vater. Lebendig.
«Was machen Sie jetzt?», fragt Sophie.
«Ich weiß es nicht genau», antworte ich. Und das stimmt. Ich weiß es nicht.
An manchen Tagen bin ich immer noch wütend. Mein Vater hat gelogen. Er hat Coopers Verbrechen auf sich genommen. Er hat diese Schmuckschatulle gefunden und sie versteckt, er hat Coopers Geheimnis bewahrt. Hat seine Freiheit gegen Coopers Leben eingetauscht. Und deswegen sind jetzt noch zwei Mädchen tot. Aber an anderen Tagen kapiere ich es. Ich verstehe es. Denn es ist das, was Eltern tun: Sie schützen ihre Kinder, um jeden Preis. Ich denke an all die Mütter, die eindringlich in die Kamera blickten, während die Väter neben ihnen zerflossen. Sie hatten ein Kind, das der Finsternis zum Opfer gefallen war – aber was ist, wenn das eigene Kind die Finsternis ist ? Würde man es nicht auch schützen wollen? Schließlich dreht sich alles um Kontrolle. Um die Aufrechterhaltung der Illusion, dass der Tod etwas ist, das wir in Schach halten können, das wir in den Griff bekommen und festhalten können, sodass es niemals entkommt. Die Illusion, dass Cooper sich irgendwie ändern könnte, wenn man ihm noch eine Chance gäbe. Dass Lena, die sich vor meinem Bruder spreizte und spürte, wie das Feuer ihr die Haut versengte, genau im richtigen Augenblick zurückweichen könnte. Unversehrt davonkommen könnte.
Doch das lügen wir uns nur vor. Cooper hat sich nicht geändert. Lena konnte den Flammen nicht entgehen. Selbst Daniel hat es versucht. Er hat versucht, die Wut zu beherrschen, die tief in ihm loderte. Verzweifelt hat er versucht, das Erbe seines Vaters zu unterdrücken, das immer wieder aufblitzte, das in seinen schwächsten Momenten durchkam. Auch ich bin in diesem Punkt schuldig. All die Fläschchen in meiner Schreibtischschublade, die nach mir riefen wie ein Flüstern in der Nacht.
Erst als ich in meiner Küche über Cooper gebeugt stand und seinen geschwächten Körper betrachtete, bekam ich eine Ahnung davon, wie sich das eigentlich anfühlt: Kontrolle. Nicht nur, sie zu haben, sondern sie einem anderen abzunehmen. Sie ihm zu nehmen und als die eigene zu beanspruchen. Und einen kurzen Augenblick lang, wie ein Aufflackern im Dunkeln, fühlte sich das gut an.
Ich lächele Sophie an, dann drehe ich mich wieder um, gehe die letzten Stufen hinab und spüre, wie meine Schuhe aufs Pflaster treffen. Die Hände in den Taschen gehe ich zum Auto und betrachte den Horizont, den die Dämmerung mit Rosa-, Gelb- und Orangetönen überzieht – ein letzter Augenblick der Farbe, ehe die Dunkelheit einsetzt, wie sie es immer tut.
Und da bemerke ich, dass die Luft regelrecht summt, als wäre sie elektrisch aufgeladen, ein vertrautes Gefühl. Ich bleibe stehen, werde ganz still und beobachte. Warte. Und dann wölbe ich die Hände, greife nach dem Himmel und lege sie um ein zartes Flattern. Ich blicke auf meine Hände, auf das, was ich darin gefangen habe. Auf das Leben, das ganz buchstäblich in meinen Händen ruht. Dann halte ich sie an die Augen und spähe durch eine winzige Lücke zwischen meinen Fingern hinein.
Im Inneren leuchtet ein einzelnes Glühwürmchen; sein Körper pulsiert vor Leben. Ich betrachte es eine Weile, die Stirn an meine Finger gelegt, sehe es aus nächster Nähe leuchten, in meinen Händen flattern, und denke an Lena.
Dann öffne ich die Hände und lasse es frei.