Er schnupperte zur Rechten und zur Linken und sprach: »Ich rieche, rieche Menschenfleisch.«
Charles Perrault
Sie ließen den Mercedes-Dienstwagen in einem Forstwarthaus und fuhren mit einem Jagdwagen weiter, vor den ein Trakehnerfuchs gespannt war. So wurde nach Möglichkeit verhindert, dass die unberührte Natur des Rominter Geheges durch Motorfahrzeuge verschandelt wurde. Die Nacht war schon hereingebrochen, als sie vor dem Kanzleigebäude des Oberforstmeisters hielten, einem Landhaus mit vorgebauter Veranda, mit alten Ziegeln gedeckt und an den Giebeln von Hirschköpfen mit Geweihen gekrönt. Tiffauges musste das Pferd abschirren und es in den Stall bringen. Diese Arbeit war ihm neu; er verrichtete sie, so gut er konnte, kritisch beobachtet von einem alten Hausdiener, der gleich angelaufen kam, als er den Wagen auf dem gepflasterten Hof heranrollen hörte. Dann wies man ihm ein Mansardenkämmerchen an, und in der Küche teilte er Suppe, Speck, Rotkohl und Schwarzbrot mit dem Hausdiener und seiner Frau.
In den folgenden Wochen begleitete er den Oberforstmeister zu Fuß und mit einem Pferdewagen bei seinen Inspektionsfahrten in dem Naturschutzgebiet. Früher hatte der Sohn der Hausdienersleute die Tätigkeit eines Chauffeur-Kutscher-Faktotums versehen, und Tiffauges verdankte diese Wendung in seinem Dasein nur dem Gestellungsbefehl, durch den der junge Mann unlängst an die russische Front geschickt worden war. Die Eltern sahen ihn anfangs recht scheel an, doch legte sich ihre Feinseligkeit rasch, und er fühlte sich allmählich sozusagen in die Rolle eines Adoptivsohnes hineinwachsen, der umso sanfter angefasst wurde, je mehr man für das Leben des anderen fürchtete.
Als sich hinter Tiffauges die großen Tore schlossen und zum ersten Mal Romintens hellbraunes Laubdach über ihm zusammenschlug, da begriff er: Er war unter Führung eines untergeordneten, aber von den Geistern dieses Ortes anerkannten Magiers in einen Zauberkreis eingetreten. Der Erste, der ihn willkommen hieß, war ein großer, goldfarbener Luchs, der saß auf einem Baumstumpf, sah ihn vorbeifahren, lachte dabei in seine dünnen, an einen asiatischen Prinzen erinnernden Schnurrhaare und spielte mit den hellen Haarbüscheln oben auf seinen Ohren. Dann begleiteten ihn ein Biberpärchen, ein weißer Sakerfalke und ein großer grauer Hund mit Schlitzaugen und fliehendem Rückgrat – wie er erfuhr, einer jener sibirischen Wölfe, die in ganzen Rudeln über die polnische Platte herüberwechseln. Die deutlichsten Beziehungen zu elbischen Wesen aber hatte die Welt der – bald schädlichen, bald nützlichen – Pflanzen. Der Oberforstmeister zeigte ihm die dicken Pilze mit rotem, weißgetupftem Hut, unter denen die Elfen und Trolle schlafen, die Nieswurz, die verrückt macht, die sich aber zu Weihnachten mit Christrosen bedeckt; die Totentrompeten, deren essbare, aber rasch faulende Trichter verraten, dass ein Aas in der Nähe ist, die Tollkirsche, die den Schweiß hemmt und die Pupillen erweitert, die Satanspilze mit karmesinrotem, wulstigem Fuß und vor allem die von Wurzeln und Würzelchen ganz struppigen kleinen Höhlen, wie sie sich an den Flanken von Böschungen auftun und den Eingang zur Wohnung eines jener Erdgeister bezeichnen, die scheinbar eisgrau und altersschwach sind, aber mit Donnerstimme reden und jedwedes Pferd an Ort und Stelle bannen, wenn sie ihm an den Kopf springen.
Tiffauges erwartete, dass der Oberforstmeister ihn in dieses fantastische Reich einführe. Er würde ihn mitnehmen in die Grotten hinunter, wo Zwerge Diamanten aus dem Felsgestein schlügen, oder er würde ihn zu einem Schloss unter Brombeerranken und Steinbrech geleiten, wo in kristallenem Sarg nackt ein schönes Mädchen schliefe, und er würde ihn auch lehren, gewisse Pflanzen anzureiben und daraus einen Trank zu brauen, der ewige Jugend oder Glück in der Liebe verliehe. In Wirklichkeit war Tiffauges’ leichtgläubige Kinderseele verwundert, aber gar nicht enttäuscht, als sich ihm der Herr über all diese Wälder und all diese Tiere zeigte. Denn er stieß zwar auf keine Erdgeister, keine schlummernde Prinzessin und auch nicht auf den tausend Jahre alten König, der in einem hohlen Eichenstamm thront; dafür stand er bald vor dem Oger von Rominten.
Die Verwaltung des fünfundzwanzigtausend Hektar großen Rominter Naturschutzgebiets oblag mehreren Forstmeistern, deren Landhäuser im Unterholz ihres Reviers versteckt lagen. Doch die eindrucksvollsten Gebäude waren das Jagdhaus Wilhelms des Zweiten und Hermann Görings Jägerhof, die zwei Kilometer voneinander entfernt mitten im Schutzgebiet lagen.
Das kaiserliche Jagdhaus, in allen seinen Teilen 1891 von einem norwegischen Architekten hierher geschafft und dann zusammengesetzt, war ein eigenartiges, von Türmchen und offenen Bogengängen strotzendes, einfarbig dunkelrot angestrichenes Schlösschen aus Holz, das einem Schweizer Chalet und einer chinesischen Pagode gleichermaßen ähnlich sah. Um sein nordisches Gepräge zu unterstreichen, ließ man – Gipfel dieses bizarren Baustils – die Firstbalken in den Bug von Wikingerschiffen, also in geschnitzte Drachenköpfe auslaufen. Eine Hubertus-Kapelle und ein Bronzehirsch in Lebensgröße von Richard Friese, dem Tiermaler und -bildhauer des Kaisers, sowie Wirtschaftsgebäude im gleichen Stil rundeten den kaiserlichen Jagdsitz ab.
Im Jahre 1936 ließ Generalfeldmarschall Hermann Göring, der in zweifacher Eigenschaft – als preußischer Ministerpräsident und als Reichsjägermeister – über Rominten das Zepter führte, unweit davon sein eigenes Jagdhaus, den Jägerhof, errichten, der unter einem rein rustikalen Anstrich das naivpompöse kaiserliche Jagdhaus durch seinen raffinierten Luxus weit in den Schatten stellte. Ein Viereck von niedrigen, mit Binsenstroh gedeckten Gebäuden umgab einen Innenhof, der halb Patio, halb Kreuzgang war. An den Giebeln prangte das alte masurische Glückszeichen, noch betont durch kapitale Hirschgeweihe. Die kirchenschiffgroße Wohnhalle war ganz auf einen monumentalen Kamin aus Findlingsblöcken ausgerichtet; das Tageslicht fiel durch hohe Fenster aus getönten, bleigefassten kleinen Scheiben herein, und Kronleuchter hingen vom frei sichtbaren Gebälk herab, das dem Rumpf eines umgestürzten, großen Schiffes glich. Um diesen großen Wohn- und Gesellschaftsraum waren die Zimmer angeordnet, alle holzgetäfelt, aber jedes in einer anderen Holzart, sodass man vom Eschenzimmer, vom Rüsterzimmer, Eichenzimmer, Lärchenzimmer usw. sprach. In diesem forstlichen Rahmen entfaltete nun der Reichsjägermeister all den Prunk, ohne den er nicht er selber gewesen wäre und der auch in seinem Berliner Haus, in Karinhall in der Schorfheide, in seinem Berchtesgadener Sommersitz und nicht zuletzt auch in seinem privaten Panzerzug Asien, einem wahren Palast auf Schienen, zu finden war: eine luxuriöse Anhäufung von Tapisserien, von Gemälden großer Meister, von Pelzen, Nippsachen, Tafelgeschirr, Silber und Schmuck – die mit kostbarem Kram vollgestopfte Höhle eines Erzräubers, dem Europas Adelssitze und Museen infolge des Krieges zugänglich geworden waren. Dass sich Hitler mit seinem Stab in der Wolfsschanze knapp neunzig Kilometer entfernt in Rastenburg niederließ, war für Göring eine unverhoffte Gelegenheit, seine Pflichten gegenüber dem Herrn des Dritten Reiches mit seiner Freude an der Hirschjagd und am Wildbretessen in Einklang zu bringen. Er hielt in Rominten offene Tafel, bewirtete mit großem Gepränge die hohen Amtsträger des Regimes und verbündete Staatsmänner und ehrte sie dadurch, dass er sie einen Hirsch schießen ließ. Diesen Hirsch suchte er mit dem Oberforstmeister jeweils schon vorher der Bedeutung des Gastes entsprechend aus, aber stets deutlich eine Klasse unter den königlichen Tieren, die er sich selbst als Jagdbeute vorbehielt.
Eine der ersten Aufgaben, die Tiffauges oblagen, berücksichtigte die Klagen der Landwirte, deren Besitz an den Westrand von Rominten grenzte und von Wildschweinen vor der Ernte umgewühlt und verwüstet wurde. Keine Einfriedigung – es sei denn eine steinerne Mauer – kann dem groben Kopf eines alten Keilers widerstehen, der entschlossen ist, seiner Rotte einen Durchschlupf zu schaffen, und wenn man die in den Gattern und Palisaden klaffenden Lücken auch gewissenhaft flickte, so geschah das von vornherein ohne falsche Hoffnungen. Man hätte alle Sauen in der Rominter Heide ausrotten müssen, eine Lösung, auf die die Forstleute drängten, weil sie um ihre Saatschulen und Wildäcker bangten. Aber der Reichsjägermeister hatte es anders beschlossen. Zu sehr war er dem dicken, mutigen, lebenslustigen und gefräßigen Tier zugetan, das unterschiedslos Getreide, Insekten und Aas verschlang und das mit seinem zügellos-unberechenbaren Charakter so erholsam war gegenüber den pedantisch-genauen Gepflogenheiten des Hirsch- und Rehwildes, das an seine Wechsel, Asungsflächen und Einstände gebunden war. Er befahl, man solle das Problem auf umgekehrte Weise lösen, nämlich das östliche Ende der Rominter Heide für Wildschweine so verlockend gestalten, dass sie dort blieben. Es war vorgesehen, sie zu diesem Zweck mit Abdeckereipferden zu füttern, die an der Stelle geschlachtet wurden, wo die Sauen sie fressen sollten.
Tiffauges empfand dieses Schlachten, bei dem man ihm die Rolle des Schlächters aufgebürdet hatte, als grausame, aber gewiss sinnträchtige – und damit gute – Erfahrung. Er musste das zum Sterben verurteilte Pferd in einem benachbarten Dorf oder Gestüt – Trakehnen lag nur etwa zwölf Kilometer entfernt im Norden – übernehmen und in Begleitung des bisherigen Besitzers mit einem Fuhrwerk zu der Stelle fahren, wo das Tier getötet werden sollte. Oft war die arme Schindmähre so erschöpft – und seitdem sie zum Sterben verurteilt war, so unterernährt –, dass sie nur im Schritt vorankamen. Tiffauges hatte sogar eine Spritze und ein Fläschchen mit einem Aufputschmittel bei sich, durch das er einen etwaigen Schwächeanfall des Tieres für eine Weile überbrücken konnte.
Getötet wurde das Pferd durch einen Gewehrschuss, der mit 7er-Schrot aus einem halben Meter Abstand hinter das Ohr abgegeben wurde. Das Tier brach dann, wie vom Blitz getroffen, augenblicklich tot zusammen. Gleich darauf riss ihm der Eigentümer die Hufeisen weg und zog ihm, wenn es sich verlohnte, das Fell ab. Tiffauges musste dieses grobschlächtige Vorgehen mitansehen, das an einen ungeheuerlichen Mord am Waldrand erinnerte, und ihm wurde schwach vor Ekel, zumal da er sehr rasch die tiefgründige Verwandtschaft aufgespürt hatte, die ihn mit dem Pferd, dem phorischen Tier schlechthin, verband; dadurch hatte diese Schlächterei etwas Selbstmörderisches an sich. Als er eines Tages zum Ort dieses Verbrechens zurückkehrte, überraschte er eine ganze Rotte von Sauen dabei, wie sie sich mit wilder Begeisterung im Luder einer Stute suhlten, die sie aufgerissen und über die ganze Lichtung verstreut hatten, wo man sie hatte liegen lassen. Doch das war noch gar nichts! Er war notgedrungen Zeuge, wie ein einzelner alter Keiler ein noch frisches Luder annahm: Der Keiler schlug den Pferdekadaver vom After her auf und ruhte nicht, bis er diesen mit Gebrech- und Hauerstößen auf den Umfang seines groben Kopfes erweitert hatte. Das tote Pferd, durchwühlt, herumgestoßen, alle viere in der Luft, sah beim wütenden Ansturm des schwarzen Einzelgängers aus, als sei es gestikulierend in hitziger Debatte begriffen. Und Tiffauges, peinlich berührt, fühlte, wie etwas von dieser grotesk-unwürdigen Szene auf ihn zurückfiel.
Die Ankunft des Reichsjägermeisters, Reichsmarschalls und Oberbefehlshabers der Luftwaffe im Jägerhof machte sich schon vorher durch einen Zustrom von Vorräten und ein mächtiges Hin und Her unter den dienstbaren Geistern bemerkbar. Wenn Asien im Bahnhof von Tollmingkehnen hielt, fuhr der standergeschmückte Mercedes vor und brachte den beleibten Mann mit Windeseile in sein märchenhaftes Waldhaus. Dort brannte ein Höllenfeuer in dem riesigen Kamin; Butler mit weißen Handschuhen verteilten Kerzenspaliere auf der langen, mit feiner Tischwäsche gedeckten Klostertafel, auf der Geschirr in kostbarer Goldschmiedearbeit blinkte, die Kammerdiener wärmten mit Bettflaschen das große, mit Seide und Pelzwerk bezogene Bett des Hausherrn, während in den Küchen des Hauses der traditionelle gefüllte Frischling, am Holzkohlenfeuer gebraten, sein Fett in die Tropfpfanne schwitzte. Die Stimme des Reichsjägermeisters, etwas schleppend durch einen leichten Einschlag ins Bayerische, kommandierte unaufhörlich im ganzen Jägerhof herum. Einer der Ersten, die er zu sich berief, war der Oberforstmeister. Der alte Mann, in seine beste Uniform gezwängt, kam von diesen Unterredungen mit vollgestopftem Hirn und verstörter Miene zurück und lud seine Sorgen auf Tiffauges ab, der im Stall bei dem Fuchs des Jagdwagens auf ihn wartete.
Das erste Mal, da Tiffauges Gelegenheit hatte, den Reichsmarschall zu sehen, lag mitten im Winter und war durch einen Zwischenfall veranlasst, an dem der Herr von Rominten riesigen Spaß hatte.
Tiffauges kam in einem mit zwei kräftigen Ackergäulen bespannten Wagen von Goldap zurück; er hatte Rüben und Mais für die Hirschfütterung geladen. Indes die Pferde mächtig schnaubten und ihre Hufeisen mit den Eisstollen daran auf dem gefrorenen Boden klirrten, schaute Tiffauges, in einen Mantel aus Schaffell eingemummelt, wie die kahlen Zweige als raureifglitzerndes Geflecht langsam über seinem Kopf dahinzogen. Er sann darüber nach, wie doch diese lange Wanderschaft gen Osten, auf die ihn die Geschichte mit Martine und der daraus entstandene Krieg getrieben hatten, mit einer Wallfahrt in die Vergangenheit einhergehe; ihre Stationen waren bei ruhiger Betrachtung Unholds Auftreten, das Auftauchen des Mannes im Torf und in alltäglicherer Form der Verzicht auf ein Benzinfahrzeug, dann auf den Holzvergaser zugunsten eines Pferdes. Mit wollüstiger Angst ahnte er, dass seine Reise ihn noch weiter, noch tiefer, in noch ehrwürdigeres Dunkel führen werde und dass er letztlich vielleicht eingehen werde in des Erlkönigs vorzeitliche Nacht.
Da erlebte er einen Spuk, der ihn in der Überzeugung bestärkte, seine Gedanken hätten die furchtbare Macht, nach ihrem Bilde wirkliche Wesen erstehen zu lassen. Zu seiner Rechten kam zwischen großen entasteten Tannenstämmen in schnellem Tempo eine Herde riesiger schwarzer Tiere herangetrabt, zottig wie Bären, bucklig wie Büffel. Tiffauges erkannte in ihnen Stiere, doch Stiere von offenbar vorgeschichtlichem Typus, wie sie in jungsteinzeitlichen Felszeichnungen erscheinen, also Auerochsen mit ihren kurzen, dolchartigen Hörnern, ihrem buckligen Widerrist und der dichten Mähne darauf. Leider war er nicht der Einzige, der sie ankommen sah: Unvermittelt aus ihrer schläfrigen Gangart gerissen, schlugen die Pferde einen Galopp an, der rasch in rasende Flucht überging, und dahinter machte der Wagen Sprünge und schleuderte über die ganze Straßenbreite hin und her. Tiffauges zögerte, seine Tiere zu zügeln, denn er teilte ihren Schrecken, zumal da obendrein eine zweite Herde Ure ihnen den Rückzug abzuschneiden drohte. Er zählte ein rundes Dutzend Gehörne in der ersten, etwa zehn in der zweiten Gruppe, also insgesamt etwa zweiundzwanzig Tiere, doch unter den am weitesten entfernten, den langsamsten, waren offenbar mehr Kühe und Kälber. Mit knapper Not entkamen sie der zweiten Herde, die sich der ersten anschloss und mit ihr eine eindrucksvolle, durcheinanderwogende Masse bildete, die alles niederwalzte, was ihr im Wege war. Aber schon die erste Wegbiegung, die kam, wurde dem kopflos davonjagenden Gespann zum Verhängnis. Der Wagen verlor das Gleichgewicht, fuhr noch einige Meter auf zwei Rädern und kippte dann, während die Pferde weiter daran zogen, in der Kurve nach außen um; Tiffauges kugelte in den Schnee. Eines der Pferde, das durch den Unfall frei geworden war, ergriff, sein zerbrochenes Geschirr hinter sich herschleifend, die Flucht, das andere, das noch im Zaumzeug hing, schlug um sich und polterte wild gegen den Wagenkasten. Tiffauges machte es in aller Eile los und schwang sich auf seinen Rücken, bevor es etwa gleichfalls durchgehen wollte. Als er sich umblickte, sah er, wie die Auerochsenherde, friedlich um den umgestürzten Wagen versammelt, sich an Rüben und Maiskolben gütlich tat.
Als sich dieser Vorfall abspielte, weilte gerade der Vater der Rominter Ure auf dem Jägerhof, wo er ein häufiger Gast war. Es handelte sich um den Direktor des Berliner Zoologischen Gartens, Professor Dr. Lutz Heck. Er hatte die Idee, eine sorgfältig abgestimmte Mischung von Rinderrassen aus Spanien, aus der Camargue und aus Korsika in einer über mehrere Generationen betriebenen Zuchtwahl zu veredeln. Auf diese Weise wollte er den ursprünglichen Auerochsen wieder heranzüchten, dessen letzte Vertreter im Mittelalter ausgestorben waren. Er war der Meinung, er sei diesem Ziel recht nahegekommen, und erhielt vom Reichsjägermeister die Erlaubnis, den Bos primigenius redivivus – wie er seine Neuschöpfung mit pedantischem Jubel getauft hatte – in der Rominter Heide in freier Wildbahn auszusetzen.
Fortan verbreitete die schwarze, massige Herde Furcht und Schrecken in der Rominter Heide. Man erzählte von einer Radfahrerpatrouille, die von einem Auerochsen angegriffen wurde und ihr Heil in den Ästen der nächsten Bäume suchen musste; das wilde Tier ließ dann seine Wut an den Fahrrädern aus, die auf der Straße verstreut lagen; es zertrampelte sie, nahm sie dann in wirrem Durcheinander auf die Hörner und zog, mit dieser Siegestrophäe aus Rohren und ineinander verknäuelten Rädern bekrönt, im Triumph von dannen.
Als Göring von Tiffauges’ Missgeschick erfuhr, kannte sein Vergnügen keine Grenzen, und er ließ ihn kommen, um die Geschichte aus seinem eigenen Munde zu hören. Tiffauges meldete sich also am Abend des folgenden Tages frisch rasiert und – dank den abgelegten Kleidern eines Forstwarts, der etwa seine Größe hatte – grün gekleidet und schwarz gestiefelt im Jägerhof. Ein ausgedehntes, herrliches Abendessen, das man ihm vorsetzte, nahm er mit dem Hauspersonal in der Küche ein; dieses betrachtete ihn mit ängstlichem Respekt, nachdem ja der Herr Reichsjägermeister ein Auge auf ihn hatte. Dann musste er die rechte Laune der Herren abwarten, die bei Zigarren und Likör in vertraulichem Gespräch um den riesigen Kamin saßen. Endlich rief man ihn herein.
Obwohl alles in Uniform war, stellte die Ausstrahlung, die des Reichsjägermeisters Leibesumfang und sein extravaganter Aufzug ihm verliehen, die Gäste um ihn her ganz in den Schatten. Seine hundertsiebenundzwanzig Kilo quollen über den Rand eines mittelalterlichen Faltstuhls, dessen geschweifte, mit verschlungenen Linien verzierte Lehne gleichsam einen pfauenschweifförmigen Heiligenschein über seinem Kopf und seinen Schultern bildete. Gekleidet war er in ein weißes Hemd mit Spitzenjabot und wallenden Ärmeln; darüber trug er eine Art Messgewand aus malvenfarbenem Wildleder; eine schwere goldene Kette schaute darunter hervor, und an deren Ende baumelte ein Smaragd, so groß wie ein Taubenei.
So zur Schau gestellt zu werden, wäre dem Franzosen unerträglich gewesen, hätten die anderen nicht deutsch gesprochen; denn das schuf zwischen ihnen und ihm eine durchscheinende, nicht aber durchsichtige Trennwand, die ihre Grobheiten dämpfte und es ihm ermöglichte, mit dem zweitmächtigsten Mann des Reiches in Ausdrücken und in einem Ton zu reden, der bei einem Deutschen nicht geduldet worden wäre.
Tiffauges musste genau schildern, wann und wo er den Uren begegnet war, wie viele es gewesen, woher sie wohl gekommen waren, wie sie auf die Pferde gewirkt hatten, wie er selber sich verhalten hatte – und bei jeder neuen Einzelheit schlug sich der Reichsjägermeister auf die Schenkel und brüllte vor Lachen. Dann wurde über Tiffauges’ Brille gewitzelt. Man zog ihn damit auf, er habe mit ihren Vergrößerungsgläsern vielleicht einige Kaninchen für riesige Stiere gehalten, und Tiffauges entdeckte zum ersten Mal eine der Marotten der Herren des Dritten Reiches: diesen Hass auf alles, was eine Brille trug, denn sie bedeutete für sie Intelligenz, Schulbildung, abstraktes Denken, kurz: das Jüdische. Danach erklärte Professor Dr. Lutz Heck, der Vater des Bos primigenius redivivus, seine Tiere seien, so paradox das auch klinge, nur so lange gefährlich, als noch Domestikationsspuren in ihnen seien. In Unfreiheit geboren, werde es Jahre brauchen, bis sie vor dem Menschen Furcht hätten und schon flüchteten, wenn sie seiner von ferne ansichtig würden. Heute nämlich – wenn auch weniger als zu Beginn ihres neuen Lebens in der Wildnis – hätten sie noch nicht begriffen, weshalb man sie in einem eisigen, nicht gerade reichlich Nahrung spendenden Wald ausgesetzt habe, da doch die Umgegend von fetten Weiden und reichen Bauernhöfen strotzte. Mehr als einmal hätten die Ure übrigens die Umzäunung durchbrochen, Stall- und Scheunentüren eingedrückt und sich am Viehfutter gütlich getan, nicht ohne beiläufig auch noch eine zarte Färse zu bespringen. In ihrer Aggressivität gegen Menschen, schloss Professor Heck, liege etwas vom Trotz, von der Bitterkeit verstoßener Kinder; was dem Franzosen zugestoßen sei, sei dafür die beste Illustration.
Doch der König der Tierwelt Romintens war der Hirsch. Er wurde vom Anstand und mittels Treibjagd – den einzigen Jagdarten, die der dichte Wald zuließ – bejagt und war seitens des Reichsjägermeisters gleichzeitig Gegenstand eines Liebes-, Opferungs- und Speisekultes. Dieser Kult hatte obendrein sogar seine Theologie; ihr kabbalistischer Zweig befasste sich mit der Identifizierung und Ausdeutung der Abwurfstangen und ganz besonders mit der Schätzung der dem Kopf zukommenden »Punkte«, die von einem Preisgericht aus Berufsjägern mindestens acht Tage nach dem Strecken des Hirsches vorgenommen wurde, nachdem das Geweih während dieser Zeitspanne in einem Wärmeraum getrocknet worden war.
Der Winter ging dem Ende zu, und Tiffauges’ wichtigste Arbeit bestand darin, in Hochwald und Unterholz die von den Hirschen abgeworfenen Stangen zu sammeln, eine Suche, die in dieser Jahreszeit umso wichtiger ist, als die alten Hirsche schon im Februar/März die Stangen abwerfen, während die jungen oft bis zum Beginn des Sommers warten, ehe sie ihre Spieße verlieren. Die Aufgabe war insofern heikel, als zwischen dem Abwurf der beiden Stangen des gleichen Hirsches gewöhnlich zwei oder drei Tage liegen, sodass jeder Fund einer Stange zu einer langwierigen Suche nach der anderen zwingt, ohne die sie nichts wert ist. Trotz der Gewissenhaftigkeit und bald sogar der wachsenden Leidenschaft, die Tiffauges auf diese Suche verwendete – er hätte sie niemals zu einem guten Ende bringen können ohne die Hilfe zweier eigens darauf abgerichteter Griffons, die wahre Wunder vollbrachten; sie waren während Görings Abwesenheit aus einem benachbarten Bezirk geholt worden, denn eine seiner Marotten war, dass er Hunde verabscheute und sie nicht um sich leiden mochte. Noch erstaunlicher war das Wissen des Oberforstmeisters, der die Stangen, die man zu ihm brachte, ohne Zögern identifizierte, etwa als vierter Kopf von Theodor, als siebter von Sergeant oder als zehnter des alten Poseidon. Die Abwurfstangen musste man sodann auf der Schautafel für den betreffenden Hirsch über den Geweihen aus früheren Jahren anbringen, und zwar in Form einer Pyramide, deren Spitze an 11. oder 12. Stelle vom geweihgeschmückten Kopf des erlegten Tieres gekrönt werden sollte.
Das Eintreffen des Reichsmarschalls wurde an jenem Tag für den späten Vormittag erwartet, und ein Zug Forstleute mit großen Jagdhörnern war vor dem Jägerhof angetreten, um ihm beim Aussteigen den Jagdgruß zu blasen. Tiffauges und der Oberforstmeister hatten auf einem Tisch die Abwurfstangen aufgebaut, die seit dem letzten Hiersein des Reichsjägermeisters gefunden worden waren. Diese Geweihe stellten die knappste, die ureigenste Chronik des Lebens in Rominten dar, und um ihre Deutung entbrannten leidenschaftliche Diskussionen zwischen den Forstleuten und dem Reichsjägermeister. An den Geweihen ließen sie nämlich die Entwicklungsphasen des einen oder anderen der hochkapitalen Hirsche verfolgen und mit Sicherheit die Zeit bestimmen, zu der er abgeschossen werden musste, denn wenn er seinen Höhepunkt erreicht hatte, musste er im Jahr danach unausweichlich anfangen »zurückzusetzen«.
Der Mercedes mit den Standern bog in die große Allee ein, die zum Jägerhof führte, die Bläser setzten ihr Instrument an und standen still – da sah man, wie ein Adjutant aus dem Wagen sprang, ihm vorausrannte und schon im Laufen rief:
»Nicht blasen! Der Löwe kann das nicht leiden!«
Allgemeine Verblüffung; einen Augenblick war alles im Zweifel, ob »der Löwe« etwa ein neuer Beiname sei, den »der Eiserne« sich zugelegt hatte – aber wie sollte man diese plötzliche Abneigung gegen die sonst von ihm über alles geschätzten Klänge verstehen?
Der mächtige Wagen hielt weich und lautlos, die vier Türen gingen gleichzeitig auf, und durch eine der hinteren Türen glitt ein langer Raubtierkörper ins Freie, ein Löwe, ein leibhaftiger Löwe; er zog an einer Leine und in sie verheddert einen wohlgelaunten Reichsmarschall hinter sich her, der in seiner weißen Uniform kugelrund wirkte.
»Buby, Buby, Buby«, summte er halblaut und überquerte den Hof; noch immer zog ihn die große Raubkatze mit, die sich scheu an den Boden drückte. Dann verschwanden sie im Haus; das ganze Personal stob entsetzt vor ihnen davon.
Fieberhaft wurde ein Raum gesucht, in dem man den Löwen vorerst einmal unterbringen konnte, und am Ende wurde Görings Privatbad zum Raubtierzwinger: Man kippte einen Schubkarren Sand in die Duschwanne, damit Buby sich, nach Art aller Katzen, in lockerem Boden erleichtern konnte. Anschließend ging der Reichsmarschall wieder vor das Haus, trat vor die Bläser und hörte in strammer Haltung das Willkommenssignal an, das sie schon seit einigen Wochen für ihn geübt hatten. Dann bedankte er sich durch Heben seines blau- goldenen Marschallstabes und verzog sich in seine Gemächer, um sich umzuziehen. Eine Stunde später besprach er sich mit dem Oberforstmeister und befühlte dabei sachkundig die Abwurfstangen, von denen der Abschussplan für den Sommer und Herbst abhing.
Am Abend hatte Tiffauges Gelegenheit, flüchtig eine Szene zu sehen, die sich ihm mit den einfachen, grellbunten Farben eines Epinaler Bilderbogens einprägte. Göring saß in einem neckischen, blassblauen Kimono am Tisch, vor sich ein halbes Wildschwein, und schwang, wie Herkules seine Keule, einen Schlegel. Der Löwe saß neben ihm und verfolgte hingerissen, was mit dem Stück Wildbret über seinem Kopf vor sich ging; träge und ohne recht bei der Sache zu sein, schnappte er danach, wenn es in seine Nähe kam. Schließlich biss der Reichsjägermeister mit vollen Zähnen hinein, und für einige Augenblicke verschwand sein Gesicht ganz hinter der ungeheuren Keule. Dann, mit vollem Munde, hielt er sie dem Löwen hin, der nun seine Reißzähne hineingrub. Und so wechselte das Stück Wildbret von einem Oger zum andern hin und her, und beide kauten an ganzen Brocken von moschusduftendem Fleisch und blickten einander dabei liebevoll an.
Die Auswahl der Hirsche, die die Gäste ihrem Rang entsprechend schießen durften, stellte den Oberforstmeister vor eine ganz schwierige Aufgabe. Sie führte nicht selten zu einem Donnerwetter, und er musste dann dessen ganze Heftigkeit über sich ergehen lassen. Einmal war der Generalfeldmarschall von Brauchitsch der Anlass zu einem solchen Auftritt, und wie immer entsprang er aus der Eifersucht, mit der der Reichsjägermeister die Hirsche des Wildreservats hütete. Der Oberbefehlshaber des Heeres brach schon in dunkler Nacht auf; begleitet wurde er vom Forstmeister eines benachbarten Bezirks, der die Fährte eines – nach dem Trittsiegel gewiss kapitalen – Hirsches, wahrscheinlich des Raufbolds, ausgemacht hatte. Der Reichsjägermeister ging etwas später mit dem Oberforstmeister los und schlug die Richtung auf die Einstände zweier hochkapitaler Hirsche ein, die nach ihrer Abwurfserie demnächst abgeschossen werden mussten. Es wurde schon dunkel, da kam er wieder zurück zum Jägerhof und hatte hinten auf dem Wagen einen hochkapitalen Hirsch und seinen angehend kapitalen Beihirsch. Beide trugen prachtvoll vielendige Geweihe, der hochkapitale in Kandelaberform, der andere mehr gebogen, ähnlich wie eine Hand mit drei Fingern. Strahlend zog sich der Reichsjägermeister in seine Gemächer zurück, um sich zum Abendessen fertig zu machen. Eine Stunde später hörte man den Wagen Brauchitschs, der ebenfalls mit seiner Strecke heimkam.
Die Jägersitte wollte es, dass in solchem Falle die Strecke um Mitternacht im Innenhof des Jägerhofes, der von eisernen Körben mit brennenden Kienspänen erleuchtet war, feierlich verblasen wurde. Nach fröhlichem Schmausen versammelten sich also die Jäger vor den drei erlegten Hirschen, die wie üblich der Größe nach gestreckt waren. Kaum hatte der Reichsjägermeister sie gesehen, da beugte er sich auch schon über den größten, den Raufbold, dessen Geweih, gekrönt von zweiundzwanzig Enden, mindestens neun Kilo wog. Zärtlich fuhr er mit der Hand über die Perlung, die auf den Stangen entlanglief, über die Rosen am Stangenansatz und die an den Sprossen sichtbaren Riefen. Er fühlte mit der Fingerkuppe die spitzen Enden der Aug- und Eissprossen, deren Elfenbeinweiß von dem Brandbraun der Stangenschäfte hell abstach. Als er sich wiederaufrichtete, war aus seinem vorher so freundlich scheinenden Säuglingsgesicht jeder Humor wie weggewischt, und mit missmutig vorgeschobener Unterlippe stieß er hervor: »Das ist genau die Art von Hirsch, die ich gern schieße.«
Doch die zwölf Jagdhornbläser hatten sich nun im Halbkreis aufgestellt und bliesen auf einen Wink des Oberforstmeisters das Halali. Dann nahm der Oberforstmeister den Hut ab und verlas feierlich die Namen der Jäger und der erlegten Hirsche. Mit Dankes- und Abschiedsworten schloss er. Wieder ertönte dann der raue, verwehende Klang der Hörner und grüßte das Ende des Tages, und Tiffauges, im Schatten des Fachwerkumganges verborgen, horchte in sich hinein nach den Erinnerungen, die diese wilde, klagende Melodie in ihm wachrief. Er fand sich zurückversetzt in die Pausenhalle in St. Christophorus, wo er einer tiefen, verzweifelten Totenklage lauschte, dann nach Neuilly in seinen alten Hotchkiss, wie er sich zäh darum bemühte, einen Schrei aufzunehmen, den er zufällig gehört und seitdem nie wiedergefunden hatte, der ihm aber wie ein Lanzenstich durch und durch gegangen war. In den Klängen dieses Abends schwangen Obertöne mit, die mit jenem Schrei unbestreitbar verwandt waren; freilich war es eine mittelbare, entfernte, sozusagen künstliche Verwandtschaft. Trotzdem fühlte Tiffauges an diesem Abend in einem dunklen, aber sicheren Wissen, er werde diese Totenklage später einmal in reinster Form hören, und wenn sie dann aufsteige von der alten ostpreußischen Erde, dann werde es nicht um den Tod von Hirschen gehen.
»Das ist genau die Art von Hirsch, die ich gern schieße!«, wiederholte Göring mit bedrohlicher Hartnäckigkeit.
Und da er dem Oberforstmeister gegenüberstand, packte er ihn an den Rockaufschlägen und fauchte ihn an:
»Die besten Hirsche lassen Sie meine Gäste schießen, für mich sind ja zweitklassige gut genug!«
»Herr Reichsjägermeister«, stammelte der Oberforstmeister mit tonloser Stimme, »dieser Gast war aber der Oberbefehlshaber des Heeres!«
»Sie Rindvieh!«, erwiderte Göring, ehe er ihn losließ und ihm den Rücken wandte. »Ich rede doch von Hirschen! Hirsche gibt es zweierlei: die meinen, die Reichsjägermeisterhirsche – und die anderen! Merken Sie sich das ein für alle Mal!«
Einer der edelsten Reichsjägermeisterhirsche war ganz ohne Zweifel der Kandelaber. Er versprach der König des Rominter Hirschbestandes zu werden, und der Oberforstmeister führte fast von Monat zu Monat Buch über seine Entwicklung. Eines Abends, als Göring, vermummt wie ein Bär, schwerfällig durch den lockeren Schnee stapfte, tauchte plötzlich im Gewirr bereifter Zweige der Kandelaber wie eine Spukgestalt auf. Wie eine Statue aus dunklem Ebenholz trug er noch über seinem kraftvollen Hals ein Geweih von vierundzwanzig Enden, so regelmäßig angeordnet wie die Strahlen eines Schneekristalls. Er war groß und gerade wie ein Baum, ein Baum, der sich regte und atmete, mit spitzen Lauschern, spiegelklaren Lichtern, und war voll den drei Männern zugekehrt. Die Hängebacken des Reichsjägermeisters begannen zu zittern.
»Der schönste Abschuss meines Jägerlebens, der schönste Kopf, den ich je gesehen habe!«
Er machte sein Gewehr, das er abgekippt über dem Unterarm getragen hatte, schussfertig und nahm es langsam hoch. Da aber trat der Oberforstmeister mit einer Entschiedenheit, die Tiffauges verblüffte, dieser fiebernden Begierde entgegen.
»Herr Reichsjägermeister«, sagte er so laut, dass der Hirsch hochflüchtig werden musste, »der Kandelaber ist der schönste Zuchthirsch in Rominten. Gönnen Sie ihm noch ein Jahr! Er ist die Zukunft des ganzen Geheges.«
»Ist Ihnen auch klar, was ich damit riskiere?«, wetterte Göring. »Er ist mindestens vier Zentner schwer und hat zwanzig Pfund Stangen auf! Er kann von einem simplen Spießer geforkelt werden, der fixer und hitziger ist. Und wissen Sie denn, wie sein nächster Kopf aussieht?«
»Noch schöner, Herr Reichsmarschall. Noch edler. Aus dreißigjähriger Hegeerfahrung weiß ich das bestimmt. Für sein Leben bürge ich mit meinem eigenen. Dem geschieht nichts!«
»Lassen Sie mich ihn schießen«, drängte Göring und stieß ihn beiseite.
Doch als er schließlich anlegte, war der Kandelaber verschwunden. Kein Laut, kein schwankender Zweig verriet etwas von seiner Flucht. Man hätte meinen können, der Hochwald habe ihn, sein lebendiges Fluidum, wieder aufgesogen. Die Wut des Jagdherrn hätte wohl noch ungeahnte Folgen gehabt, hätte der Oberforstmeister das Gewitter nicht kommen sehen und gewusst, was man dagegen tun konnte: Er führte ihn schleunigst, noch ehe es Nacht wurde, einige Kilometer weit in eine Mulde, die mit hohem Heidekraut und einem fast undurchdringlichen Dickicht von niedrigen Haselnusssträuchern bestanden war. Der hohe Jagdherr murrte ein bisschen, als er auf dem Bauch robben musste, um ein mit schwarzen Dornen gespicktes Brombeergebüsch an einem Abhang zu überwinden, der zu einem felsigen Talrund abfiel. Aber er atmete heftig, als er dann in einem verlassenen Sauenkessel kniend die Sohle der Schlucht durchs Fernglas betrachten konnte. Da standen gut dreißig Tiere dicht nebeneinander im Schutz des Steilhangs, und ihr Atem stieg wie leichter Nebel in die eisige Luft. Ein altes Gelttier, das das Rudel zu führen schien, schlug schon vor dem ersten Schuss Alarm. Die drei Männer standen gut im Wind, und der Gegenhang hatte wohl ein Geräusch zurückgeworfen, denn das Tier ließ sich täuschen und stürmte geradewegs auf sie zu. Die erste Kugel, durch die ein zweijähriger Spießer im Sprung zusammenbrach, verlangsamte den Ansturm der anderen nicht; man sah deutlich, wie sie darüber hinwegsetzten. Der Reichsjägermeister legte an, schoss, die Hülse wurde ausgeworfen und fiel taumelnd neben ihm zu Boden. Er schaute, zielte, schoss nochmals, und dabei lachte und gluckste er beglückt. Mitten in die Brust getroffen, bäumte sich der kapitale Hirsch auf, der dem Gelttier folgte, dann machte er einen Satz vorwärts und brach schließlich vor dem ganzen Rudel zusammen. Nun erst schienen die Hirsche zu begreifen, dass ihnen der Rückweg abgeschnitten war. Sie verhofften, den Kopf hocherhoben, die Lauscher gerundet; dann, als ein neuer Schuss einen struppigen, abgebrunfteten Spießhirsch niederstreckte, machten sie kehrt und stürmten in den Talkessel hinunter. Weitere Schüsse fielen, während das Rudel mit verstörtem Hufegeklapper den vereisten Steilhang hinanstürmte. Ein kapitaler Hirsch versuchte über eine senkrecht abfallende Stelle zu springen, doch taumelte er unter der Last seines herrlichen Geweihs rückwärts und stürzte auf ein Schmaltier hinab, dem davon das Rückgrat brach. Drei Junghirsche, rasend vor panischem Entsetzen, kämpften wild miteinander, drehten sich hochaufgebäumt auf der Stelle oder wichen dann wieder unter einem heftigen Stoß zurück und schrien, dass es kilometerweit zu hören war. Schließlich verhedderten sich ihre Geweihe so hoffnungslos, dass sie, aneinanderhängend wie eine Traube, abgeschossen wurden.
Als das Gemetzel zu Ende war, lagen elf Hirsche und vier Gelttiere im dampfenden Blut. Es war gut, wenn fortpflanzungsunfähig gewordenes Kahlwild abgeschossen wurde; es wurde nämlich am frühesten brunftig und schwächte dadurch unnötigerweise das männliche Wild. Aber der Reichsjägermeister interessierte sich für die Hirsche, sonst für nichts, und es war wunderlich anzusehen, wie er schwerfällig vom einen zum anderen lief und seinen Hirschfänger zückte. Er zog an dem zuckenden, großen Körper die noch warmen Keulen auseinander und griff mit beiden Händen hinein. Mit der rechten machte er schnelle Sägebewegungen, mit der linken holte er aus dem aufgeschlitzten Hodensack die Brunftkugeln heraus; sie schillerten rosa und sahen aus wie Eier aus frischem Fleisch. Denn dem erlegten Hirsch – so glaubt man allgemein – muss unverzüglich seine Männlichkeit genommen werden, sonst nimmt das Fleisch einen Moschusgeruch an und wird für den Genuss untauglich.
Tiffauges nahm diese Erklärung so, wie sie’s verdiente, denn sie konnte ja offenbar nicht stimmen, erst recht nicht auf einem Gebiet wie der Jägerei, in der alles Zeichen, alles Ritus aus unvordenklichen Zeiten ist. Wieder einmal sann er darüber nach, was wohl der Schlüssel zum Wesen des Hirsches und was der geheime Grund dafür sei, dass er in der Tierwelt Ostpreußens einen offensichtlich so übergroßen Raum einnahm. Dabei ruhte sein Blick auf dem mächtigen weißen, himmelwärts gerichteten Hinterteil Görings, der sich über das königliche Tier beugte, um es zu schänden. Doch dann, als wollte der Marschall sogleich auf Tiffauges’ stumme Frage Antwort geben, richtete er sich wieder auf und winkte seine Begleiter heran. Der Hirsch, der vor seinen Füßen lag, war ein Kümmerer; seine Stangen wiesen eine Asymmetrie auf, deren Hässlichkeit einem wehtat. Die rechte Stange war die eines jagdbaren Hirsches mit sechs Sprossen; drei davon, in Form eines Dreizacks angeordnet, bildeten am Stangenende eine gut gewachsene Krone. Die linke Stange, verkümmert, dünn und aus bröckeligem Material, war die eines zweijährigen Spießers, ein einfacher, gerader Schaft mit einem Gabelansatz am Ende. Und wieder neben dem fahlroten Körper kniend machte Göring einen seiner Gäste darauf aufmerksam, dass den asymmetrischen Stangen eine Verkümmerung des Hodensackes entsprach: Der Hirsch besaß eine normale Brunftkugel, die andere war in der Entwicklung zurückgeblieben. Hier war es jedoch die rechte, die einem unter den Fingern entglitt und unter der Haut des Hodensackes nur eine kaum sichtbare Verdickung bildete. Der Oberforstmeister, der mit Tiffauges etwas entfernt davon stehengeblieben war, erklärte ihm, dass eine irgendwie geartete Verletzung – durch eine Gewehrkugel, durch Stacheldraht oder durch den Stoß eines Spießers – oder eine angeborene Missbildung eines Hodens sich zwangsläufig in einer schwach entwickelten oder regelwidrigen Geweihstange auf der anderen Seite äußert. So war also das Hirschgeweih letztlich nichts anderes als ein freies, sieghaftes Erblühen der Hoden; der Umkehrung folgend, die solch intensiv sinnträchtige Symbole normalerweise begleitet, war aber das übersteigerte Bild, das es von ihnen erzeugte, seitenverkehrt und gleichsam in einem Spiegel reflektiert.
Dass das Geweih in so wörtlichem Sinne phallischer Natur war, gab der Jagd und der Kunst des Waidwerks einen zutiefst beunruhigenden Sinn. Einen Hirsch jagen, ihn erlegen, ihn entmannen, sein Wildbret essen, ihm die Stangen wegnehmen, um sich ihrer zu rühmen wie einer Siegesbeute – das also war in fünf Akten das Heldenlied des Ogers von Rominten, des amtierenden Opferpriesters des phallustragenden Engels. Es gab außerdem einen sechsten, noch grundlegenderen Akt, den Tiffauges einige Monate später entdecken sollte.
In einem Augenblick der Verärgerung hatte der Oberforstmeister es Tiffauges zu verstehen gegeben: Göring war kein ganz großer Wildkenner. Es wäre nicht schwer gewesen, in Deutschland ein gutes Hundert Jäger oder Forstleute aufzutreiben, die waidmännisches Können und Instinkt für die Jagd in unbestreitbar höherem Grade besaßen. Eines freilich musste er gerechterweise zugeben: Ein nicht unwichtiges Gebiet gab es, auf dem der Reichsmarschall ein Wissen und eine Begabung ohnegleichen an den Tag legte, nämlich im Deuten der Losung des Wildes. Wenn es darum ging, alle in den Gelösen der Tiere enthaltenen Mitteilungen zu entziffern, bewies der hohe Jagdherr einen Scharfblick und eine Erfahrung, dass man sich mit Recht fragen konnte, wo und wann er beides wohl erworben haben mochte, und ob es nicht ganz einfach dem Urgrund seiner Ogernatur selbst entsprang.
Tiffauges hatte Gelegenheit, diese koprologische Begabung des Herrn der Rominter Heide bei ihrem Wirken zu beobachten, und zwar eines Frühlingsmorgens, als es nichts zu schießen gab, ohne dass man gröblich gegen die Waidgerechtigkeit verstoßen hätte, als jedoch der Zustand des Geländes ein besonderes klares Lesen der Kotspuren ermöglichte. Göring, der keinen anderen Wunsch hatte, als sein Wissen zur Schau zu stellen, interessierte sich bald nur noch für die Signaturen, die das Wild am Fuß der Bäume, im Unterholz und in den meistaufgesuchten Einständen hinterlassen hatte.
So zeigte er, dass die Losung der Hirsche nur eine Spitze hat und in Abständen verstreut ist, während die des Kahlwildes zwei Spitzen hat, schleimig, tiefschwarz und ungleich ist. Hart und trocken im Winter, machen die frischen Kräuter und die jungen Triebe des Frühlings sie immer weicher, bis sie wie dünne, flache Kuhfladen aussieht. Im Sommer wächst ihre Festigkeit wieder und verwandelt sie in goldfarbene Zylinder, deren eine Grundfläche konkav, die andere konvex ist. Im September ballen sich die einzelnen Stückchen dann zu Ketten zusammen. Wenn die Tiere Kälber setzen, ist ihre Losung häufig mit Blut durchsetzt. Schließlich muss man wissen, dass die Kotmasse durch das lange Widerkäuen den Tag über am Abend härter und trockener ist als morgens. Der Reichsmarschall scheute sich nicht, zwischen Daumen und Zeigefinger die Konsistenz seiner Prachtsfunde zu probieren und sie sich sogar unter die Nase zu halten, um das Alter schätzen zu können; der Geruch wird nämlich mit der Zeit säuerlich.
Aber auch die Losung der Rehe – im Winter zu einer einzigen Spitze geformt, im Sommer zu Trauben zusammengebacken wie die der Schafe –, die Geschmeiße der Sauen – winters in Form von Kegeln, sommers in formlosen Haufen –, der Kot der Hasen – beim Rammler trocken und spitzig, verstreut und schwärzlich, bei der Häsin dicke, schimmernde Kugeln –, die Gekälke der Schnepfen – elfenbeinweiße Scheiben mit einem olivgrünen Punkt in der Mitte –, die Gestüber der Fasanen, die sich unter den Sitzbäumen ansammeln, das Balzpech des Auerhahns, das er auf Baumstümpfen ablegt, und sogar die bescheidenen Kötel der Kaninchen schienen ihm gleichermaßen interessant und seiner Erläuterung wert.
Tiffauges konnte nicht umhin, an Nestor und seine nächtlichen Defäkationssitzungen mit sachkundigem Kommentar zu denken, als er den dicken Mann unter dem Geklingel all seiner Orden mit frohen Rufen von Baum zu Baum, von Busch zu Busch laufen sah wie ein Kind am Ostermorgen, wenn es im Garten Schokoladeneier sucht. Und obschon er seit langem daran gewöhnt war, dass das Schicksal alles nach ihm, Tiffauges, ausrichtete, sah er es doch mit Staunen: Die Zufälle des Krieges und der Gefangenschaft hatten ihn zum Diener und Adepten des zweitmächtigsten Mannes im Reich gemacht, eines Experten der Phallologie und Koprologie.
In den Sommer fiel die Ankunft eines Gastes besonderer Art, eines kleinen, nervösen, wortgewandten Zivilisten, auf dessen großer Nase eine Brille mit dicken Gläsern saß: des Professors Otto Essig. Seine jüngst an der Universität Göttingen publizierte Monographie Die Mechanik der Symbole in der Geschichte des alten und neuen Germanien hatte die Beachtung Alfred Rosenbergs gefunden. Der offizielle Philosoph des Regimes hatte für seinen Schützling diese Einladung erwirkt, obwohl Göring, der Intellektuelle nicht leiden konnte, nur widerwillig zugestimmt hatte. Während seines kurzen Aufenthalts in Rominten hatte Tiffauges nur ein einziges Mal Gelegenheit, ihn zu sehen – und er verstand überdies nicht die Hälfte von dem, was Essig sagte, denn der kleine Professor sprach schnelles Gelehrtendeutsch –, aber er tat ihm leid, denn es war, als rühre diese absonderliche Figur, deren Tollpatschigkeit niemals und vor nichts haltmachte, an lauter Dinge, an denen sein Herz hing.
So hörte er eines Tages eine Diskussion über die verschiedenen Formeln zur Vermessung von Hirschgeweihen – die Nadlerformel, die Prager Rotwildformel, die Deutsche Rotwildformel und die Madrider Formel –, die er auf die ihm übergebenen Geweihe anwandte und deren gegenseitige Vor- und Nachteile er mit verblüffend beweglichem Geist verglich. Tiffauges merkte sich, dass die einfachste, die klassische Nadlerformel, durch Addition von vierzehn Punktzahlen zustande kam; diese Punkte wurden gegeben für:
durchschnittliche Stangenlänge (mal Faktor 0,5)
durchschnittliche Augsprossenlänge (Faktor 0,25)
durchschnittlichen Rosenumfang (Faktor 1)
unteren Stangenumfang rechts (Faktor 1)
oberen Stangenumfang rechts (Faktor 1)
unteren Stangenumfang links (Faktor 1)
oberen Stangenumfang links (Faktor 1)
Endenzahl (Faktor 1)
Gewichte (Faktor 2)
Auslage (0 bis 3 Punkte)
Farbe (0 bis 2 Punkte)
Perlung (0 bis 2 Punkte)
Krone (0 bis 10 Punkte)
Spitzen der Enden (0 bis 2 Punkte).
Die Prager Rotwildformel bezieht darüber hinaus die durchschnittliche Länge der beiden Mittelsprossen und das Aussehen der Eissprossen (0 bis 2 Punkte) ein. Die Deutsche Rotwildformel dagegen bewertet die letztgenannte Eigenschaft nicht, schlägt aber eine Gesamtnote von 0 bis 3 dazu.
Tiffauges, der ja nunmehr den phallophorischen Sinn des Hirschgeweihs kannte, wunderte sich höchlich über diese Arithmetik, die in ein so geheimnisumwittertes Gebiet Genauigkeit und feine Abstufung brachte. Jeder von den Jägern hatte ein Bandmaß, das er anscheinend stets bei sich trug, aus der Uhrtasche gezogen; sie reichten Abwurfstangen und Geweihe herum und warfen sich dabei Zahlen an den Kopf, sie riefen sich die fantastischen Maße dieses oder jenes berühmten Hirsches in Erinnerung, die auf der alljährlichen Internationalen Jagdausstellung in Budapest Aufsehen erregt hatte: die des Fackelhirsches zum Beispiel, der es auf zweihundertzehn Nadlerpunkte gebracht hatte, oder des Osiris, der mit seinen zweihundertdreiundvierzig Nadlerpunkten nur wenig – und obendrein wegen Einzelheiten, über die sich streiten ließ – von den zweihundertachtundvierzig Komma fünfundfünfzig Punkten übertroffen wurde, die ein in Slawonien erlegter Hirsch – der mächtigste Kopf, den man seit Jägersgedenken gesehen – erreicht hatte.
Professor Essig benützte eine Atempause, um eine Philosophie des Hirschgeweihs zu skizzieren. Er hob zunächst hervor, dass in die vorliegenden drei Vermessungsformeln verschiedene rein qualitative Wertungselemente Eingang gefunden hätten, und zwar hinsichtlich Farbe, Schönheit und Perlung und Schönheit der Krone und in der Prager Formel auch bezüglich der Schönheit (nicht etwa der Länge) der Eissprossen. »Darin liegt«, so behauptete er, »der Teil des Wesens, der sich nicht auf Zahlen reduzieren lässt, der Teil der konkreten Realität, den keine Messung zu erfassen vermag. Wenn man die Dinge nun einmal aus dem Blickwinkel des Wildes selbst betrachtet, so stellt man fest, dass der Sinngehalt der Stangen über ihre Verwendung als Waffe zum Kämpfen hinausgeht. Aus rein praktischer Sicht beurteilt, kann man das Geweih eines hochkapitalen Hirsches nur als hinderlich und unbequem ablehnen. Aber mag es auch wegen Gewicht und Umfang zu einer im Ernstfall wenig wirksamen Waffe geworden sein, so ist es doch eine Tatsache, dass ein hochkapitaler Hirsch nur äußerst selten von einem Spießer ernstlich angegriffen wird. Gefahr droht ihm viel eher von Rehböcken, denn ein hitziger junger Spießbock weicht auch vor der wuchtigen Masse eines ausgewachsenen Hirsches nicht zurück und kann ihm mit seinen Spießen Forkelstiche beibringen, die er nicht übersteht. Auf junge Hirsche dagegen wirkt das ganz anders, und hier zeigt sich die eigentliche Funktion eines stolzen, edlen Geweihs: Es ist, als flöße es dem Spießer eine Art Respekt ein. Was der ältere Hirsch durch das Geweih an Kampfkraft einbüßt, gewinnt er demnach hundertfach an geistiger Ausstrahlung.« Und mit einer Verbeugung zu Göring hinüber zog Essig Parallelen zwischen dem Hirschgeweih und dem Marschallstab, der auch nur eine sehr mäßige Waffe zum Kämpfen sei, seinen Träger aber körperlich unantastbar mache durch die Würde, die er ihm verleihe. »Während demnach«, so schloss er, »die genitale Männlichkeit, schamhaft in die unterste, entlegenste Körperhöhlung geduckt, den Hirsch zur Erde hinabzieht, umgibt ihn das Geweih, ihr sublimierter, frei zum Himmel emporgereckter Ausdruck, mit einer strahlenden Kraft, die selbst auf die blindwütige Hitze junger Draufgänger Eindruck macht.« Der kleine Professor hatte sich bei seinen Worten selber in Hitze geredet und hatte nicht gespürt, mit welcher Kälte seine Worte aufgenommen wurden. Er kannte den Hass noch nicht, den in dieser Gesellschaft jegliche die Froschperspektive übersteigende Denk- oder Redeweise hervorrief. Dann kam man auf das Gewicht des Wildes zu sprechen, insbesondere auf die Beziehung zwischen dem Lebendgewicht und dem Netto- oder Wildbretgewicht, das heißt dem Gewicht der Teile, die an die Wildhandlung verkauft werden. Essig hatte sich darüber schon Gedanken gemacht und brachte gleich eine Formel, die er dafür aufgestellt hatte. »Um aus dem Lebendgewicht das Wildbretgewicht zu gewinnen«, so erklärte er, »braucht man nur vier Siebtel des Lebendgewichts zu nehmen, dazu die Hälfte dieses Gewichts zu addieren und die Summe durch zwei zu dividieren; dann kommt das Wildbretgewicht heraus.« Göring ließ sie die Formel noch einmal sagen, zückte einen goldenen Drehbleistift und rechnete rasch etwas auf einer Zigarettenschachtel.
»Demnach, Herr Professor«, meinte er schließlich, »würde ich mit meinen hundertsiebenundzwanzig Kilo Lebendgewicht allerhöchstens achtundsechzig Kilo auf die Fleischwaage bringen. Ich weiß nicht, ob ich das demütigend oder tröstlich finden soll!«
Er schlug sich auf die Schenkel und brach in gutmütiges Gelächter aus. Die anderen Gäste taten ein Gleiches, doch war in ihrem Lachen ein Unterton von Entrüstung und damit von Unwillen gegenüber dem kleinen Professor. Der merkte das auch und wollte sich auf recht flotte Art dagegen wehren. Das Gespräch drehte sich um Elche, und er hielt es für ganz passend, eine Anekdote zu erzählen, die in Schweden spielte, wo König Gustav V. trotz seiner zweiundachtzig Jahre immer noch Jahr für Jahr bei der großen Elchjagd den Vorsitz führte. Diskret unterrichtete man die Gäste, Seine Majestät sei etwas kurzsichtig; wenn man im Lauf der Treibjagd in seine Nähe komme, sei es ratsam, schon von weitem zu rufen: »Ich bin kein Elch!« Dementsprechend verhielt sich kurz vor Jagdende auch ein hochgestellter Gast, doch zu seinem großen Entsetzen sah er gleich darauf, wie der alte Monarch anlegte und auf ihn schoss. Leicht verletzt wurde er auf einer Tragbahre weggebracht, und nach dem Halali hatte er Gelegenheit, mit dem König darüber zu sprechen. Dieser entschuldigte sich bei ihm. »Aber«, so meinte der Verletzte erstaunt, »als ich Eure Majestät sah, habe ich doch Ich bin kein Elch gerufen. Mir war, als habe Eure Majestät mich gehört, und dann in meine Richtung geschossen.« Der König überlegte einen Augenblick. Dann setzte er ihm auseinander: »Wissen Sie, mein Lieber, Sie müssen mir das nachsehen. Ich höre nicht mehr so gut. Ja, ich habe Sie rufen hören. Aber ich habe verstanden: Ich bin ein Elch. Und da habe ich natürlich geschossen!«
Der Fauxpas war katastrophal. Göring trieb ja noch immer einen Kult um seine erste, aus Schweden stammende Frau Karin, die 1931 verstorben und unter seinem luxuriösen Herrensitz Karinhall – im Grunde nichts als ein Mausoleum – beerdigt war. Seitdem war alles, was mit Schweden zu tun hatte, heilig, und die Anekdote des kleinen Professors, die Gustav V. lächerlich machte, fiel in ein betretenes Schweigen. Der Reichsjägermeister stand auf und ging, ohne Essig noch ein Wort zu gönnen, in seine Privaträume. Er sollte ihn nicht wiedersehen, denn er musste tags darauf zum Vortrag nach Rastenburg, und als er die Fahrt antrat, war der Professor schon seit zwei Stunden in den Dickungen bei Erbershagen, am Ostrand des Naturschutzgebietes, mit einem Forstmeister unterwegs, der ihn auf einen Hirsch führen sollte – den ältesten, den kränksten Hirsch, den ärgsten Krüppelkopf von ganz Rominten, wie Göring ihm eingeschärft hatte.
Die genauen Umstände des Vorfalles, der an jenem Morgen in der kleinen Forstkolonie wie ein Erdbeben wirkte, konnten nie vollkommen geklärt werden. Der für den kleinen Professor bestimmte »Krüppelkopf«, den der Forstmeister am Abend zuvor bestätigt hatte, fand sich, als kaum das Frühlicht die Tannenwipfel rötete, unweit der Stelle, bis zu der die zwei Männer mit dem Jagdwagen fuhren. Er stellte sich sogar rührend gutwillig am Rande einer kleinen Lichtung auf, gerade in der Visierlinie der Jäger, die kaum dreißig Meter von ihm auf einen am Waldrand stehenden Hochsitz geklettert waren. Der Forstmeister, einigermaßen stolz und erleichtert, seinen Auftrag so rasch und so gut erledigt zu haben, gab seinem »Kunden« einen Wink, jetzt könne er schießen. Der Professor legte an und zielte so lange, dass der Forstmeister zu fürchten begann, der Hirsch verschwinde im Unterholz. Endlich krachte der Schuss. Jäh, wie vom Blitz gefällt, stürzte der Hirsch, doch stand er mit solcher Leichtigkeit wieder auf, dass er nicht ernstlich getroffen sein konnte. Und tatsächlich hatte die Rehpostenladung – wie sie beide feststellen mussten – nur die einzige, obendrein verkümmerte und schwächliche Geweihstange zertrümmert, die der Hirsch besaß. Ohne Geweih, nicht würdevoller als ein magerer Esel, überdies noch halbtot vor Schreck, stand er wie betäubt da und wandte den Kopf dem Hochsitz zu. »Schnell, Herr Professor, schießen Sie ihn, bevor er flüchtig wird!« flehte der Forstmeister, der sich für seinen Schützling in Grund und Boden schämte.
Da ging eine pausenlose Schießerei los, die den ganzen Distrikt in Aufruhr brachte. Humuswölkchen, mit dürren Blättern vermischt, flogen auf, abgeschossene Zweige kamen herunter, Baumstämme wiesen plötzlich splitternde Einschüsse auf. Nur der Maulesel-Hirsch blieb offenbar von dem Geschosshagel verschont. Er trottete langsam unter die ersten Büsche am Waldrand und war schon mehrere Sekunden lang verschwunden, ehe die wütende Schießerei endlich aufhörte. Der Forstmeister war aufgestanden und schlug die Arme an den Körper, um sich zu erwärmen.
»Nach diesem Lärm«, sagte er, »ist es aus für heute früh. Wir können nur belämmert nach Hause ziehen. Heute Abend müssen wir uns auf einen Rubbeljack gefasst machen«, setzte er hinzu: Er lächelte mühsam bei dem Versuch, seinen Unmut zu verbergen.
Der Rubbeljack war ein in Ostpreußen sehr beliebter, derber Jägerspaß; er bestand darin, dass das Opfer durch die Laufmündung einer frisch beschossenen Flinte eine Mischung von Schnaps und weißem Pfeffer trinken musste, die man durch einen Trichter in das Patronenlager goss.
Der Forstmeister trat im nassen Gras ungeduldig auf der Stelle und wartete auf den Professor, der unerklärlicherweise noch immer auf dem Hochsitz blieb. Er hatte nur noch ein Achselzucken für ihn, als er ausrief: »Ich seh den Hirsch wieder! Da drüben in der Buchenschneise! Es sind mindestens fünfhundert Meter! Ich schieße mit einer Kugel auf ihn!«
Ein letzter Schuss fiel. Dann Stille. Und wieder die Stimme des Professors, der das Gewehr mit dem Fernglas vertauscht hatte.
»Schauen Sie doch mal, Herr Forstmeister, ich glaube, ich hab ihn erwischt.«
Das war natürlich hirnverbrannt, doch der Forstmeister stöhnte und stieg, höflich wie er war, zu seinem Jagdgast auf den Hochsitz hinauf. Tatsächlich, mit dem Fernglas sah man in der Schneise, die sich bis zum Horizont durch einen Buchenbestand zog, deutlich ein Stück Wild liegen. Die Entfernung war riesig; eigentlich war das Tier auch für den besten Schützen außer Schussweite. Und doch war dort dieser Fleck, allerdings dunkler als die fahlrote Decke des Hirsches, auf den der Professor seinen Rehpostenvorrat verschossen hatte. Sie gingen zu dem Buschbestand. Der Hirsch schien zu schlafen, den Kopf friedlich auf die Vorderläufe gelegt, das Geweih als herrlichen, dunkelelfenbeinernen Busch emporgereckt. Der mächtige, gedrungene Leib lag da wie aus Ebenholz geschnitzt. Er war noch warm. Die Kugel hatte ihn voll in die Brust getroffen.
Der Forstmeister fühlte seine Knie wanken. Auf den ersten Blick hatte er den Kandelaber erkannt, den hochkapitalen Hirsch Nummer eins der Rominter Heide, den zu hegen und zu pflegen alle Forstleute strengstens gehalten waren. Und Essig, dieser blöde Kerl, vergaß nun auch noch jede Würde und führte um den ehrfurchtgebietenden Leichnam einen Skalptanz mit Triumphgeheul auf! Trotzdem – es war strenger Befehl: Der Gast des Reichsjägermeisters war tabu für alle, die in der Rominter Heide Dienst taten. So groß Essigs Schuld auch war, er durfte von der Schwere seiner Untat nichts ahnen. Als er frohlockend vor Stolz wieder im Jägerhof eintraf, feierte man ihn also, eine Feier mit verzerrtem Lächeln und vielen Waidmannsheil! aus Kehlen, die wie zugeschnürt waren und die auch Ströme von Champagner nicht zu lösen vermochten.
»Wissen Sie«, sagte er zu allen und jedem, »wissen Sie, Rehposten ist nichts für mich. Ich bin ein Kugelschütze!«
Und er war untröstlich darüber, dass der Reichsjägermeister gerade jetzt verreist sei und sich nicht mit ihm freuen könne. Göring sollte am nächsten Abend zurückkommen, sicher spät in der Nacht, aber alles schwor dem kleinen Professor, man werde ihn nicht vor einer Woche wieder hier sehen. Die ganze Nacht hindurch wurde gearbeitet, um die Trophäe für ihn herzurichten, und am nächsten Morgen wurde er auf die Bahn befördert – ob solcher Eile ein wenig verwundert, aber strahlend, liebevoll besorgt um das schwerste und ebenmäßigste Geweih – es erreichte zweihundertvierzig Nadlerpunkte –, das die Chronik der Rominter Heide aufzuweisen hatte.
Göring traf erst mitten in der Nacht ein. Am nächsten Morgen um zehn Uhr saß er gerade am Frühstückstisch, auf dem Terrinenpasteten vom Hasen, eingemachte Wildente, marinierter Frischling und Rehpastete mit knuspriger Rinde ein harmonisches Gleichgewicht mit geräuchertem Lachs, Ostseehering und Forelle in Aspik bildeten. Da meldete sich bei ihm der Oberforstmeister in Galauniform, das Gesicht steinern und von männlich beherrschtem Schmerz. Der Anblick des dicken, in einen Brokatschlafrock gehüllten Mannes, dessen kleine, leicht gewölbten Füße in Fischotterpantoffeln steckten und der inmitten dieses Durcheinanders von Speisen thronte, brachte ihn für einen Augenblick aus der Fassung.
»Ich habe heute früh schon eine erfreuliche Neuigkeit gehört«, ging Göring geradewegs auf ihn los. »Der kleine Professor ist gestern weggefahren. Sie haben ihn ganz schön fortspediert. Hat er einen Hirsch geschossen?«
»Jawohl, Herr Reichsjägermeister.«
»Einen Kümmerkopf, einen lahmen Maulesel, eine alte, kranke Ziege, wie ich befohlen hatte?«
»Nein, Herr Reichsjägermeister. Professor Otto Essig von der Universität Göttingen hat den Kandelaber geschossen.«
Ein Schlag. Geschirr, Platten und Gläser flogen samt Tischtuch und Gedeck vom Tisch und zersprangen auf den Fliesen. Das Getöse rief den Butler auf den Plan. Göring, mit geschlossenen Augen, streckte seine beiden dicken, weichlichen, mit Ringen und Armbändern überladenen Hände wie ein Blinder von sich.
»Joachim«, murmelte er mit matter Stimme, »schnell, die Schale!« Der Butler verschwand eiligst und kam mit einer großen Onyxschale wieder, die er vor den Reichsmarschall hinstellte. Sie war voll kostbarer Edelsteine, und Göring tauchte gierig die Hände hinein. Dann ohne die Augen zu öffnen, knetete er langsam dieses Gemenge von Granaten, Opalen, Aquamarinen, Turmalinen, von Jade und Bernstein, das – davon hatte man ihn überzeugt – die Kraft hatte, durch Entladung der in seinem Körper gespeicherten Elektrizität seine Nerven zu beruhigen und ihm seine Heiterkeit wiederzugeben. Immer von seinen Versuchungen als Morphinist geplagt, schätzte er dieses Mittel gegen seine Angstzustände sehr, weil es den Vorzug hatte, unschädlich zu sein und überdies gut zu seiner Prunkliebe passte. »Bringen Sie mir das Geweih«, befahl er.
»Der Professor hat es gestern mitgenommen. Er wollte sich nicht davon trennen«, stammelte der Oberforstmeister.
Göring öffnete die Augen und sah ihn mit listigem Funkeln im Blick an.
»Sie haben gut daran getan. Es ist für euch alle hier besser, wenn ich ihn nicht sehe. Den Kandelaber! Den König der Rominter Hirsche! Wie hat der Kerl, diese Missgeburt, das bloß fertiggebracht?«, machte er sich Luft.
Nun erzählte der Oberforstmeister die unglaubliche Geschichte von der Pirsch des Professors Essig, von der blindwütigen Schießerei auf den alten, so beschämend seiner Stange beraubten Hirsch, von der lustlosen Verdrossenheit des Forstmeisters, von jener letzten, aufs Geratewohl und auf unmäßige Entfernung verschossenen Kugel und von dem unerklärlichen Zufall, dass der Kandelaber in diesem Distrikt, so weit im Osten des Geheges, war. Ein solches Zusammentreffen unwahrscheinlicher Umstände sah so sehr nach einem Spruch des Schicksals aus, dass Göring schwieg, erschlagen, voll dunkler Unruhe, als stehe er plötzlich vor dem Geheimnis der Welt.
Seit dem Ende des Sommers 1942 war unter den Romintern nur noch von der großen Jagd die Rede, die Erich Koch, der Gauleiter von Ostpreußen, in den drei Revieren um die masurischen Seen plante, die der Reichsjägermeister ihm als Privatjagd zugewiesen hatte. Es sollte eine Hasentreibjagd größten Ausmaßes werden, denn es waren dreitausend Treiber, darunter fünfhundert zu Pferd, vorgesehen. Der gesamte Führerstab aus Rastenburg und die »hohen Tiere« aus der Umgegend sollten mit von der Partie sein, und die Krönung eines Jägers zum Jagdkönig sollte das Fest beschließen.
Eines Abends kam der Oberforstmeister aus Trakehnen zurück, und hinter seinem zweirädrigen Einspänner ging ein riesenhafter schwarzer Wallach, prall von Muskeln, haarig und dicksteißig wie ein Weib.
»Der ist für Sie«, erklärte er Tiffauges. »Ich will Sie ja schon lange in den Sattel setzen. Die große Treibjagd des Gauleiters ist eine gute Gelegenheit. Aber was ich Mühe hatte, für Sie mit Ihrem Gewicht ein Reittier zu finden! Das ist ein vierjähriges, durch einen Ardenner Einschlag etwas schwereres Halbblut, dessen gebogener Vorderkopf und feuchtglänzendes Ebenholzfell aber trotz seiner Statur an seine Berberabstammung erinnern. Es mag gut und gern seine zwölf Zentner wiegen und ist am Widerrist mindestens ein Meter achtzig hoch. Im Grunde ist es der Typ des Kutschpferdes in seiner großen Zeit. Man fliegt nicht gerade mit ihm – da ist keine Gefahr –, aber es könnte drei von Ihrer Sorte tragen. Ich habe es Probe geritten. Es kneift nicht vor Hindernissen und scheut weder vor Wasserläufen noch vor Brombeerhecken. Es ist ein bisschen hart im Maul, aber wenn es galoppiert, ist es der reinste Panzer.«
Tiffauges nahm sein Ross in Besitz, mit einer Erregung, in der sich der Jubel seines einsamen Herzens mit der Ahnung der großen Taten mischte, die sie miteinander vollbringen würden. Jeden Morgen ging er nun einen Kilometer weit zu dem alten Pressmar, einem ehemaligen kaiserlichen Stallmeister, zu dessen Gut ein größerer Reitstall, eine Hufschmiede und eine gedeckte Reitbahn gehörte. Dort war sein mächtiges Ross auch untergebracht worden. Unter der Leitung Pressmars, der froh war, die jedem Reiter eigene pädagogische Berufung erfüllen zu können, lernte er sein Tier pflegen und aufsitzen. Die Freude, die er in der Nähe dieses großen, kindlich-warmen Körpers empfand, wenn er ihn mit Stroh abrieb, striegelte und bürstete, erinnerte ihn anfangs an die Tauben aus dem Elsass und an die Stunden flaumweichen Glücks, die er im Taubenschlag zugebracht hatte. Doch begriff er bald, dass diese Reminiszenz nur oberflächlich war und auf einem Missverständnis beruhte. Wenn er das Fell seines Reittiers rieb und glänzend bürstete, empfand er in Wirklichkeit die gleiche schlichte Zufriedenheit wie einst beim Wichsen seiner Schnürschuhe und seiner Stiefel, nur in eine ungleich höhere Potenz erhoben. Waren nämlich die Tauben aus dem Elsass erst seine Beute, dann seine geliebten Kinder gewesen – wenn er mit aller Hingabe sein Pferd versorgte, striegelte er im Grunde sich selbst. Und für ihn war das eine Offenbarung, diese Versöhnung mit sich selbst, dieses Gefühl für den eigenen Körper, diese noch vage Zärtlichkeit für einen Mann namens Abel Tiffauges, die durch den riesigen Trakehnerwallach in ihn einzog. Eines Morgens streifte ein Sonnenstrahl das Pferd im Gegenlicht und Tiffauges merkte, dass dessen jettschwarzes Fell blauschimmernde Stellen in Form konzentrischer Aureolen aufwies. Dieser Berber – in Tiffauges’ Muttersprache »barbe«, was zugleich Bart bedeutet – war demnach ein »barbe bleu«, und so bot sich als passender Name für ihn von selbst der Name Blaubart an.
Die Reitstunden bei Pressmar waren zu Beginn ebenso einfach wie strapaziös. Das Pferd war gesattelt, jedoch ohne Steigbügel. Tiffauges musste mit einer Flanke in den Sattel springen, und dann begann in der Reithalle eine Steißklopfsitzung im kurzen Trab; sie allein sei – so behauptete der Stallmeister – bei genügend langer Dauer imstande, dem jungen Reiter einen tadellosen Sitz beizubringen. Der Reiter freilich ging zerschlagen, wie gerädert und zwischen den Beinen bis aufs Fleisch wundgeritten daraus hervor.
Anfangs beobachtete Pressmar seinen Schüler ununterbrochen mit tadelndem Blick, und die spärlichen Bemerkungen, die er von sich gab, waren alles andere als höflich. Ganz verkrampft beugte er sich nach vorne, der Reiter, die Füße habe er hinten. Gleich falle er herunter, und das geschehe ihm ganz recht! Er müsse sich im Gegenteil mit angezogenen Beinen nach hinten setzen, die Füße nach vorn nehmen, und diese Haltung durch einen gewölbten Rücken und vorgezogene Schultern verbessern. Tiffauges ließ sich durch diese barsche Behandlung nicht schrecken, betrachtete aber Pressmar als ein furchterregendes Krustentier, das für eh und je in eine enge, todgeweihte Welt gebannt und obendrein nicht imstande war, ihre Reichtümer auszuschöpfen. Eines Tages aber war er mit ihm in der Sattlerei beisammen, hörte, wie er die Wahrheit über das Pferd vor ihm ausbreitete, und sah, wie dieser Überlebende einer anderen Zeit mit einem Mal gescheit und lebendig wurde und für das, was er sagen wollte, treffende, farbige Worte fand. Da änderte er seine Meinung über ihn. Auf einem hohen Schemel, die mageren Beine übereinandergeschlagen, mit einem Reitstiefel wippend, das Monokel ins Auge geklemmt, begann der Stallmeister Wilhelms II. mit dem grundlegenden Satz, Ross und Reiter seien nun einmal lebendige Wesen; keine Logik, keine bloße Technik könne deshalb die geheime Sympathie ersetzen, in der beide vereint sein müssten und die seitens des Reiters die eine Kardinaltugend voraussetze: reiterisches Fingerspitzengefühl.
Dann, nach einer Stille, die diese zwei Worte voll zur Geltung bringen sollte, knüpfte er daran Betrachtungen über die Dressur, die Tiffauges mit leidenschaftlichem Interesse mitanhörte, denn sie kreisten um das Gewicht des Reiters und dessen Rückwirkung auf die Gleichgewichtslage des Pferdes und hatten damit eine offensichtliche phorische Bedeutung.
»Die Dressur«, so fing Pressmar an, »ist ein unvergleichlich viel schöneres und geistvolleres Beginnen, als man gemeinhin glaubt. Im Wesentlichen bedeutet die Dressur, dass dem Tier der natürliche Gang und das natürliche Gleichgewicht wiedergegeben werden, die durch das Gewicht des Reiters gestört sind.
Vergleichen Sie zum Beispiel einmal die Dynamik des Pferdes und die des Hirsches. Dann sehen Sie, dass die ganze Kraft des Hirsches in seinen Schultern und in seinem Halsansatz steckt. Im Gegensatz dazu liegt die ganze Kraft des Pferdes in seinem Kreuz. Beim Pferd sind die Schultern schwach und unscheinbar, während beim Hirsch die Kruppe mager ist und zurücktritt. Übrigens stimmt dazu auch, dass die Waffe des Pferdes das Ausschlagen ist, das von der Kruppe ausgeht, während die Waffe des Hirsches der Stoß mit dem gegabelten Geweih ist, der ja vom Halsansatz ausgeht. Wenn der Hirsch zieht, dann zieht er sich vorwärts. Er hat Frontantrieb. Umgekehrt schiebt das Pferd sich mit der Kruppe von hinten her weiter. In Wahrheit ist das Pferd eine Kruppe mit ergänzenden Organen daran.
Was geschieht nun, wenn ein Reiter sein Pferd besteigt? Schauen Sie doch einmal seine Haltung an: Er sitzt viel näher an den Schultern des Pferdes als an der Kruppe. Tatsächlich werden zwei Drittel des Gewichts von den Schultern getragen, die, wie gesagt, schwach und leicht sind. Die hierdurch überladenen Schultern verkrampfen sich, und ihre Versteifung geht auf den Halsansatz, den Kopf, das Maul über – gerade das Maul, dessen Weichheit, Geschmeidigkeit und Empfindlichkeit den ganzen Wert eines Reitpferdes ausmachen. Der Reiter hat ein um sein Gleichgewicht gebrachtes, verkrampftes Tier in Händen, das seinen Hilfen nur noch obenhin gehorcht.
Hier setzt nun die Dressur ein. Sie bringt das Pferd nach und nach dazu, dass es das Gewicht des Reiters soweit wie möglich auf seine Kruppe verlagert, so die Schultern entlastet und sich zu diesem Zweck weit nach vorne ausgreifen lässt, kurz, dass es – ein Vergleich, den man nicht überbewerten darf – sich das Känguru zum Vorbild nimmt, bei dem das volle Gewicht auf den unteren Gliedmaßen ruht, die Vorderbeine aber unbelastet bleiben. Die Dressur sucht durch verschiedene Übungen zu erreichen, dass das Pferd das parasitische Gewicht des Reiters vergisst; sie will ihm dadurch, dass sie die Künstlichkeit bis zur Vollendung treibt, die Natürlichkeit wiedergeben. Sie bringt etwas Unstimmiges dadurch ins Lot, dass sie es in eine neue, sinnvolle Ordnung einbaut, innerhalb deren es wieder stimmt.
Reiten – also die Kunst, die Muskelkraft eines Pferdes nach seinem Willen zu lenken – heißt demnach vor allem, sich die Herrschaft über dessen Kruppe zu sichern, in der diese Kraft geballt ist. Die Flanken müssen unter dem leichtesten Fersendruck nachgeben, das massige Hinterteil muss jene kernig-zarte Biegsamkeit besitzen, die ihm Schnelligkeit gibt und damit auch für alles übrige entscheidend ist.«
Und aufrecht, sich in die Brust werfend, den Blick finster auf seine eigene – ach so knochige und unscheinbare! – Kruppe gerichtet, die krummen Beine an den Flanken eines imaginären Pferdes gepresst, schwenkte der Oberstallmeister in dem Raum auf und ab und ließ seine Reitpeitsche durch die Luft sausen.
So abstrakt und feinsinnig Pressmars Betrachtungen über den Gegensatz von Hirsch und Pferd waren, sie fanden doch auf den Suchritten und Treibjagden, an denen Tiffauges von jetzt an mit Blaubart teilnahm, eine bildhafte Bestätigung. Während Hunde – noch immer von Göring in Acht und Bann getan – völlig fehlten, schien es geradezu, als habe das Pferd mit der Zeit begriffen, was man von ihm erwartete: es witterte Hirschwechsel und spürte mit der Leidenschaft eines Schweißhundes Hirschfährten auf, als müssten die beiden entgegengesetzten Naturen einander unausweichlich bekämpfen.
Eines Abends verspätete er sich im goldenen Dunkel des Pferdestalles, aus dem der süßliche Geruch der Jauche aufstieg. Er sah zu, wie von Boxe zu Boxe die glänzenden Pferdekruppen wogten, er sah, wie sich Blaubarts Schweif von der Schwanzwurzel an leicht schräg in die Höhe hob und den After freigab, der mattgrau, klein, vorspringend, hart, hermetisch geschlossen und in der Mitte wie eine verschnürte Geldbörse gefältelt war. Und gleich darauf wuchs diese Börse mit der Geschwindigkeit einer in Zeitrafferaufnahme gefilmten Rosenknospe daraus hervor, stülpte sich wie ein Handschuh um und entfaltete nach außen einen feuchten, rosigen Blütenkelch; er sah, wie in dessen Mitte nagelneue, wunderbar geformte und glasierte Pferdeäpfel zum Vorschein kamen, die nacheinander ins Stroh rollten, ohne entzwei zu gehen. Eine derartige Vollkommenheit im Defäkationsakt schien Tiffauges die letzte und höchste Bestätigung der Theorien Pressmars. Ja, in der Kruppe ist das Pferd ganz und gar beschlossen; durch sie wird es zum Genius der Defäkation, zum Analen Engel, durch sie wird das Omega zum Schlüssel seines Wesens. Mit einem Mal konnte er sich nun auch die uralte Faszination erklären, die das Pferd auf den Menschen ausübt, und die Bildkraft verstehen, die in Ross und Reiter Gestalt gewinnt. Dem riesigen, schenkfreudigen Hinterteil des Pferdes pfropft der Reiter mit dickköpfiger Beharrlichkeit sein eigenes kleines, unergiebiges, kraftloses Hinterteil auf. Irgendwie hofft er, durch eine Art Ansteckung werde etwas von der Ausstrahlung des Analen Engels auch seine eigenen Exkremente mit Segen erfüllen. Doch sein Hoffen wird enttäuscht: Sie bleiben regellos launisch, bald hart und trocken, dann wieder schlammartig und nicht zu zügeln, doch stets ekelhaft. Nur durch ein vollkommenes Einswerden der Hinterhand des Pferdes und der des Menschen könnte dieser sich gerade die Organe zu eigen machen, die beim Pferd die Defäkation bewirken. Das ist der Sinn des Bildes vom Zentauren, das uns den Menschen mit Fleisch und Blut in den Analen Engel hineinverschmolzen zeigt und bei dem das Hinterteil des Reiters eins ist mit dem des Tieres und voll Freude seine duftenden goldenen Äpfel formt.
Die erstrangige Rolle des Pferdes bei der Hirschjagd aber – sie gewann ganz augenfälligen Sinn: die Verfolgung des Phallustragenden Engels durch den Analen Engel, das Jagen und Töten des Alpha durch das Omega. Und staunend sah Tiffauges schon wieder die wundersame Umkehrung am Werk: Sie machte in diesem mörderischen Spiel aus dem flüchtigen, dicksteißigen Tier ein aggressives, todbringendes Prinzip und aus dem König der Wälder mit seiner zu kapitalem Busch aufgeschossenen Männlichkeit eine gehetzte Beute, die bei jenem vergeblich um Gnade flehte.
Wegen der großen Offensive, durch die Stalingrad umfasst und genommen werden sollte, musste Erich Koch im September seine Jagd verschieben. Früher Frost machte dann dem allzu milden Herbst ein Ende, und bei den ersten Schneefällen dachte wohl jeder, das Leben dämmere wieder einmal in die Winterruhe hinüber. Da wurde als Jagdtermin Anfang Dezember festgesetzt; die Vorbereitungen wurden wiederaufgenommen. Sie mussten freilich unterbrochen werden, denn Göring, der wichtigste Festgast, wurde zu diesem Zeitpunkt nach Italien geschickt; er sollte versuchen, dem wankenden Verbündeten neuen Kampfgeist einzuflößen. Letzten Endes fand die große Hasenjagd des Gauleiters Erich Koch dann am 30. Januar statt.
Am 25. machte sich Tiffauges mit den ersten Kontingenten der fünfhundert berittenen Treiber auf den Weg. Sammelpunkt war das Städtchen Arys zwischen den masurischen Seen, etwa hundert Kilometer weiter südlich. Sie brauchten dorthin drei Tage. Zum Übernachten bei Leuten, die Ställe für die Pferde besaßen, hatten sie Quartierzettel bei sich. Tiffauges, von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, genoss es, dass er damit ein Zimmer bei Privatleuten requirieren konnte wie in besetztem Feindesland. War der Deutsche denn überhaupt noch der Sieger, war der Franzose noch der Gefangene? Er bezweifelte es, als er dröhnend auf dem Bürgersteig dahinstiefelte, wo Hausfrauen, unförmig in alte Sachen eingemummt, vor Läden mit leeren Schaufenstern Schlange standen. Bei Tisch wurde er zuvorkommend bedient, und er führte das große Wort; dabei umgab er alles, was seine Herkunft anging, mit einem durch seinen welschen Akzent und seine unbestreitbaren Beziehungen zu dem »Eisernen« vollends undurchdringlichen Geheimnis.
Aber der wahre Ursprung der neuen, jugendfrisch zupackenden Kraft, die in ihm brodelte, das war Blaubart, dieser brüderliche Riese, den er zwischen seinen Schenkeln leben und atmen fühlte, der ihn emporhob über Erde und Menschen. So manches Mal auf dem langen Ritt bis nach Masuren legte er sich, um sein Kreuz zu entspannen, hintenüber auf die Kruppe des Pferdes, sah den klaren, blassen Himmel in sanftem Wiegen über sich und spürte unter seinen Schulterblättern das Wogen der Muskeln in den kraftvoll arbeitenden Hinterbacken. Oder er beugte sich auch vornüber, schlang seine Arme um Blaubarts Hals und schmiegte seine Wange an die rabenschwarze, glänzende Mähne. Als er in einem Dorf, das von einem Jahrmarkt wimmelte, über den Platz ritt, blieb das Pferd plötzlich mitten in der dichtesten Menge stehen. Tiffauges spürte, wie sich unter ihm das Rückgrat wölbte und ihn in die Höhe stemmte, und hörte, wie ein Sturzbach auf dem Straßenbelag zerstob. Jauchebespritzt fuhren die Leute unter Lachen und Schimpfen auseinander; der Franzose aber, ungerührt inmitten des Honigdunstes, der zu ihm heraufdrang, hatte das berauschende Gefühl, er und niemand anderer habe sich wie ein König in seinem Reiche angesichts seiner Bauern durchlauchtigst erleichtert.
Die Rolle, die ihm im Ablauf der Jagd zugewiesen wurde, war weniger rühmlich. Die Treiber, die zu Fuß waren, kämmten das Unterholz und das hügelige Gelände durch. Logischerweise waren dann Ebene und Brachland den Reitern vorbehalten. Die so abgeriegelte Fläche betrug fast vierhundert Hektar und umfasste mehrere Seen. Vorgesehen war keine böhmische Streife – es wurde weder ein Hasengarn noch Bänder noch Netze verwendet–, sondern ein Kesseltreiben: Jäger und Treiber zogen jeweils alle drei Minuten zu zweien los, der eine nach rechts, der andere nach links, und steuerten auf zwei verschiedenen Wegen dem gleichen Punkt zu. So bildeten die Männer einen riesigen Halbkreis, dessen Endpunkte einander näher und näherkamen und sich am Ende zu einem Ring schlossen, der immer mehr verkleinert wurde. Auf ein bestimmtes Signal hin hörten die Jäger – weil sie einander zu nahekamen – auf, in den Kreis hineinzuschießen, und schossen nur noch nach außen.
Tiffauges hatte schon manches Gemetzel mitangesehen, doch dieses war das grausamste und eintönigste von allen. Die aufgescheuchten Hasen sausten wie der Blitz davon, aber wenn sie anderen in die Quere kamen, die in umgekehrter Richtung flüchteten, stockten sie, wussten nicht mehr aus und ein, schlugen sinnlos Haken hierhin und dorthin, und ihr von Natur aus so reizvoller gestreckter Lauf mit seiner ganzen Skala von Listen, Absprüngen, Haken und Widergängen ging in einer Panik unter, die durch das Geschieße ringsum noch gesteigert wurde. Das letzte Bild, das Tiffauges von diesem Tag mitnahm, war ein riesengroßer Teppich von hellbraunem und weißem Fell: aus zwölfhundert toten Hasen, die dicht nebeneinandergelegt die Strecke bildeten. Inmitten dieser pelzweichen Walstatt stand einsam Göring, der gekrönte Jagdkönig, auf dessen Konto allein zweihundert Hasen gingen, und posierte vor seinem Leibfotografen, den Bauch herausgestreckt, den Marschallsstab in der Rechten.
Am nächsten Morgen stand es schwarzumrandet in allen deutschen Zeitungen: Generalfeldmarschall Paulus hatte mit vierundzwanzig Generalen und mit den hunderttausend Überlebenden der 6. Armee in Stalingrad kapituliert.
Kraft seines Marschbefehls, der ihm für den Rückweg nach Rominten einen gewissen Spielraum ließ, wich Tiffauges von der direkten Strecke über Lyck und Treuburg seitlich ab und ritt nördlich durch jenes Masuren, das die kärgste und geschichtsträchtigste Gegend von ganz Ostpreußen ist. Auf dieser trostlosen Heide, zerrissen von Kolken, an denen magere Erlenbüschel kümmerten, da und dort leicht hügelig durch Findlingsblöcke, unter denen die Sudauer, die letzten gegen das Eindringen der Deutschen kämpfenden Slawen, ihre Toten begruben – auf diesem Lande schien noch immer lastend der Fluch der Schlachten zu liegen, die es ein Jahrtausend hindurch mit Blut getränkt hatten. Von dem letzten Widerstand des alten Stardo gegen die Deutschordensritter in ihren weißen Mänteln mit dem schwarzen Kreuz oder auch von der ersten Schlacht bei Tannenberg, in der Jagiello den Orden zermalmte, bis zu Hindenburgs Sieg über Rennenkampfs Soldaten war diese Erde nichts als ein weites Gräberfeld übersät mit Festungstrümmern und kampfzerfetzten Fahnen.
Er überquerte die schmale Landzunge, die den Spirdingsee vom Tirklosee trennt, und ritt weiter bis zu dem Dorf Drosselwalde. Ein starkes, freudiges Vorgefühl trug ihn voran und gab ihm die Gewissheit, am Ende seines Weges liege ein unbekanntes, doch für ihn wichtiges, ja entscheidendes Ziel. Seit Stalingrad erschütterte wieder das dumpfe Schnauben der großen Geschichtsmaschine den Boden bis in seine Grundfesten. Tiffauges fühlte sich bei der Hand genommen, einem Befehl unterstellt, und er gehorchte in dunklem Glücksgefühl. Er ritt durch einen Weiler mit dem herrlich-unheimlichen Namen Schlangenfließ, und dann traf es ihn wie ein Schlag.
Auf einem Hügel aus Moränenschutt, der in diesem flachen Land ungeheuer hoch schien, ragte die wuchtige, eckige Silhouette von Kaltenborn empor. Von Schlangenfließ kommend, hatte Tiffauges lediglich den Blick auf die Südseite der Feste, die eine von Steilhängen gesäumte Bergnase krönte. Die Ringmauer folgte dem Grundriss des Hügels und lief gleich einem Schiffsbug in einen gewaltigen Turm aus, ein hohes, rundum mit Pechnasen versehenes Bauwerk aus rostroten Steinen, das nach dem Steilabfall hin den Grat eines kräftigen Stützpfeilers aufwies. Hinter der Mauer jedoch, die in regelmäßigen Abständen von massigen Strebepfeilern flankiert und von weit vorspringenden Türmen gegliedert war, gewahrte er ein Durcheinander von Dachreitern, Söllern, Kaminen, Giebeln, Türmchen, Terrassen, Wetterfahnen und Dachfirsten, denen eine Fülle von Standarten und Bannern ein lebendiges, siegesfrohes Aussehen gab. Er hatte die herbe, erregende Gewissheit, dass sich hinter diesen hohen Mauern zusammengedrängt ein wohlgeordnetes Leben verbarg, das von der Außenwelt abgeschlossen war und daher umso intensiver sein musste. Er trieb sein Pferd vorwärts auf den Weg, der in Serpentinen zum Schloss hinaufführte. Der Nordfassade, die oben für ihn sichtbar wurde, war als Glacis ein weiter, freier Platz vorgelagert; ein alter Mann, der eine Mütze mit Ohrenklappen trug, fegte dort den Schnee weg. Die schmalen Schießscharten, die in regelmäßigen Abständen in der Ummauerung klafften, vermochten deren abweisende Eintönigkeit nicht aufzulockern, ebenso wenig wie die beiden runden Türme mit ihren stumpfkegeligen Dächern, die mit ihrer Wucht den engen, fallgitterbewehrten Eingang geradezu erdrückten. Eine grimmige Zwingburg also ohne jeden Reiz, in rötlich-schwarzen Tönen, eine Kriegswaffe, entworfen und gebaut von Menschen, die für Freude, für Schönheit nichts übrighatten. In krassem Gegensatz zu diesem ersten ungeschlachten und bedrückenden Anblick bestätigte das Innere jene frohe, jugendliche Kraft, deren helles Lodern Tiffauges in dem alten Gemäuer zu spüren geglaubt hatte. Dächer aus buntglasierten Ziegeln neigten sich über Terrassen, auf denen moderne Waffen blinkten, ein Wald von Hakenkreuzfahnen knatterte im Nordwind, und für Augenblicke erhaschte das Ohr mitunter auch den Klangfetzen einer Fanfare oder den Hall eines Liedes.
Tiffauges wechselte einige Worte mit dem Mann, der beim Schneekehren war, dann bat er ihn, auf Blaubart aufzupassen, band das Tier an einen Baum, und da er nicht hineindurfte, suchte er am Fuß der Mauern entlang wenigstens bis zu dem Stützpfeiler des großen Turmes zu kommen, den er bereits von unten gesehen hatte. Es war kein leichter Spaziergang; zwar schlängelte sich ein schmaler Pfad am Festungsring hin, doch war er häufig von Fels- oder Mauervorsprüngen unterbrochen, und dann blieb nichts anderes übrig, als den Abhang hinunterzusteigen und nach Umgehung des Hindernisses wieder hinaufzuklettern. Was er da eigentlich wollte, hätte Tiffauges nicht genau sagen können; nur dass er auf eine Bestätigung, Bekräftigung, Beglaubigung warte, auf etwas, das wie die Signatur des Schicksals sein und wie ein Siegel, das bezeugen sollte, dass Kaltenborn ihm, Tiffauges, bestimmt war. Was er suchte, fand er am Fundament des Stützpfeilers unterhalb des großen Turmes; aber um dorthin zu kommen, musste er sich durch ein Dickicht aus Brombeeren, Holunder, Schneeball und Steinbrech winden, das von der steinernen Wand herab von Efeu überrankt und dadurch fast undurchdringlich war. Doch das war nicht alles: Unten an dem scharfen Grat des Stützpfeilers musste er noch mit beiden Händen den weichen Schnee wegräumen, der sich dort angesammelt hatte. Nach und nach tauchte vor seinen Augen Kaltenborns Antwort auf: An dieser Stelle war der Stützpfeiler nischenartig hohl, und das vorragende Mauerwerk ruhte auf den Schultern eines Atlas aus Bronze. Verzerrten Gesichts, unter der erdrückenden Last ganz krumm, hockte der schwarze Koloss da, die Knie bis zum Bart angezogen, den Nacken rechtwinklig gebeugt, die Arme über sich in den Stein eingelassen. Die Darstellung war mäßig; sie verriet den protzig-akademischen Stil des letzten deutschen Kaisers. Bestimmt war die Figur erst in neuerer Zeit unterhalb des großen Turms eingefügt worden; sie schien ihn und damit zugleich die ganze Festung zu tragen. Doch dass sie unter Pflanzenwuchs und Schnee begraben und von ihm, Tiffauges, ausgegraben worden war, bewies in den Augen des Franzosen zur Genüge, dass der Titan nur seinetwegen an der Bergflanke von Kaltenborn eingemauert worden war.
Wieder unten in Schlangenfließ angekommen, setzte er sich im Dorfgasthaus, an dem das Schild Zu den Drei Schwertern hing, an einen Tisch; dort vervollständigte er mithilfe des Wirtes bei einem Krug Bier sein Wissen über das Schloss und dessen Besitzer.
Es war der Stolz jedes ostpreußischen Adelsgeschlechts, wenn er seinen Stamm auf die Deutschordensritter zurückführen konnte, die aus der Hand des Kaisers Friedrich II. und des Papstes Gregor IX. diese ferne heidnische Provinz zu Lehen empfangen hatten und sie zum christlichen Glauben bekehren sollten. Dieses genealogische Unterfangen, dem sich jede Junkerfamilie mit Andacht hingab, erhielt seine besondere Würze durch die Tatsache, dass die Deutschordensritter den Mönchsgelübden, also auch dem der Keuschheit unterworfen waren und daher logischerweise keine Abkömmlinge haben konnten. Doch die Grafen von Kaltenborn wollten noch höher hinaus, denn sie behaupteten, von den Schwertbrüdern abzustammen, noch früheren und noch kühneren Eroberern, als es die Deutschordensritter waren. Im Kampf gegen die livländischen Heiden im Jahre 1202 von Albert von Buxhoeveden oder von Appeldern, bremischem Domherrn und Bischof von Riga, als geistlicher Ritterorden gestiftet, trugen die Schwertbrüder als Ordenszeichen ein rotes Schwert und Kreuz auf weißem Mantel. Die Brüder der Ritterschaft Christi in Livland – wie sie auch hießen – eroberten dreißig Jahre vor dem Erscheinen der Deutschordensritter in Ostpreußen schon Livland, Kurland und Estland. Doch dann, von pausenlosem Kampf gegen Litauer und Russen ausgeblutet, sandten sie zum Deutschen Orden und begehrten den Zusammenschluss mit ihm. Dieser wurde 1237 vom Papst in Gegenwart des Hochmeisters des Deutschen Ordens, Hermann von Salza, feierlich eingesegnet. Obzwar die Schwertbrüder ein selbständiger Ritterorden blieben und ihren Landmeister für Livland beibehielten, teilten sie fortan das Schicksal der Deutschordensritter; im Innern freilich hielten sie insgeheim weiterhin das Wissen wach, eine noch ehrwürdigere, noch ruhmreichere Vergangenheit zu haben. Die Wappenzier von Burg Kaltenborn erinnerte in klassischer Schlichtheit an die beiden brüderlich verbundenen Orden. Und wirklich führten die Grafen von Kaltenborn als Wappen auf Silber ein schwarzes Schildhaupt, das Ganze belegt mit drei pfahlweis gestellten roten Schwertern. Die drei roten Schwerter auf weißem Grund gemahnten an die Vereinigung der Schwerter des Schwertbrüderordens mit denen der Deutschordensritter. Der schwarze Streifen, der sich oben über den Schild zog, ergänzte Weiß und Rot durch die dritte Farbe der ehemaligen kaiserlichen Flagge. Was die drei Schwerter anging, die übrigens ja – wie der Wirt geschickt einflocht – als Schild an seinem Hause prangten, so konnte man die auch übergroß, die Spitze himmelan, in die Brüstung der großen Burgterrasse eingelassen finden, der Terrasse nämlich, die den Atlas-Turm krönte und nach Osten hin freilag.
Die Burg selbst – eine der stolzesten ganz Ostpreußens – schien zu Beginn dieses Jahrhunderts zum Abbruch verurteilt, trotz aller Bemühungen der Grafen, die weiterhin darin wohnen blieben und nach besten Kräften die Löcher ausbesserten, die die Jahre in die Flanken des alten Schiffes rissen. Die Rettung war dann Wilhelm II., der zur Hochwildjagd gern in diese Gegend kam. Der Kaiser hatte im Jahre 1900 die Hohkönigsburg bei Schlettstatt als Trutzmal gegen den Erbfeind im Westen wiederherrichten lassen; er fand, auch den östlichen Markstein seines Reiches gegenüber dem slawischen Landräuber müsse eine Feste bilden, die seines Kaisertums würdig sei. Die Restaurierungsarbeiten wurden erst kurz vor dem Weltkrieg abgeschlossen; sie wurden von Historikern als viel zu weitgehend beurteilt, ebenso wie die früheren, die aus der Hohkönigsburg ein riesiges, piekfeines, nagelneues Modell ihrer selbst gemacht hatten. Allerdings leidet die Deutschordensarchitektur durch die verstiegenen Einfälle moderner Restauratoren nicht ganz so sehr, weil die reisigen Ritter, von denen sie einst geschaffen wurde, die Erinnerungen an ihre Fahrten und ihre mystischen Träume hineinverwoben; nicht selten sieht man am gleichen Gebäude nebeneinander sarazenische, venezianische und deutsche Stilelemente.
Die schöne neue Feste Kaltenborn sollte das Augenmerk eines SA-Führers, Joachim Haupt, auf sich ziehen, der sich seit 1933 mit der Gründung von halbmilitärischen Schulen nach dem Muster der berühmten kaiserlichen Kadettenanstalt Plön befasst hatte; aus ihnen sollte die Elite des künftigen Dritten Reiches hervorgehen. Die »Napolas« – Nationalpolitische Erziehungsanstalten – wurden im Allgemeinen in Schlössern oder in beschlagnahmten Klöstern eingerichtet; sie mehrten sich von Jahr zu Jahr, obwohl Haupt im Zusammenhang mit der »Nacht der langen Messer«, dem 30. Juni 1934, und mit der Entmachtung der SA in Ungnade fiel. Haupts Werk wurde übernommen und fortgeführt von Obergruppenführer August Heißmeyer, einem hohen Amtsträger der SS, der die Oberhoheit Himmlers und seiner Leute über die bestehenden vierzig Napolas besiegelte. Die Napola Kaltenborn stand theoretisch unter dem Befehl des Generals Graf von Kaltenborn; er war der Letzte seines Geschlechts und bewohnte einen Flügel des Schlosses. In Wirklichkeit war er ein alter Mann, in der Tradition des Preußentums verwurzelt und darum wenig anfällig gegenüber Lockungen der vom Dritten Reich geschaffenen neuen Ordnung – er beharrte auf seinen Zweifeln, dass aus Bayern und Österreich je für Preußen etwas Gutes kommen könne –, und seine privaten Interessen, die historischen und heraldischen Forschungen galten, hinderten ihn, die Leitung der Schule auch tatsächlich auszuüben. So war dem General mit Rücksicht auf seine Herkunft und um ihm einen Platz in seinem eigenen Schloss zu erhalten, zwar der Titel eines Kommandeurs der Napola verliehen worden; insgesamt gesehen lag jedoch praktisch die Leitung ganz in der Hand des SS-Sturmbannführers Stefan Raufeisen, und diese Hand hielt die dreißig militärischen Ausbilder, die fünfzig Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade und die vierhundert Jungen, die in Kaltenborn lebten, unterschiedslos in strenger Zucht.
Nach seiner Rückkehr in die Rominter Heide sprach Tiffauges bei dem Oberforstmeister beiläufig von der Burg Kaltenborn, die ihn so tief beeindruckt hatte. So erfuhr er, dass General Graf von Kaltenborn bei der großen Jagd des Gauleiters Erich Koch dabei gewesen war; trotz aller genauen Einzelheiten, die der Oberforstmeister ihm angab, konnte er ihn aber in seiner Erinnerung nicht finden. Darüber war er betroffen, als wäre es ein Unglück, und von diesem Augenblick an erfüllte er zwar weiter gewissenhaft die ihm obliegenden Aufgaben, aber sein Geist, sein Herz waren anderswo, sie flogen hinüber nach Masuren und kreisten um jene hohen Mauern, in deren Haft das Leben überschäumte und sang.
Ein vorzeitiger Frühling hüllte alles mild in seine berauschende Süße, als Tiffauges im April wie jeden Monat zum Rathaus nach Goldap ging, um seinen Ausweis erneuern zu lassen. Er fühlte sich wohlig müde wie das frische junge, gänseblümchengestirnte Gras, wie die lauen Lüfte, die um die Birken- und Haselnussblüten strichen und aus den Tannenzweigen safrangelbe Pollen aufwirbelten. Und er weinte fast vor zärtlicher Rührung, als er sah, wie ein Spatz im warmen Straßenstaub sein Bad nahm und wie zwei kleine Schuljungen einander unter lautem Gelächter mit dem Schulranzen anrempelten, den sie wie ein Schneckenhaus auf dem Rücken hatten. Der Himmel war voll Gepiepse, und es war, als piepse es in dem gestrengen Bau des Rathauses weiter, in dem es an diesem Morgen ungewohnt lebhaft zuging. Gleich am Eingang schon fielen einem die bronzenen Kleiderhaken in der Garderobe auf, denn auf ihnen hing ein ganzes Schaufenster voll bunter Kapuzen, Mäntelchen, Umschlagtücher und Fäustlinge, und alles wurde am Boden noch betont durch ein Gewirr von Holzschuhen, Galoschen und Stiefelchen in Kindergröße – als wären alle Rotkäppchen der ostpreußischen Wälder zu einer Tagung im Rathaus zusammengekommen. Vorwärtsgelockt durch einen köstlichen, frühlingsfrischen Duft, der etwas von Pfeffer und etwas von Samen an sich hatte, stieg Tiffauges die breite Treppe empor, die zum Trauungssaal führte. Vor einer pompösen geschnitzten Eichentür blieb er stehen: Ja, hier war es. Er hörte etwas wie ein Vogelhausgezwitscher, und die zarten Düfte hüllten ihn bedrängend ein. Er drückte die schwere kupferne Klinke nieder und trat ein.
Was er sah, warf ihn schier um vor Staunen, und er musste sich mit der Schulter an die Türverkleidung lehnen: Ein dichtes Gewimmel splitternackter kleiner Mädchen erhellte fröhlich den dunkeleichen getäfelten riesengroßen Saal. Manche waren schmächtig, nur Haut und Knochen, andere waren wohlgenährt und rosig wie Spanferkelchen; es gab große, hochaufgeschossene und Dickerchen, rund wie pausbackige Engel, und das Einzige, was sie als Kleidung an ihrem kleinen, unreifen, kieselsteinglatten Leib trugen, das war ihr Haar: zu Flechten gewunden, zu Zöpfen geflochten, zu Schnecken gedreht oder aber lose und offen zwischen ihre zarten Schultern herabfallend. Tiffauges’ Eintreten war unbemerkt geblieben, und er drückte sachte die Tür hinter sich ins Schloss, um wieder die Dichte der Atmosphäre herzustellen, die nur durch völlig hermetische Abschließung gegeben war. Er schloss halb die Augen und sog gierig die Lungen mit dem köstlichen Aroma voll, hinter dem er schon seit dem frühen Morgen her war, das er aber hier nun so rein, wie es entstand, in die Nase bekam. Und ohne sein Zutun reckten sich seine großen Hände weit ausgebreitet in den Raum, als wollten sie dieses ganze so warm herumwirbelnde junge Gemüse in sich fassen und mitnehmen.
»Sie haben hier nichts verloren. Verschwinden Sie, aber gleich!« Eine Germania mit strengen, regelmäßigen Zügen, in eine makellos weiße Schwesternbluse gezwängt, erdolchte ihn mit ihrem Blick. Er wich zurück, öffnete die Tür und trat betrübt den Rückzug an.
»Wieso kommen Sie überhaupt hier herein?«
»Der Duft«, stammelte er. »Ich hab nicht gewusst, dass das Fleisch kleiner Mädchen nach Maiglöckchen riecht …«
Von dem Beamten, der seinen Ausweis abstempelte, erfuhr er den Grund für diese bezaubernde Versammlung: Jedes Jahr am 19. April mussten alle Zehnjährigen, bevor sie in die Hitlerjugend aufgenommen wurden, zur Musterung erscheinen.
»Die kleinen Jungen«, fügte er hinzu, »die sind dort über dem Platz drüben im Stadttheater.«
»Aber weshalb denn gerade am 19. April?«, fragte Tiffauges unentwegt weiter.
Der gute Mann sah ihn ungläubig an.
»Ja wissen Sie denn nicht, dass am 20. der Geburtstag unseres Führers ist? Jedes Jahr schenkt ihm das deutsche Volk eine neue Generation Kinder zum Geburtstag!«, schloss er begeistert und wies mit dem Finger auf das große, bunte Porträt Adolf Hitlers, das über ihm die Stirne runzelte.
Als Tiffauges sich wieder auf den Heimweg nach Rominten machte, war in seinen Augen der Reichsjägermeister mit seinen Jagden und Metzeleien, seinen Wildbretgelagen und seinen koprologischen und phallologischen Kenntnissen auf die Stufe eines kleinen, volkstümlichen Ogers aus einem Ammenmärchen herabgesunken. Er stand völlig im Schatten des anderen, des Ogers von Rastenburg, denn der forderte von seinen Untertanen als umfassendes Geburtstagsgeschenk fünfhunderttausend zehnjährige Mädchen und fünfhunderttausend zehnjährige Knaben in ritueller Opferkleidung, das heißt nackt, und machte daraus sein Kanonenfutter.
Seit Stalingrad und seit Goebbels’ Rede im Sportpalast, in der er die ganze Bevölkerung zum fanatischen Einsatz im totalen Krieg aufgerufen hatte, war die Stimmung in der Rominter Heide gedrückter geworden. Neue Gestellungsbefehle hatten Lücken gerissen. Immer weniger dachte man an Jagd- und Tafelfreuden, immer mehr an das große Ringen, das im Osten glühte, und man war nicht mehr sicher, davon verschont zu bleiben. Die Luftangriffe wurden langsam beunruhigend, und da der Panzerzug mehr Schutz bot als der Jägerhof, der keinen Luftschutzbunker besaß, wurden Görings Besuche in Rominten spärlicher.
Der Oberforstmeister teilte Tiffauges eines Tages mit, das Personal müsse bis aufs Äußerste verringert werden, er müsse ihn deshalb zum Arbeitseinatz wieder an das Stammlager Moorhof überstellen. Wenn er aber einen Wunsch habe, könne die Tatsache, dass der zweitmächtigste Mann im Reich in der Nähe sei, sicherlich zu seiner Erfüllung beitragen. Da dachte Tiffauges an die Jagd im Januar, bei der auch General Graf von Kaltenborn unter den Gästen gewesen war, an seinen kurzen Abstecher zur Burg auf dem Heimweg und er fragte, ob er nicht als Fahrer oder Stallknecht an die Napola abkommandiert werden könne. Der Oberforstmeister war überrascht, dass sein stets so wortkarges und so fügsames Faktotum auf einmal so präzise Wünsche äußerte.
»Wenn ich an die letzten Einberufungen denke«, sagte er, »so sollte es mich wundern, wenn die Leitung der Napola nicht gern diese Gelegenheit benutzte, um eine vom Reichsmarschall empfohlene Kraft zu bekommen, die obendrein nicht einmal zum Wehrdienst eingezogen werden kann! Das werde ich telefonisch regeln.«
Vierzehn Tage später hatte Tiffauges seinen Marschbefehl nach Kaltenborn. Er verließ Rominten mit Blaubart, der ebenfalls der Napola zugeteilt worden war.