VI. Astrophorus

Und zur Mitternacht schlug der Herr alle Erstgeburt im Lande Ägypten.

Exodus XII, 29

Die letzten Kämpfe des Jahres 1944 in Ostpreußen galten der Stadt Goldap, etwa hundert Kilometer nordöstlich von Kaltenborn. Am 22. Oktober wurde sie von den Truppen der 3. Weißrussischen Front unter General Tschernjakowski Haus um Haus genommen, jedoch schon am 3. November durch einen Gegenangriff des 29. Panzerkorps unter General Decker zurückerobert. Die Kampfpause bis zu der erneuten sowjetischen Offensive, die dann am 13. Januar 1945 einsetzte, ließ der Bevölkerung Zeit, die Gefahr, die ihr drohte, voll zu ermessen und den Wert der Beteuerungen, mit denen die NS-Regierung so großzügig war, richtig einzuschätzen. Wer ein Vordringen der Roten Armee nach Ostpreußen auch nur für möglich hielt, machte sich ja schon des Verbrechens der Wehrkraftzersetzung und des Landesverrats schuldig. Der lange Zug der Flüchtlinge aus dem Osten, den die Sowjets vor sich hertrieben – zuerst weißrussische, dann litauische Bauern, die Bevölkerung des Memellandes und schließlich die ersten Deutschen aus Ostpreußen –, durfte von den deutschen Zivilisten keinesfalls als Alarmsignal aufgefasst werden. Auf Dorfplätzen und in den Parkanlagen der Städte sah man Bürger, die überführt waren, Fluchtvorbereitungen getroffen zu haben, an Stricken baumeln. Dementsprechend traf die Rote Armee in den Gebieten, die von der Wehrmacht geräumt wurden, die Zivilbevölkerung in fassungsloser Bestürzung an. Sowjetische Soldaten berichteten, wie sie auf Bauernhöfe kamen und alles Vieh in den Ställen und eine brodelnde Suppe auf dem Herd vorfanden. Auf den wenigen engen Straßen des Landes, in der eisigen Kälte, mischte sich ein wildes Durcheinander von Flüchtlingen aller Nationalitäten, die nach Westen strebten, mit den Wehrmachtstransporten, die an die Front oder von dort zu den rückwärtigen Stellen gingen.

Obschon Tiffauges vom äußeren Geschehen großenteils unberührt blieb, war er zweimal Zeuge dieses jammervollen Exodus. Das eine Mal kurz vor Weihnachten 1944 auf der Straße von Arys nach Lyck. Während eine Wehrmachtskolonne sich langsam auf Lyck zubewegte, schien der Flüchtlingstreck in umgekehrter Richtung von der Kälte gelähmt. Bei Arys musste es zu einer Verstopfung gekommen sein, und es sah aus, als lösten sich die einzelnen Fuhren unter der Einwirkung des regungslosen Stehens auf, denn die Männer nutzten den Aufenthalt, um das Geschirr der Pferde und die Befestigung der Gepäckballen nachzusehen, indes die Kinder sich am Straßenrain und im angrenzenden Gehölz vergnügten. Tiffauges ritt in kurzem Galopp die Reihen entlang in Richtung Arys und gelangte nach anderthalb Kilometern an den Ausgangspunkt der Stockung; er konnte ihn schon von weitem an einer Gruppe von Soldaten und Zivilisten erkennen, die sich um zwei ineinander verkeilte Wagen zu schaffen machten. Ein Wehrmachtsgespann war auf einer kurzen Gefällstrecke ins Rutschen geraten und hatte einen Bauernkarren so unglücklich gerammt, dass die Deichsel des Karrens sich wie ein Spieß in die Brust des einen Militärpferdes gebohrt hatte. Das Tier in seinem Todeskampf war auf die Knie gefallen; rechts wurde es vom Nachbarpferd, links von dem Pferd des Bauernkarrens noch aufrecht gehalten – und beide schlugen aus und bäumten sich, um aus dem Wirrwarr freizukommen.

Tiffauges war vom Anblick dieses Exodus tief beeindruckt. Er dachte an den Exodus der Franzosen im Juni 1940, der sich daneben wie eine Lustfahrt nach Kythera ausnahm – und er sprach bei sich das Gebet der Heiligen Schrift: Bittet, dass eure Flucht nicht in den Winter falle. Das Bild des Pferdes mit dem Pfahl in der Brust prägte sich ihm unauslöschlich ein, denn er ahnte darin ein – leider nicht zu deutendes – Symbol oder vielmehr eine unbekannte heraldische Figur, die zum Wappen von Kaltenborn in enger Beziehung stehen musste. Was er jedoch sah, als die Flüchtlingskolonne sich wieder in Bewegung setzte – das war ganz ohne symbolischen Nimbus, war nichts als nacktes Entsetzen: ein Toter, in die vereiste Straße eingefroren, tausend und abertausendmal zerquetscht, plattgedrückt, zerrieben von Panzerketten, Lastwagenreifen, Fuhrwerksrädern oder einfach von hämmernden Stiefeln, sodass er nicht mehr dicker war als ein Teppich – ein grob nach dem Umriss eines Menschen geschnittener Teppich, in dem man vage ein Profil, ein Auge und Haarsträhnen unterscheiden konnte.

Einige Tage später sollte ihm auf der Straße von Lötzen nach Rhein etwas widerfahren, das ihn innerlich noch mehr aufwühlte. Er sah sie schon von Weitem kommen, all die Gefangenen: Ein Halstuch ums Gesicht, eine Militärmütze auf dem Kopf, die Füße mit wollenen Lappen oder Zeitungspapier umwickelt und wie Stiefel verschnürt, zogen sie an einem Strick ihre Blech- oder Pappkoffer hinter sich her, die sie auf kleine Holzkufen gesetzt und so in Schlitten verwandelt hatten. Es waren Hunderte, vielleicht waren es tausend, und sie waren gar nicht stumm und in sich gekehrt wie die übrigen Flüchtlinge, sondern schwatzten und scherzten, und an ihren Hüften baumelten prall mit Proviant gefüllte Brotbeutel. Kaum waren sie auf einer Höhe mit ihm, wusste Tiffauges, mit wem er es zu tun hatte, und doch traf ihn der erste französische Satz, den er hörte, schmerzhaft wie ein scharfer Dorn. Er öffnete den Mund, wollte sie grüßen, sie ausfragen, doch eine Beklommenheit, die fast wie Scham war, schnürte ihm die Kehle zu. Und mit einer Wehmut, die ihn selbst überraschte, kamen ihm Ernest der Fahrer, Mimile aus Maubeuge, Phiphi aus Pantin, Sokrates und vor allem Victor der Irre wieder in den Sinn. Eigentlich hinderte ihn nichts, sich diesen Leuten anzuschließen, die fröhlich in Richtung Frankreich marschierten und sich darauf einließen, mitten im Winter in Stiefeln aus Lumpen und Papier fast zweitausend Kilometer weit ein kriegszerwühltes Land zu durchqueren … Er blickte hinab auf seine eigenen Stiefel, diese schönen, schwarzen, geschmeidigen, ihm als dem Herrn über Kaltenborn zukommenden Stiefel, die er noch am Morgen eigenhändig gewichst und glänzend gebürstet hatte. Die Gefangenen zogen jetzt an ihm vorbei; sie hielten ihn für einen Deutschen und dämpften die Stimme – mit Ausnahme eines Kleinen, Schwarzen, der Phiphi glich und der Tiffauges im Vorbeigehen zurief: »Fritz kaputt! Sowjetski partout, überall!« Diese Pariser Schnoddrigkeit, die schon bei solch flüchtiger Berührung mit den Seinen in Erscheinung trat, brachte Tiffauges plötzlich wieder die unüberwindliche Kluft zum Bewusstsein, die ihn – plump, wortkarg und schwerblütig – stets von dem munteren Völkchen seiner Kameraden getrennt hatte. Er wendete Blaubart, der seine Ungeduld durch lautes Schnauben kundtat, und ritt die Straße zurück nach Kaltenborn. Er hatte diese Begegnung bald vergessen, denn er gehörte jetzt nur noch Ostpreußen, diesem Land, das ringsum zusammenbrach; doch bis er wieder im Schloss war, verfolgte ihn das Bild des Erlkönigs, wie er im Moor ruht, unter einer schweren Schlammschicht geborgen vor aller Unbill der Menschen und der Zeit.

S. A. Heute früh in Gumbinnen gewesen. Vor dem Laden des Schusters stand eine Schlange von Frauen und alten Männern, alle ein Stück von einem alten Reifen in der Hand. In der Werkstatt zieht dann jeder die Schuhe aus und wartet, dass der Schuster statt einer neuen Sohle den abgenutzten Gummi auf das altersschwache Schuhwerk nagelt …

Mit Angst und Entzücken erlebe ich, wie die deutsche Nation immer wehrloser wird, je mehr meine Macht wächst. Die Kleinkinder sind ins Hinterland verschickt worden. Die großen wurden als Flakhelfer einberufen. Eine Schule nach der anderen muss deshalb schließen. Nur in den Kreisstädten ist noch ein Postamt in Betrieb, und wenn man einen Brief oder ein Paket aufgeben will, muss man kilometerweit laufen. Auf den Rathäusern vertritt ein alter Mann Bürgermeister, Beigeordneten und Ratsschreiber, und er erledigt nur noch die dringendsten Geschäfte; darunter sind – außer der Verteilung der Lebensmittelkarten und der Benachrichtigung der Familie vom Heldentod eines Angehörigen – laut Anweisung des Gauleiters auch Eheschließungen zu verstehen. Das Großdeutsche Reich will auch im Zusammenbruch seinen Nachwuchs nur legal kriegen! In hundert Kilometer Umkreis gibt es keinen einzigen Arzt mehr.

Zuweilen hört man die Leute klagen, das Leben werde immer komplizierter. In Wahrheit wird es immer einfacher, doch je einfacher es wird, desto härter und strenger wird es auch. Jeder Kreis des modernen Lebens – Verwaltung, Handel und so weiter – hatte stoßdämpfend gewirkt wie eine kleine Feder und die Reibung zwischen Menschen und Dingen gemildert. Jetzt sieht sich die Bevölkerung mehr und mehr der rauen Wirklichkeit gegenüber.

Nun, da dieses Land in sich zusammenstürzt, wächst es mir immer mehr ans Herz. Ich sehe, wie es mir zu Füßen fällt, nackt, kraftlos, zerschlagen, der äußersten Armut ausgeliefert. Wankend stellt es, so möchte man sagen, seine Fundamente zur Schau, die zuvor in der Erde verborgen waren, nun aber mit einem Mal offen zutage liegen. Es ist wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist und, unversehens der dunklen, schützenden Nähe des Bodens beraubt, mit seinen sechs Beinen um den blanken, weichen Bauch in der Luft herumrudert. Man glaubt den Geruch zu spüren, mit dem der fahle Bauch der umgestürzten Nation gesättigt ist, einen Geruch nach feuchter Erde und lebendig Verwesendem. Hier ruht Ostpreußens großer wehrloser Leib, immer noch lebenswarm, aber seine verwundbaren Weichteile sind unter meinen Stiefeln. Soweit musste es kommen, bis endlich dieses Land und seine Kinder meiner herrischen Zärtlichkeit zu Willen sind.

Raufeisen war acht Tage verschwunden. Eines Abends kam er an der Spitze einer Gruppe von Wehrmachtslastwagen wieder, aus denen im Schlosshof dreitausend Panzerfäuste und zwölfhundert Panzersperrminen ausgeladen wurden. Die Panzerfäuste, kleine, vom einzelnen Soldaten mitgeführte, trotz ihres geringen Gewichts und ihrer einfachen Bauweise außerordentlich wirkungsvolle Raketenabschussrohre, waren als die ideale Waffe des Einzelkämpfers im Hinterland gegen die Panzerfahrzeuge des eingedrungenen Feindes gerade rechtzeitig aufgekommen. Wenn das Hohlladungsgeschoss detonierte, schleuderte es einen Strahl glühender Gase und einen Kern aus geschmolzenem Metall mit Geschwindigkeiten von einigen tausend Metern pro Sekunde und Temperaturen von mehreren tausend Grad gegen die Panzerung. Durch das Sprengloch schoss flüssiges Metall ins Panzerinnere, verwundete oder tötete die Besatzung und entzündete die im Bedienungsstand verteilten Fett- und Treibstoffdämpfe. Allerdings hatte die Panzerfaust eine Reichweite von nur achtzig Metern, und die Ausbilder betonten mit Nachdruck die Notwendigkeit, das Zielobjekt so nahe herankommen zu lassen, wie es der Mut des Schützen irgend erlaubte. Fünfzehn Meter, so erklärten sie immer wieder, sei die beste Schussentfernung, doch war das auch eine heldenhaft-tollkühne Entfernung; sie erforderte angesichts eines schweren Panzers eine Kaltblütigkeit, die an Ahnungslosigkeit grenzte.

Während des theoretischen Unterrichts in einem Raum des Schlosses, in dem eine Wandtafel aufgestellt worden war, bemühte sich deshalb Raufeisen, das gepanzerte Ungetüm in der Vorstellung der Jungen zu verharmlosen.

»Der Panzer ist taub und halb blind«, hämmerte er ihnen ein. »Ihr hört ihn, er hört nichts. Durch den Lärm des Motors kann die Besatzung innen nicht einmal unterscheiden, womit und woher geschossen wird: mit automatischen Waffen, Artillerie, aus der Luft.

Der Panzer sieht schlecht. Seine Zieleinrichtungen weisen tote Winkel von beträchtlicher Größe auf, in denen vor allem seine unmittelbare Umgebung liegt. Die Erschütterung beim Fahren macht das Beobachten noch schwieriger. Nachts muss er mit aufgeklappter Turmluke und mit offenen Sehschlitzen fahren.

Der Panzer kann weder nach allen Seiten zugleich noch auf seine unmittelbare Umgebung schießen. Da die toten Winkel zu den dreißig Sekunden hinzukommen, die der Turm für eine volle Drehung braucht, kann ein entschlossener Infanterist vorgehen, ohne etwas zu riskieren. Der tote Winkel liegt je nach Panzertyp beim Geschütz zwischen zwanzig und sieben, bei den automatischen Waffen zwischen neun und fünf Metern. Schließlich ist es dem Panzer auch unmöglich, aus voller Bewegung heraus gezielte Schüsse abzugeben. Wenn er mit dem Geschütz gezielt schießen will, muss er halten und warnt damit den Panzerspringer.«

Dann zählte er die sechs verwundbaren Stellen des Panzers auf, auf die der Schütze sein Feuer konzentrieren müsse: Fahrgestell, Boden, Lüftungssystem, Motor, Turmansatz und Zieleinrichtungen.

Bei seinen Worten sahen die Jungen ein Fabeltier zum Leben erwachen, ein Wesen von fürchterlicher Kraft, doch langsam, rasselnd, unbeholfen, kurzsichtig und taub, und sie verglichen es mit dem Rot- und Schwarzwild, das sie zu jagen pflegten. Es war freilich ein gefährlicheres Wild als Hirsche, aber dafür war es leichter zu stellen und zu erlegen – im Grunde eine bessere Art von Wildschwein, weiter nichts. Und sie lachten vergnügt im Gedanken an die feinen Jagdpartien, die ihnen bevorstanden.

Das scharfe Panzerfaustschießen auf Zielscheiben – bestehend aus Ziegelmauern mit dem groben Umriss von Panzern – fand auf der Eichelsdorfer Heide statt und rief die Jungen in eine härtere Wirklichkeit zurück. Die Abschussexplosion, der Feuerstrahl, der im Nacken des Schützen aus dem Rohr schoss, das Heulen der Rakete, wenn sie vom Schnee abprallte und nicht losging, weil sie den Boden in zu flachem Winkel getroffen hatte, der Aufschlag, die Stichflamme, in der die Ziegelsteine der Mauern wie Konfetti zerstoben – die Kinder begriffen rasch, dass sie ein Höllenspielzeug in Händen hatten und dass für sie eine neue Zeit anbrach. Übrigens geschah schon zwei Tage später das erste Unglück; es kostete einen der Jungmannen, Hellmut von Bibersee, das Leben.

Nach dem Prinzip der rückstoßfreien Geschütze erzeugt der Treibsatz zwei gleichstarke Druckwirkungen: Der eine Druck wirkt nach vorwärts und treibt das Geschoss; der andere nach hinten, wo er verpuffen soll. Die Hauptgefahr für den Schützen und die Kameraden in seiner Nähe liegt in dem Feuerstrahl, der gerade dort aus dem Rohr schießt, wo man sicher zu sein glaubt. Wenn er in zu geringem Abstand auf ein Hindernis trifft, schlägt er mit todbringendem Feuerregen auf den Schützen zurück. Vor allem aber ist ein Kamerad, der zur Unterstützung hinter dem Schützen steht, in größter Gefahr, denn die Flamme wirkt bis auf drei Meter Entfernung tödlich.

Als Tiffauges erfuhr, Hellmut sei durch die Rückstoßflamme einer Panzerfaust enthauptet worden und seine sterbliche Hülle sei in der Schlosskapelle aufgebahrt, eilte er sogleich an sein Totenlager und brachte einen Teil der Nacht allein dort zu.

S. A. Ich konnte mich nicht vor dem ersten Tagesschimmer losreißen vom Anblick dieses mageren Körpers, der auf dem Leintuch lag, als wäre er mit Tusche darauf gezeichnet, ein Gefüge von Knochen, da und dort mit geballten Muskeln behängt, die als runde Wülste vorsprangen wie Mistelknoten in den kahlen Ästen eines Baumes. Gibt das seltsame Bild deutlich genug das Gefühl wieder, dass in dieser hauptlosen Hülle nichts Menschliches mehr war? Nichts Menschliches mehr – das heißt: nichts mehr, was an das geschäftige Treiben der Erwachsenen anknüpft. Hellmut von Bibersee war nicht mehr Hellmut und nicht mehr von irgendwoher. Hier war der Inbegriff eines Wesens, das wie ein Meteorstein vom Himmel gefallen und bestimmt war, in der Erde aufzugehen. Der Tod verlieh seinem Leib eine zu Lebzeiten nie gekannte Fülle. Sehnen, Nerven, Eingeweide, Blutgefäße, die ganze verborgene Maschinerie, die den Körper warmhält und ihn mit Flüssigkeit versorgt, war zu einer einheitlichen, harten Masse verschmolzen, die nur noch Form und Gewicht hatte. Selbst der Brustkorb, der wie beim tiefen Atmen geweitet war, und die Bauchdecke mit ihren sanften Hügeln, klangen fest und ließen keine Gedanken an ein pulsierendes Leben aufkommen. Natürlich – wie konnte es anders sein – kreisten meine Betrachtungen um den Begriff des Gewichts, des toten Gewichts, und ihre Krönung sollte der phorische Akt sein.

Ich habe immer schon vermutet, der Kopf sei nur ein kleiner, mit Geist gefüllter Ballon, der den Körper nach oben zieht, ihn in senkrechter Lage hält und ihm damit zugleich den größten Teil seines Gewichts nimmt. Durch den Kopf ist der Körper vergeistigt, entleiblicht, ausgeschaltet. Ohne Kopf dagegen wird er plötzlich auf ungeheuerliche Weise Fleisch, unerhörte Schwere überkommt ihn, und er fällt zu Boden. Bei Zwillingen, die ja durch eine Zweiteilung im Geistigen und einen entsprechenden Gewichtszuwachs im Körperlichen gekennzeichnet sind, hatte ich schon eine relative Version dieses Phänomens gesehen, das der Tod mir nun in absoluter Form zeigt. Daher kommt es, dass dieser schlaffe, all seiner Spannkraft beraubte Leib trotz seiner Regungslosigkeit einen übergroßen Raum auszufüllen scheint.

Ich nahm die kleine ruhende Grabfigur in meine Arme, den Blick auf die grausige Wunde an der Stelle gerichtet, wo der Hals gewesen war. Und trotz meiner Kraft und obschon ich darauf gefasst war, geriet ich sogleich unter der Last ins Wanken. Ich versichere feierlich: Dieser Körper ohne Kopf wog das Drei- oder Vierfache seines Gewichtes zu Lebzeiten.

Die phorische Ekstase aber, sie trug mich in einen Himmel, der schwarz war und von dröhnenden Pulsschlägen bebte: den Kanonen der Apokalypse.

S. A. Mitten in der Nacht. Da sind sie alle, liegen beisammen auf dem Hypnodrom, sind mir ganz und gar willenlos in die Hand gegeben. Was soll ich mit ihnen? Ein dicker, pelziger, tollpatschiger Nachtschmetterling, gaukle ich plump von einem zum anderen und weiß nicht, wohin mit meinem Verlangen, diesem jammervollen Durst, der auch das Herz erfasst. Der Nachtfalter fliegt liebesselig auf die elektrische Lampe zu. Und wenn er dagegen stößt, ganz nah bei dem, was ihn so unwiderstehlich anzieht, weiß er nicht mehr, was tun. Er weiß nicht, was er damit soll. Wirklich – was sollte auch ein Schmetterling mit einer elektrischen Lampe anfangen?

In Wahrheit versuche ich ständig einen Verdacht zu verdrängen, der mich so hartnäckig verfolgt, dass ich ihm im Dunkel dieser Nacht auf diesem Blatt Papier einmal insgeheim Raum gebe. Könnte es sein, dass ich durch meine Totenwache bei Hellmuts sterblicher Hülle für alle Zeit auf den Geschmack von Fleisch gekommen bin, das schwerer, marmorner ist als dieses, das da auf dem Hypnodrom so lieblich schnärchelt und schnauft?

S. A. Ich kann keine Frage und keinen Wunsch äußern, ohne dass das Schicksal sich früher oder später damit befasst und darauf Antwort gibt. Das ist der schwerste Fluch des Geschicks, das auf mir lastet – oder sollte ich lieber sagen: der strahlendste Segen, der über mir schwebt? Dabei überrascht mich die Antwort des Schicksals fast immer durch ihre Gewalt.

Was soll ich mit diesen Kindern, die ich unter der Glasglocke namens Kaltenborn gefangen halte? Jetzt ist mir klar, weshalb die absolute Macht den Tyrannen stets am Ende absolut verrückt macht: weil er nichts damit anzufangen weiß. Nichts ist so grausam wie dieses Missverhältnis zwischen seinen schrankenlosen Möglichkeiten und seinen beschränkten Fähigkeiten. Es sei denn, das Schicksal sprengt die Grenzen seiner dürftigen Fantasie und überwältigt seinen unsteten Willen.

Seit gestern kenne ich die scheußliche, herrliche Gebrauchsanweisung zu meinen Kindern.

Raufeisen ist unermüdlich dabei, Kaltenborn nach den wiederholten Durchhaltebefehlen des Führers für einen Kampf bis aufs Messer einzurichten. Die Übungen im Panzerfaustschießen haben durch Hellmuts Tod keine Verzögerung erlitten. Von zwei Hundertschaften arbeitet schichtweise immer eine an der Anlage von Panzerminensperren. Diese Sperren bestehen aus Tellerminen, die sich verhältnismäßig gefahrlos auslegen lassen, denn sie gehen erst bei einer Belastung von mindestens vierzig Kilogramm los. Dafür wiegen sie aber pro Stück fünfzehn Kilo und stellen damit Kraft und Ausdauer der Jungmannen auf eine harte Probe, da diese sie von den Lastwagen hinübertragen sollen zu den vorgesehenen Plätzen, den Gassen, die eventuell durchgebrochene Feindpanzer »zwangsweise« befahren müssten. Dort werden die Minen in zweihundert bis dreihundert Meter tiefem Streifen schachbrettartig verlegt, sodass drei Minen jeweils zwei Meter Frontbreite abriegeln.

Unbesorgt hatte ich einen der Lastwagen gefahren, die uns die Wehrmacht noch für einige Tage überlässt; er hatte fünfhundert schwere Minen geladen, genug, um eine ganze Stadt in die Luft zu jagen. Zwei Wagenladungen waren schon verlegt, und auf mich warteten nur etwa zwanzig Kinder. Laut Vorschrift empfängt immer ein Mann eine Mine – und zwar nur eine –, geht allein weiter und hält von den nächsten, die Minen tragen, mindestens vierzig Meter Abstand. Ich leitete die Minenausgabe; dann ging ich mangels anderer Arbeit und zugleich aus Neugier und freundschaftlicher Zuneigung hinter dem letzten Minenträger her.

Es war Arnim, ein Schwabe aus Ulm. Einer jener schwäbischen Kleinbauern, kurz und stämmig, rundköpfig und dickschädelig, was aber in den Augen der SS-Auslesespezialisten durch hellgrüne Augen und goldblondes Haar wettgemacht wird. Ungefähr so wie ein Bursche aus der Auvergne, nur blond, zumal da auch der Schwabe bei den übrigen Deutschen als geizig und nachtragend, als platt und schmutzig gilt. Ich aber mochte Arnim sehr gern, denn er hatte Kraft; sie steckte vor allem in den Beinen, die für sein Gewicht deutlich zu stark waren und die ihm – trotz ihres schwerfälligen Aussehens – einen leichten, fast federnden Gang verliehen, als freuten sie sich mit jedem Schritt, dass sie nur so leichte Last zu tragen hatten. Diesmal freilich hatte Arnim aus Ulm seinen elastischen Gang nicht mehr, denn er schleppte mit dem hängenden rechten Arm den schweren Todesdiskus, diesen Kuchen aus Panzerblech, und dadurch verlor sein Umriss das Ebenmaß und war nach links verschoben, obschon er den freien Arm zur Balance waagrecht ausstreckte. Er ging mit kleinen, schnellen Schritten, und ich näherte mich ihm mit dem unbestimmten Gedanken, ihm gegen jede Vorschrift doch zu helfen. Als er etwa hundert Meter zurückgelegt hatte, blieb er stehen, schob den Lappen, der um den dünnen, stark einschneidenden Griff gewickelt war, zurecht und wechselte die Hand. Dann lief er mit kleinen, noch rascheren Schritten weiter; nun streckte er den rechten Arm seitwärts. Bald darauf blieb er wiederum stehen, und als er mich sah, lächelte er und blies die Backen auf, um auszudrücken, wie müde er sei. Zuletzt wandte er eine Technik an, die sicher nicht so anstrengend, aber in den beigebrachten Vorschriften über Minenlegen und Minenräumen keineswegs vorgesehen war: Er stützte die Mine unten mit beiden Händen, dann bog er den Oberkörper leicht rückwärts, lehnte sie an seinen Bauch und trug sie so. Ich war ihm durch sein zweimaliges Stehenbleiben ganz erheblich nähergekommen und darum nur noch rund zehn Meter von ihm entfernt, als die Detonation erfolgte.

Ich hörte gar nichts. Ich sah plötzlich dort, wo das Kind war, einen weißen Schein aufzucken, und gleich darauf war um mich ein jäher, lichtroter Windstoß, eine Böe aus sprühfeinem Blut, und warf mich zu Boden. Ich musste eine Weile das Bewusstsein verloren haben, denn mir ist noch, als sei ich fast im gleichen Augenblick von Gesichtern umringt gewesen und weggetragen worden, was kaum denkbar ist. Im Krankenrevier war dann alles höchst überrascht, mich unverletzt zu finden: Ich war von Kopf bis Fuß mit Blut überzogen, aber kein Tropfen von mir war dabei. Arnim allein, zu einem Nebel von roten Blutkörperchen zerstoben, hatte mich über und über in Blut getaucht. Nach meiner Totenwache bei Hellmut kam diese grausame Taufe und hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.

Eine große rote Sonne ist plötzlich vor mir aufgegangen. Und diese Sonne war ein Kind.

Ein hellglühender Orkan hat mich in den Staub geworfen, wie Saulus einst vor Damaskus vom Licht getroffen ward. Und dieser Orkan war ein kleiner Bub.

Ein scharlachschimmernder Zyklon hat mein Antlitz zur Erde gedrückt, wie die hohe, weihende Gnade den jungen Leviten zu Boden streckte. Und dieser Zyklon war ein Junge aus Kaltenborn.

Ein Purpurmantel ist als untragbare Last auf meine Schultern gefallen und bezeugte mein Erlkönigtum. Und dieser Mantel war Arnim aus Schwaben.

S. A. Obwohl längst wieder frisch und munter, bin ich noch eine Weile, ohne dass ich einen plausiblen Grund gehabt hätte, in den behutsamen Händen Frau Nettas geblieben. Wenn ich es recht bedenke, ist es auffallend, dass ich mich nicht früher in diesen zum Krankenrevier umgewandelten Teil des Untergeschosses vorgewagt habe, wo süßlich-penetranter Äthergeruch mich in seltsam erregende Empfindungen stürzt. Offenes, verwundetes Fleisch ist in höherem Maße Fleisch als unverletztes, und es hat seine eigenen Kleider, die Binden, die getragene Zeichen darstellen, aber beredter sind als gewöhnliche Kleidungsstücke. Diese Atmosphäre aus Angst und Ekstase hat mich mit einem Mal ins Krankenrevier von St. Christophorus zurückversetzt, in dem ich einige Zeit zubringen musste, als Pelsenaire mich gezwungen hatte, mit meinem Mund sein verletztes Knie zu säubern.

Gott sei Dank bin ich heute stark und hellsichtig genug, um es ertragen zu können, wenn auf diese unglückliche, aber so folgenreiche Episode volles Licht fällt. Diese ganzen Jahre habe ich gebraucht, um dem keuschesten, verschlossensten Winkel meines Innern das Geständnis der Wahrheit zu entreißen. Doch seien wir genau und hüten wir uns vor jeder nachträglichen Verfälschung: Als Fieber und Krämpfe mich zu Pelsenaires Füßen niederwarfen, dachte ich natürlich nicht daran, zu analysieren, was mir geschah. Ich erlebte alles, was sich in meinem Leben ereignete, zu unmittelbar, als dass ich versucht hätte, es zu kommentieren. Und hätte ich es getan, so wäre das Übermaß an Leid, das auf mir lastete, eine hinreichende Erklärung für meinen nervlichen Zusammenbruch gewesen. Doch folgte anschließend eine ziemlich lange Ruhepause im Krankenrevier – etwa vierzehn Tage vielleicht –, und die hätte mir die Augen öffnen müssen, hätte ich sie nicht hartnäckig verschlossen gehalten in der dunklen Befürchtung, ich könnte sonst zu viel über mich selbst erfahren.

Heute also, heute erst bin ich soweit, dass ich über jenes entscheidende Geschehnis die Wahrheit schreiben kann, und ich tue es mit möglichst wenigen Worten: Was in dem Augenblick über mich hereinbrach, als meine Lippen den Lippen um Pelsenaires Wunde begegneten – das war nichts anderes als ein Übermaß von Freude, eine Freude von unerträglicher Gewalt, ein brennender Schmerz, tiefer und grausamer als alles, was ich früher durchlitten und seither erduldet habe, aber ein wonneglühender Schmerz. Es war gänzlich ausgeschlossen, dass mein unschuldiger, noch ganz in sein eigenes zartes Wachstum eingesponnener Organismus einen solchen Blitzstrahl aushalten konnte. Die anschließenden Tage im Krankenrevier – sie waren im Ganzen gesehen nur die gemilderte, verdünnte und gleichsam ins Sanfte gewendete Wiederholung dieser unerträglichen Feuerprobe. Durch den süßlichen, irgendwie schillernden Äthergeruch, der an allem klebte und selbst in die Speisen einzog, lebte ich ständig in einem leichten, beglückten und zugleich beunruhigten Rausch. Vor allem aber wurden diese fieberwirren Stunden warm und hell durch den Zauber, den der angelegte Verband auf mich ausübte, und durch die heftige Neugierde, mit der ich zusah, wie nacheinander Binde, Wattebausch und Gaze entfernt wurden, bis dann inmitten weißlicher, geriffelter Haut plötzlich das Antlitz der Wunde vor mir lag. Ein Rechteck aus Batist, mit Leukoplast kreuz und quer festgeklebt, verwirrte mich mehr als die hinreißendsten Rüschen und Volants. Und die Wunde selber – ihre Zeichnung, ihre Tiefe und sogar die einzelnen Etappen der Vernarbung gaben meinem Verlangen viel reichere und viel aufregendere Nahrung als die simple Nacktheit eines Körpers, mochte er auch noch so verlockend sein! Die Etappen, das waren die Schorfkrusten, die damit einhergingen; sie wurden teils weggerissen und taten eine neue Wunde auf, aus der Blut sickerte, teils fielen sie von selbst ab, sodass ein wenig rosige, durchscheinende Haut wie die eines Neugeborenen zum Vorschein kam. Von den Antiseptika ganz zu schweigen, die der Wunde obendrein noch einen Anschein herausfordernder Verfremdung gaben. Auf die milchweißen Spuren des Wasserstoffsuperoxyds zeichnete Jodtinktur, wie mit Henna, ein fantastisches Make-up. Aber nichts reichte an das schreiende Zinnober eines neuen – schmerzlosen und darum als unwirksam verdächtigten – Präparats heran, des Merkurochrom. Gewiss hatten manche Wunden die nüchtern-strenge Geradlinigkeit eines wirklichen Mundes mit schmalen Lippen, aber das war die Ausnahme. Die meisten feixten, grinsten und waren geschminkt wie Nuttengesichter.

S. A. Heute Morgen waren die vierhundert Kinder dicht gedrängt auf dem Burgvorplatz angetreten. Sie hatten gerade ihren Frühsport hinter sich und trugen trotz der Kälte nur die schwarze Sporthose; Oberkörper und Beine waren nackt. Raufeisen musste um elf Uhr auf der Kommandantur in Johannisburg sein; er war deshalb umgeschnallt, mit Stahlhelm und in Rohrstiefeln erschienen und ging, sein Reitstöckchen unterm Arm biegend, nervös auf und ab. Ja, ich ahnte es schon, das niedrige Gefühl, das nun seine Seele erfasste, ich brauchte ihn bloß zu sehen, wie er vor dieser ganzen waffenlosen Unschuld gepanzert wie ein Maikäfer herumstolzierte! Er gab einen kurzen Befehl, die Reihen fielen nach vorne um wie Dominosteine, und alles war nur noch eine riesige Fläche aus Leibern, die so regelmäßig dalagen wie Schwaden von Korn oder Gras, wenn der Schnitter darüber gegangen ist. Und dann stellte er sich in die Mitte, nicht zwischen, sondern auf die hingestreckten Körper. Er hat es gewagt, mit Stiefeln auf diesen Teppich aus Kindern zu steigen, achtlos hier eine Hand, da ein Gesäß, dort einen Nacken niederzutreten. Ja, er hat sich gar breitbeinig mitten auf dieses Feld mit seiner kindlichen Mahd gepflanzt und sich eine Zigarre angezündet …

Mit diabolischem Instinkt hast du ganz genau die richtige Form für den antiphorischen Akt schlechthin herausgefunden, und dafür, Stefan aus Kiel, ereilt dich in Bälde ein qualvoller Tod!

Sie kamen aus Reval und Pernau in Estland, aus Riga und Libau in Lettland, aus Schaulen und Kowno in Litauen, und sie zogen weniger Aufmerksamkeit auf sich als die übrigen Flüchtlinge, denn sie waren hauptsächlich nachts unterwegs, und das Begleitkommando schuf Leere um sie. Eine alte Bäuerin hatte sie bei Mondschein in gespenstischer Stille vorbeiziehen sehen und erzählte nachher, die Toten auf den Friedhöfen im Osten seien aus ihren Gräbern erstanden und flüchteten vor dem Feind, der ihre Ruhestätten schände. Andere Zeugen bestätigten, die Gesichter unter den vorspringenden, glattrasierten Hirnschalen seien wie bei Totenschädeln, doch sagten sie auch, die Flüchtlinge schlotterten wie Gliederpuppen in gestreiften Schlafanzügen, und manchmal seien sie aneinandergekettet. Wenn einer vor Erschöpfung umfiel, wurde er vom nächsten Wachmann durch einen Pistolenschuss ins Genick vollends getötet, und so hinterließ dieser verborgene Exodus seine Spuren.

Tiffauges begegnete nie einer solchen Kolonne aus den Todesfabriken, Bergwerken, Steinbrüchen, den Ghettos oder Konzentrationslagern im Osten, die vor der Roten Armee Hals über Kopf geräumt werden mussten. Eines Tages jedoch, als ein Auftrag ihn nach Norden hinauf, nach Angerburg, führte, hielt er Blaubart an, um einen Körper, der unter einem alten Schäfermantel im Straßengraben lag, ans Licht zu ziehen. Es war die Leiche eines Wesens ohne Alter und Geschlecht, das unmöglich zu erkennen war, es sei denn an einer auf dem linken Handgelenk eintätowierten Nummer und an einem gelben J, das sich von einem auf der linken Seite angenähten rötlichen Davidstern deutlich abhob. Er ritt weiter, doch nur um zwei Kilometer danach bei einem Rupfenbündel, das an einem Randstein lehnte, schon wieder zu halten. Diesmal war es ein Kind, das eine Mütze aus drei zusammengenähten Filzstücken auf dem Kopf trug. Es atmete; es lebte noch. Tiffauges schüttelte es sacht, suchte ein Lebenszeichen aus ihm herauszubringen. Vergebens. Es war in einer todesähnlichen Starre befangen. Als Tiffauges es aufhob und auf die Arme nahm, krampfte sich ihm das Herz zusammen, weil es ihm so unglaublich leicht vorkam, als sei in dem Bündel aus grobem Stoff, aus dem sein Kopf herausschaute, rein gar nichts. Im Schritt machte er sich auf den Rückweg nach Kaltenborn. Es waren noch gut zwanzig Kilometer bis zu der Burg; er konnte, wenn er wollte, noch vor Tagesanbruch dort sein.

Und eine Stunde später umgab ihn wirklich die klare hyperboreische Nacht mit ihrem Sternenschimmer und ihren Geheimnissen. Friedlichen, gleichmäßigen Schrittes zog Blaubart dahin, und unter dem ruhigen Klappern seiner Hufeisen zersprang funkelnd das Eis auf dem Wege. Das war nicht mehr der stürmische Ritt, mit dem Tiffauges nach erfolgreicher Jagd, die frische blonde Beute fest in den Händen, nach Kaltenborn zurückgekehrt war. Er war nicht beschwingt vom gewohnten phorischen Rausch, der ihm sonst Gebrüll und tolles Lachen entlockte. Über ihm im Zirkuszelt des Himmels kreiste langsam die große gestirnte Tierschau um den Polarstern. Der Große Bär und sein Wagen, Giraffe und Luchs, Widder und Delfin, Adler und Stier mischten sich zwischen heilige und fantastische Wesen, zwischen Einhorn und Jungfrau, Pegasus und Zwillinge. Mit feierlicher Langsamkeit ritt Tiffauges dahin; verworren fühlte er, dass er mit dieser seiner ersten Astrophorie eine gänzlich neue Ära begann. Unter seinem weiten Mantel bewegte das Kind mit dem Stern zuweilen die Lippen und flüsterte Worte in einer unbekannten Sprache.

Das Dach des Schlosses war größtenteils nur mit losen Ziegeln gedeckt, zwischen denen ein ganzes Volk von Nachtvögeln ein- und ausflog. Doch in der Ecke eines Speichers, wo Heizungs- und Abwasserrohre zusammenliefen, gab es immerhin ein geschlossenes Kämmerchen, in dem sich mit einem Petroleumheizofen eine Treibhauswärme erzeugen und halten ließ. Dort brachte Tiffauges seinen Schützling unter auf einem Feldbett, das er aufs Geratewohl von den im Abstellraum angehäuften Ausrüstungsteilen wegholte. Dann ging er hinunter in die Küche und brachte ein Schüsselchen Milchgrießbrei herauf; er mühte sich aber vergebens, ihn dem Kind einzuflößen.

Von da an war sein Leben geteilt zwischen seinem gewohnten Tun innerhalb und außerhalb der Burg und dieser matratzenbelegten, überheizten Zelle, wo er sich verbissen mühte, wieder Leben in Ephraims entkräftetem Körper zu wecken. Das Alter des Kleinen ließ sich unmöglich angeben; er konnte ebenso gut acht wie fünfzehn sein, und sein schwächlicher Körperbau stand in deutlichem Gegensatz zu seiner fortgeschrittenen geistigen Entwicklung. Tiffauges hatte im Krankenrevier eine Pyrethrum-Seife aufgetrieben und wusch damit behutsam Ephraims Kopfhaut, die mit einem ekelhaften Grind, einer Kruste aus Haaren, Nissen und Schorf bedeckt war. Sorgen machte ihm aber vor allem der ruhrartige Durchfall, bei dem sich dieser Körper aus Haut und Knochen in qualvollen Krämpfen wand, um dann in der Schüssel, die Tiffauges ihm unterschob, weißliche, mit streifigem Blut durchsetzte Stühle zu hinterlassen. Danach verlangte er zu trinken, viel, unaufhörlich, und wenn Tiffauges nicht da war, schleppte er sich allein auf den Dachboden zu dem dicken Kupferhahn unter den Schläuchen, Äxten, Strahlrohren und Eimern der Feuerlöschausrüstung. Dann verfiel er in einen von Albträumen und von Kämpfen gegen unsichtbare Feinde zerrissenen Schlaf. Tiffauges hatte sich in seiner Behausung eine kleine Küche eingerichtet, in der er, ohne aufzufallen, die Fleischbrühe und die Gemüsesuppen zubereiten konnte, mit denen er den Kranken fütterte.

Er musste zwei Tage warten, bis das Kind zu reden begann. Es sprach ein mit hebräischen, litauischen und polnischen Worten vermengtes Jiddisch, von dem Tiffauges nur die aus dem Deutschen stammenden Teile verstehen konnte. Doch die beiden besaßen, um einander verstehen zu lernen, unbegrenzte Zeit und unerschöpfliche Geduld, und wenn das Kind ihm sein schmales, von Hautflechten bestäubtes Gesicht zuwandte, das fast ganz in den großen schwarzen Augen aufging, dann hörte ihm Tiffauges mit gespannten Ohren, mit seinem ganzen Wesen zu, denn er sah eine Welt daraus aufsteigen, die auf schreckliche Weise das Spiegelbild seiner eigenen war und deren Vorzeichen sämtlich umkehrte.

Er entdeckte: Unter diesem vom Krieg aufs äußerste polarisierten Deutschland bildete das Netz der Konzentrationslager eine Unterwelt, die keine Beziehung – oder allenfalls eine zufällige – zur Welt der Lebenden an der Oberfläche hatte. Im Ganzen von der Wehrmacht besetzten Europa – besonders aber in Deutschland, in Österreich und in Polen – zog sich mit nahezu tausend Ortschaften, Dörfern und Weilern eine höllische Geografie unter dem Lande hin, die ihre Hochburgen, ihre Hauptstädte, aber auch ihre unteren Verwaltungssitze, ihre Verkehrsknotenpunkte, ihre Rangierbahnhöfe besaß. Schirmeck, Natzweiler, Dachau, Neuengamme, Bergen-Belsen, Buchenwald, Oranienburg, Theresienstadt, Mauthausen, Stutthof, Łódź, Ravensbrück … Die Namen hatten in Ephraims Mund die Bedeutung vertrauter Orientierungspunkte in jenem Land der Schatten, dem einzigen, das er kannte. Kein Name jedoch glühte in so dunklem Glanz wie der Name der polnischen Stadt Oświęcim, dreißig Kilometer südöstlich von Kattowitz, die bei den Deutschen Auschwitz hieß. Das war der Anus Mundi, die große Metropole der Niedertracht, des Leidens und des Todes, wo von allen Enden Europas Transporte mit Opfern zusammenströmten. Ephraim war so jung dort hingekommen, dass es ihm schien, als sei er dort geboren, und er war offenbar beinahe stolz, in diesem äußersten Abgrund aufgewachsen zu sein, der in den Augen des KZ-Volkes ein düsteres Ansehen genoss. Seine Eltern und er waren im Juli 1941 kurz nach der Besetzung Estlands durch die Wehrmacht von Einsatzkommandos festgenommen und unmittelbar nach Auschwitz geschickt worden. Von ihrer Ankunft in Viehwagen waren ihm nur noch die Fesselballone genau in Erinnerung, die wie Würste an einer Schnur im trüben Himmel hingen. SS-Leute lenkten die Bewegungen der riesigen Herde mit Prügelschlägen. Dann war das Duschen gekommen, das Kahlscheren, die Entlausung, und nachher – zur großen Freude der Kinder – der Befehl, sie sollten sich aus einem Haufen wahllos übereinandergeworfener alter Sachen etwas zum Anziehen herausklauben.

»Wir zogen zum Spaß Frauenkleider an, einige liefen hinkend herum, weil sie nur zwei rechte oder zwei linke Schuhe hatten. Es war, als hätten wir Purim!«18

Ephraim konnte beim Gedanken an diese burleske Ankunft ein kleines, schnarrendes Lachen nicht unterdrücken.

Dann hatte man ihn von seinen Eltern getrennt – er sollte sie nie wiedersehen – und einem der Blocks zugeteilt, in denen die Kinder unter sechzehn zusammengepfercht waren; sogar einige Säuglinge waren dort. Ein ehemaliger Gymnasialprofessor hielt Schule für sie; nie würde er, Ephraim, die Aufgabe vergessen, die er ihnen einmal gegeben hatte: Was geschähe mit euch, wenn die Erdanziehung plötzlich aufhörte? Antwort: Wir flögen alle auf den Mond! Ephraim konnte nicht umhin, bei dieser Vorstellung laut hinauszuplatzen! Oft waren die SS-Leute nett zu ihnen. Die Kinder durften ihr Haar behalten. Sie bekamen eine Tischtennis-Platte und sogar einen Ballen Kleider, die aus Kanada stammten.

Als Ephraim zum ersten Mal das Wort Kanada aussprach, erkannte Tiffauges: mit diesem Paukenschlag war feierlich die große Umkehrung zum Bösen kundgetan. Kanada – das war eine Provinz seiner ureigenen Traumwelt, war die Zuflucht seiner Kinderzeit mit Nestor und seiner ersten Gefangenenmonate in Ostpreußen.

»Kanada?«, erwiderte Ephraim, überrascht von so viel Unwissenheit. »Das war die Schatzkammer von Auschwitz. Weißt du, die Häftlinge hatten das Wertvollste, was ihnen geblieben war, bei sich: Edelsteine, Goldmünzen, Schmuckstücke, Uhren. Wenn sie vergast waren, wurden ihre Kleider mit allem, was man in ihren Taschen und im Futter gefunden hatte, geordnet in einem besonderen Barackenkomplex aufbewahrt, und der hieß eben Kanada.«

Tiffauges konnte sich mit dieser grausigen Verwandlung seines geheimsten, beglückendsten Reichtums nicht unwidersprochen abfinden.

»Aber wieso denn, wieso habt ihr diese Baracken Kanada genannt?« »Ach, Kanada, das heißt für uns Reichtum, Glück, Freiheit! Weißt du, ich hab immer sagen hören: ›Wenn du in Freuden leben willst, so wandere aus nach Kanada. Dein Großonkel Jehuda hat eine Kleiderfabrik in Toronto. Er ist reich, er hat viele Kinder.‹ Ich träumte, dass ich auch nach Kanada ginge. Ich habe Kanada in Oświęcim gefunden.«

»Was gab es sonst noch in diesem Kanada?«

»Räume voller Kleider und andere, in denen nichts als Brillen, Lorgnons und sogar Monokel waren. Ach ja, auch eine Baracke voller Haare. Frauenhaare, die mindestens zwanzig Zentimeter lang sein mussten, damit man sie verwenden konnte. Um jedoch Frauen, die flüchteten, trotz ihrer langen Haare erkennen zu können, wurde ihnen mitten über den Kopf eine schmale Schneise geschoren. Die Haare wurden waggonweise weggefahren. Angeblich machte man daraus Filz für die Winterstiefel der deutschen Soldaten in Russland.«

Tiffauges sah bei diesen Worten sich selber wieder, wie er mit der einen Hand einen Sack mit Haaren hinter sich herzog, mit der anderen Frau Dorn eine Rehkeule anbot, und erinnerte sich an das Entsetzen der stattlichen Frau, wie sie zurückgewichen und geflohen war, wie ihr Kopf, ihre Hände, ihr ganzer Körper ein einziges »Nein, nein, nein!« gewesen waren. Frau Dorn musste von den Auschwitz-Haaren gehört und geglaubt haben, sie solle in diesem riesigen Todesbetrieb mitarbeiten.

Dann erzählte Ephraim von der Qual der Appelle; sie konnten bis zu sechs Stunden dauern, und so lange mussten die Häftlinge stehen, regungslos, ob es nun heiß oder kalt war. Und Tiffauges erkannte sogleich die diabolische Umkehrung seines Heerschau-Rituals. Die Rolle der im Konzentrationslager gehaltenen Dobermannhunde, die darauf dressiert waren, Häftlinge zu verfolgen und in Stücke zu reißen, schien ihm nun bloß noch ein fast belangloses letztes Tüpfelchen, um die ungeheuerliche Analogie, jene Gegen-Ähnlichkeit vollkommen zu machen, die für ihn die Hölle war. Was er über die Gaskammern erfuhr, die als Duschräume getarnt waren, brachte ihn dagegen vollends zur Verzweiflung.

»Zuletzt«, berichtete Ephraim weiter, »haben wir zusammen mit zwanzig anderen Kindern mit einem Pferdewagen Rollkommando gemacht. Das Pferd waren wir! Wir schoben und zogen den Wagen im ganzen Lager umher und galoppierten nur so über die langen Lagerstraßen. Ich lief immer vornweg, schob die Deichsel nach rechts oder nach links und lenkte so den Wagen. Wir beförderten Wäsche, Decken, Holz. Und so kamen wir im ganzen Lager herum und konnten alles sehen. Ich war bei Selektionen dabei. Einmal habe ich einer Frau etwas Rouge für die Wangen gegeben, damit sie nicht so krank aussehen sollte. Im Winter erlaubte uns eines Tages ein Kapo, in die Gaskammern zu gehen, um uns zu wärmen. Das waren fingierte Duschräume. Man ließ die zur Vergasung Bestimmten die Kleider ausziehen und empfahl ihnen, sich gut zu merken, wo ihre Sachen lagen, um sie nachher wiederfinden zu können. Sogar Handtücher wurden ausgegeben. Daraufhin pferchte man möglichst viele Männer und Frauen in den Raum. Zuletzt drückten und schoben die Kapos mit den Schultern, damit sie die Türen zubekamen, und warfen die Kleinkinder noch über die Köpfe der anderen hinein. Die Brausen an den Duschen waren Attrappen. Ich habe genau gesehen, dass sie Vertiefungen, aber keine Löcher hatten. Wenn nach der Vergasung die Türen geöffnet wurden, sah man, dass die stärksten die anderen niedergetreten hatten, um den tödlichen Dämpfen zu entgehen, die vom Boden aufstiegen. So entstand ein Haufen bis hinauf an die Decke, unten die Frauen und die Kinder, oben die Männer, die noch am kräftigsten waren.«

Trotz der vielfachen Möglichkeiten, die sich ihm als Kind und durch sein Rollkommando boten, hatte Ephraim freilich nicht alles selbst gesehen, was in der riesigen Metropole des Todes geschah. Aber er hatte ja auch Ohren zu hören, und Gerüchte verbreiteten sich mit Windeseile im Lager. Ephraim wusste von der Existenz des Blocks B, in dem Dr. Mengele sich mit medizinischen Versuchen an Häftlingen befasste. Mengele, so erzählte er Tiffauges, hatte ein leidenschaftliches Interesse für alles, was mit Zwillingen zusammenhing, und er überwachte das Entladen von neuen Transporten, um Zwillingsbrüder oder -schwestern, die dabei sein mochten, zur eigenen Verwendung schon vorweg abzuzweigen. Denn es ist von erheblichem Interesse, wenn bei zwei zum selben Zeitpunkt verstorbenen Zwillingen eine vergleichende Obduktion vorgenommen werden kann, und selbstverständlich ergibt sich eine derartige Gelegenheit praktisch nie durch bloßen Zufall. Dr. Mengele, der half darum diesem Zufall eben nach. Schließlich war in Auschwitz auch die Rede von Todesexperimenten im luftleeren Raum, die an Häftlingen durchgeführt wurden, um zu erforschen, wie man den physiologischen Folgen des Druckabfalls beikommen konnte, der bei Flugzeugunfällen in großer Höhe auftritt. Das menschliche Versuchskaninchen wurde in eine Druckkammer gesperrt, in der sich schlagartig ein Vakuum herstellen ließ. Durch die verglaste Luke des Geräts konnte man beobachten, wie das Blut aus Nase und Ohren spritzte, während die Nägel des Häftlings sich in die Stirnhaut gruben und mit einer langsamen, unwiderstehlichen Bewegung das Gesicht samt all seinen Fleischteilen wie eine Maske vom Schädel ablösten.

Grauen überkam Tiffauges. Durch die langen Enthüllungen Ephraims hindurch sah er, wie ein höllisches Reich Gestalt annahm, das Stein für Stein dem phorischen Reich entsprach, von dem er zu Kaltenborn geträumt hatte. Kanada, die Verwendung der Haare, die Appelle, die Dobermannhunde, die Versuche mit Zwillingen und mit unterschiedlicher atmosphärischer Dichte und vor allem, vor allem die fingierten Duschräume – alles, was er erfunden, was er entdeckt hatte, besaß, auf den Kopf gestellt und zu höllischer Glut getrieben, sein Gegenbild in dem entsetzlichen Spiegel. Nun brauchte er nur noch eines zu erfahren: Die beiden Völker, die von der SS mit solchem Hass verfolgt wurden und ausgerottet werden sollten, waren die Juden und die Zigeuner. So fand er hier, zum Wahnsinn gesteigert, den tausendjährigen Hass der sesshaften Rassen gegen die Nomaden wieder. Juden und Zigeuner, wandernde Völker, Söhne Abels, mit Herz und Seele ihm eng verbundene Brüder – zu Auschwitz starben sie in Massen, erschlagen von einem in Stiefeln und Stahlhelm auftretenden, wissenschaftlich organisierten Kain. Die Tiffauges’sche Deduktion der Todeslager war lückenlos.

Obschon Auschwitz für die meisten Häftlinge, die durch das Lagertor mit dem plump-ironischen Spruch Arbeit macht frei zogen, todbringende Endstation war – für manche war es auch eine Drehscheibe, von wo sie in andere Lager, an Baustellen oder in Fabriken verschubt wurden, ganz nach der Willkür eines Verwaltungsapparats, der sie vernichten und zugleich im Widerspruch hierzu ein Höchstmaß an Arbeitsleistung aus ihnen herauspressen wollte. Im Frühjahr 1944 fuhr Ephraim mit einem unbedeutenden Transport nach Litauen und landete im Lager Kowno. Allerdings nur für kurze Zeit, denn im August führte das Vordringen der sowjetischen Truppen zur Räumung des Lagers und zu einem neuen Exodus in Richtung Südwesten, diesmal zu Fuß. Die elende Schar irrte von Behelfslager zu Befehlslager und kam so auch durch den Kreis Angerburg, wo Tiffauges dann Ephraim aufgelesen hatte.

Mit allen Mitteln suchten die NS-Behörden die eine Maßnahme, die in Ostpreußen als düsteres Symbol gewertet werden musste, so lange wie möglich aufzuschieben: die Überführung der sterblichen Hülle des Generalfeldmarschalls von Hindenburg ins westliche Deutschland. Sie ruhte bisher im Tannenberg-Denkmal unter den Fahnen der von Hindenburg befehligten preußischen Regimenter. Die Überführung geschah im Januar 1945, als die Sowjets nach einer Pause von zweieinhalb Monaten eine umfassende Offensive gegen die deutschen Linien eröffneten. Nachdem eine Kältewelle die Seen und Sümpfe für Panzerkräfte befahrbar gemacht hatte, durchbrachen zwei schwere Panzerbrigaden mit Unterstützung von dreihundertfünfzig Batterien Artillerie die deutschen Abwehrstellungen zwischen Gumbinnen und Ebenrode, und dreizehn Infanteriedivisionen stießen nach. Der Forst Rominten wurde eingeschlossen, die Jagdhäuser wurden in Brand gesteckt. Als dann Rudel von Pferden, ein stilisiertes Elchgeweih als Brandzeichen auf der rechten Hinterbacke, mit irrem Blick und zerzauster Mähne frei über Schneefelder und Eisflächen jagten – da wusste die ganze Gegend: das Kaisergestüt Trakehnen hatte aufgehört zu bestehen. Am 27. Januar – die Sowjets standen vor den Toren von Königsberg – sprengten deutsche Pioniereinheiten die Anlagen und Bunker von Hitlers Wolfsschanze bei Rastenburg. In Varzin, so wurde erzählt, weigerte sich die alte Freifrau von Bismarck, die Schwiegertochter des Eisernen Kanzlers, hartnäckig, das Schloss und den Landbesitz zu verlassen, die der König dem Sieger von Königgrätz im Jahre 1866 geschenkt hatte. Sie blieb mit einem alten Diener allein da, hatte zuvor lediglich von ihren Leuten verlangt, sie sollten vor der Flucht noch ein Grab für sie ausheben, und erwartete nun mit ihrem schlicht gescheitelten weißen Haar zart und furchtlos die rote Flut, wohl wissend, dass sie nicht überleben würde.

Indessen vollzog sich der russische Vormarsch viel mehr in Form von sehr weitgehend ausgenutzten und zuweilen auf Hunderte von Kilometern verbreiterten Fronteinbrüchen als in einer zusammenhängenden, über das ganze Land hinwegziehenden Front. Zahllose Widerstandsinseln blieben im Rücken der Sieger zurück. Sie hielten sich umso länger, als Hitler weiterhin Kampf bis aufs Äußerste und Ablehnung jeglicher Kapitulation befahl. So hielt beispielsweise die in Lettland stationierte und seit Anfang Oktober 1944 von Ostpreußen abgeschnittene Heeresgruppe Kurland, die über den Hafen Libau von See her versorgt wurde, bis zur Kapitulation durch. Die Festung Königsberg selbst ergab sich erst am 9. April, und bei der Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai hielten sich noch immer beachtliche Widerstandsnester, namentlich auf der Halbinsel Hela und im Westteil der Frischen Nehrung.

Die Aufgabe, die in diesen apokalyptischen Tagen den Napolas zukam, war von deren Chef, SS-Obergruppenführer Heißmeyer, klar umrissen worden. Er hatte in einem Schreiben vom 2. Oktober 1944 ausgeführt, die Anstalten lägen größtenteils abseits von den Städten, könnten also von anderen bewaffneten Kräften nicht geschützt werden. Im Fall eines etwaigen Vordringens des Gegners müssten die Anstalten unter allen Umständen feste Stützpunkte des Kampfes sein.19 Nichts schien natürlicher in einer Zeit, da der Kommandant von Königsberg eine Einheit Pimpfe an die Front schickte, denen die zu weiten Stahlhelme beim Schießen fortwährend über die Augen rutschten und bei denen man die sonst vor dem Angriff ausgegebenen alkoholischen Getränke und Zigaretten durch Bonbons und Schokolade ersetzen musste.20

In der Nacht vom 22. auf 23. Januar glühte der Horizont, der von der Ostterrasse von Kaltenborn aus zu sehen war, von mächtigem Feuerschein: Lyck stand in Flammen. Dann zogen zwei Tage und zwei Nächte lang versprengte Truppenteile unter den Mauern von Kaltenborn vorbei. Alte M2-Panzer vom Anfang des Krieges schleppten vier oder fünf übervoll mit Verwundeten beladene Lastautos hinter sich her, die keuchend mit dem eigenen Motor nachhalfen und in den vereisten Spurrinnen unter Rütteln und Stoßen abrutschten. BMW-Motorräder mit Beiwagen, die schon den Frankreichfeldzug mitgemacht hatten, Omnibusse, bei denen die Karosserie abmontiert war, ganze Trecks von Wagen mit runder Plane und mit bärenfellzottigen Pferden, die bei jedem Schritt den Kopf schüttelten und dabei einen zweifachen Dampfstrahl ausstießen, schließlich vereinzelte Infanteristen, die ihre Sachen in Kinderwagen vor sich herschoben – sie alle zogen in einer unerbittlichen Folge fortschreitenden Verfalls nacheinander vorbei. Raufeisen meinte, die Jungmannen in der Burg einsperren zu müssen, um ihnen diese Bilder vom Zusammenbruch der Wehrmacht zu ersparen.

Dann kam nur noch schweigende Leere. Am 1. Februar konnte man nach verschiedenen Nachrichten den neuen Frontverlauf auf der Karte einzeichnen: entlang der Linie Kulm–Graudenz–Marienwerder–Marienburg–Danzig – alles Orte, die zweihundert Kilometer westlich von Kaltenborn lagen. Die Burg befand sich also weitab vom Hinterland in einem Kessel, wo die Kämpfe fürs Erste zu Ende waren.

Tiffauges schenkte diesen Ereignissen nur beiläufige Beachtung. Seine besten Stunden brachte er bei Ephraim zu, der wieder ein bisschen Leben gewonnen hatte, eine kleine, seltsam tänzelnde, zuweilen sogar fröhliche Lebensflamme. Eines Tages nahm er ihn auf seine Schultern und ließ ihn spazieren reiten im Dachstuhl des Schlosses, einer riesigen, chaotischen Kulisse, bizarr erhellt von runden Luken, an denen er mit dem Kind stehen blieb, um ihm die weiten Wälder, Seen und Sümpfe rings um Kaltenborn zu zeigen. Ephraim fand Geschmack daran und verlangte seitdem jedes Mal, wenn er Tiffauges sah, seinen Spazierritt auf dem Menschenrücken.

»Ross Israels, trage mich«, sagte er zu ihm, »zeige mir die Bäume; ich muss schauen, wann es taut, denn damit kommt die Nacht des fünfzehnten Nisan.«

Das Spiel war nicht ohne Risiko, und Tiffauges gab sich keiner Täuschung hin über die Gefahr, die dem Kinde mit dem Stern mitten in dieser Höhle voll blonder Raubtierbrut drohte. Aber neben dem Inferno, durch das Ephraim gegangen war, verblasste alles, was nun noch an Bedrohlichem über ihm stand.

Eines Abends indessen, als das Ross Israels gerade einen Spazierritt in den Nordflügel des Schlosses gemacht hatte, sah er sich plötzlich auf Nasenlänge dem SS-Mann Rinderknecht gegenüber, der ein paar Matratzen in einen Abstellraum heraufgetragen hatte. Eine Sekunde lang stutzten beide, dann, ohne sich Zeit zu nehmen, Ephraim abzusetzen, packte Tiffauges den SS-Mann an den Aufschlägen seiner Drillichjacke, hob ihn in die Höhe, lehnte ihn gegen die Wand, presste ihm in diesem hänfenen Schraubstock die Brust zusammen, dass die Rippen krachten. Die Gegenwehr des SS-Mannes begann schon nachzulassen, sein verzerrtes Gesicht wurde blau – da stieß Ephraim einen schrillen Schrei aus, fing an, mit beiden Fäusten auf den Kopf seines Reittiers zu trommeln und mit aller Kraft nach seinen Schultern zu treten. Tiffauges, blind vor Furcht und Wut, hätte sich nicht darum gekümmert, doch das Kind gebärdete sich so wild, dass es hintenüberfiel und sich auf dem Boden wälzte, wo es dann mit leisem nervösem Schluchzen sitzen blieb. Da erst ließ Tiffauges sein Opfer los, das an die Wand gelehnt stehen blieb und wie ein Walross schnaufte, und kniete sich neben das Kind auf den Boden.

»Behemoth, töte ihn nicht!«, sagte der Kleine unter Schluchzen immer wieder. »Die Krieger des Allmächtigen werden das Volk Israel befreien, du aber töte nicht, nein, töte nicht! Ich schwöre dir, er wird nichts verraten!«

Tiffauges trug ihn in sein Kämmerchen, ohne sich weiter um den SS-Mann zu kümmern: Ephraim hatte vielleicht recht, doch blieb das Risiko erheblich. Zum ersten Mal hatte damit das Kind den Franzosen in einer bedeutsamen Frage seinem Willen unterworfen. Tiffauges hatte keinen Zweifel, dass er künftig mehr und mehr zugunsten seines Schützlings abdanken musste. Er ergab sich darein, denn er fühlte, dass die Kraft des Schicksals in dem Kleinen noch stärker lebte als in ihm selbst. Trotzdem wollte er wissen, wer Behemoth sei, und weshalb ihm das Kind diesen Namen gegeben habe. Gleich am nächsten Tag fragte er ihn danach.

»Weil du so stark bist, Ross Israels«, erhielt er zur Antwort. »Eines Tages redete der Allmächtige aus der Mitte des Sturmes mit Hiob und sprach zu ihm:

Sieh Behemoth an, den ich geschaffen wie dich:

er nährt sich vom Gras wie der Ochse.

Sieh, seine Stärke ist in seinen Lenden

und seine Kraft in den Sehnen der Flanken!

Seinen Schweif reckt er wie eine Zeder empor,

Seiner Schenkel Nerven sind fest gebündelt,

Seine Knochen sind wie Röhren aus Erz

und Barren von Eisen sind seine Rippen.

Er ist des Allmächtigen meisterlich Werk;

mit einem Schwerte versah ihn sein Schöpfer.

Die Berge bringen Futter für ihn hervor,

um ihn spielen alle Tiere des Feldes.

Unter den Lotuspflanzen ruht er,

am heimlichen Orte im Schilf der Sümpfe.

Die Lotus bedecken ihn mit ihrem Schatten,

die Weiden im Strome umringen ihn …«

Ephraim hatte diese Verse aus dem Buch Hiob wie den Singsang eines Talmudvorlesers vor sich hin gesungen. Er schloss mit seinem koboldhaften Lachen.

Tiffauges – dem sofort unwiderstehlich Erlkönigs Bild vor Augen stand, wie er am heimlichen Orte im Schilf der Sümpfe ruhte – bewunderte seine Zuversicht in den letztlichen Sieg seines Gottes und rückte, wie an ein wärmendes Feuer, näher zu ihm hin, um teilzuhaben an der Ausstrahlung seines prophetischen Glaubens. Eines Tages ging plötzlich das Wasser aus, weil die Schieber am Speicherbecken des Distrikts durch Bomben zerstört worden waren. Dann begann es wieder spärlich aus den Wasserhähnen zu rinnen, war aber ganz rot und hinterließ eine Rostspur auf Spülbecken und Waschtischen. Ephraim wunderte sich nicht darüber: War es nicht die erste Plage Ägyptens, dass alles Wasser im ganzen Lande in Blut verwandelt wurde? Die Zeit, so sagte er öfters, die Zeit sei reif, und es nahe die Befreiung.

Ende März hörte der Frost plötzlich auf. Ein Unwetter mit Wind und Regen fegte über das ganze Land, trieb Schwärme von Staren, Regenpfeifern und Kiebitzen kunterbunt vor sich her, peitschte das Wasser der wieder eisfreien Seen zu wilden Wellen auf und überschwemmte die Straßen der Dörfer in den Niederungen. Dann ließ der Wind nach, und in großer Höhe sah man die V-förmigen Züge von Wildgänsen dahinfliegen. Die Kinder, die an der Flak Dienst taten, konnten es sich nicht verkneifen, das Feuer auf diese lebenden Ziele zu eröffnen, als sie durch ihr Schussfeld zogen. Wenn ein Geschoss inmitten eines geschlossenen Pulks detonierte, löste sich die ganze Vogelgruppe in einer Wolke von Federn auf, die von den Schützen mit Freudengeheul begrüßt wurden.

Raufeisen war froh über das verfrühte Tauwetter, das einen etwaigen russischen Angriff nur verzögern konnte. Noch am gleichen Abend, nun wieder in der Stille einer Nacht voller Duft und aufbrechender Knospen, war zum ersten Mal von weither das klare, harte, schreckenerregende Klirren russischer Panzerketten zu hören. Hätte es noch den geringsten Zweifel gegeben, wäre er bei der Ankunft eines jungen Bauern verflogen, der ohne Sattel, seltsamerweise mit Sporen an den nackten Füßen, auf einem kleinen Trakehnerfuchs geritten kam. Er war aus Arys, dem rund fünfzehn Kilometer entfernten größeren Marktflecken, der fast vollständig von der Bevölkerung geräumt war; er selbst war mit ein paar alten Leuten und dem Vieh dageblieben. Die Sowjettruppen waren schon seit drei Stunden dort; sie mussten ihm dicht auf den Fersen sein. Sofort ließ Raufeisen sämtliche von ihm vorbereiteten Kampfstände besetzen; die Jungmannen waren schon gruppen- und zugweise hierfür eingeteilt. Das Warten wäre ihnen wohl lang geworden, hätte ihnen das vielstimmige, bedrängende Klingeln der Kettengeräusche überhaupt Zeit zum Denken gelassen. Endlich tauchten im Zwielicht der Dämmerung zwei Panzer auf dem Vorfeld der Burg auf und rollten mit gelöschten Lichtern auf die Ringmauer zu. Es waren T-34-Panzer, jene von sibirischen Bauern hergestellten Dickhäuter. Mit ihren schlecht eingepassten Panzerplatten voll fingerdicker Schweißnähte, mit ihren fließbänderbreiten Ketten und ihren niedrigen, schräg zurückspringenden Linien wirkten sie unglaublich grobschlächtig – aber sie rollten, unempfindlich gegen Kälte und Schlamm, schwerfällig von den Grenzen Asiens heran und zermalmten Hitlers Panzerdivisionen.

Sie stoppten, ihre Scheinwerfer flammten auf und strichen über die blind scheinende Mauer. Hinter ihnen kam eines jener pontonförmigen Amphibienfahrzeuge, die in dieser Gegend voller Seen und grundloser Wege sehr geschätzt waren. Ein Offizier stieg aus und stellte sich vor die Panzer, sodass sich seine Silhouette im Lichtkegel der Scheinwerfer stark abhob. In der Hand hatte er ein Megafon. Leutnant Nikolaj Dimitrijew, ehemaliger Stalingradkämpfer, war wegen seiner Tapferkeit an der Minsker Front ausgezeichnet worden; seine Tollkühnheit und sein Glück waren bei seinen Kameraden sprichwörtlich. Er hob den elektrischen Schalltrichter vors Gesicht und rief im singenden Tonfall der Ukrainer auf Deutsch ein paar Worte herüber.

»Ich bin unbewaffnet! Wir wissen, dass hier nur Kinder sind. Ergebt euch! Es wird euch nichts geschehen. Macht die Tore auf …«

Der Satz wurde durch eine Maschinengewehrgarbe von einem der Seitentürme her unterbrochen. Das Megafon rollte in den Schnee, und Leutnant Dimitrijew griff sich an die Brust. Die Scheinwerfer an den Panzern gingen aus, man sah ihn nicht fallen. Und sofort wurde das Dunkel erneut zerrissen von den Abschussblitzen des auf die Panzer konzentrierten Raketenfeuers. Die Dieselmotoren heulten auf; die beiden Ungetüme traten eiligst den Rückzug an. Eines hatte jedoch schon die Kette eingebüßt; es scherte aus, und mit einem Schlag, der wie auf einem Amboss dröhnte, rammte es das andere. Regungslos standen beide Aug in Auge, wie zwei Stiere vor dem Kampf, und ein Hagel von Geschossen riss alle über den Umriss hinausragenden Teile ab. Dicker, schwarzer Rauch quoll aus den Seiten. Für eine halbe Stunde trat Ruhe ein, doch dann bebte alles vom Donner eines 15,5-cm-Geschützes, das die Ringmauer unter direkten Beschuss nahm, und dem Donnern folgte von allen Gebäuden her die kristallhelle Musik der zersplitterten Fensterscheiben. Im nächsten Augenblick ließ sich weiter entfernt das Grollen der Flakbatterie vernehmen; sie schoss offenbar Flachfeuer auf die Straße nach Schlangenfließ, die sicherlich mit sowjetischen Kolonnen vollgepfropft war.

Es lag nicht in Raufeisens Absicht, die Ringmauer bis zum Äußersten zu verteidigen. Sein Plan war, sie nach der ersten Feindberührung zu räumen und sein Feuer auf die Einfahrt oder die Mauerlücke zu konzentrieren, an der die sowjetischen Panzerkräfte den Einbruch versuchen würden. In dieser Rechnung fehlte jedoch ein wesentlicher Faktor: die richtige Einschätzung der Feuerkraft des Angreifers. Raufeisen war überrascht, welche Unmasse Artillerie über die alten Mauern herfiel. Anstatt nur eine begrenzte Lücke zu reißen, die man leicht hätte abriegeln können, hatte sie es darauf abgesehen, die Festung regelrecht zu schleifen, und bewirkte, dass ganze Mauerflächen den Halt verloren und auf die darunterstehenden Gebäude stürzten. Eine Stunde später gingen zwei auf flache Lastwagen montierte schwere Vierlingsmaschinengewehre, durch die Fahrzeugschuppen gedeckt, in Stellung und nahmen alle Öffnungen in der Schlossfassade unter Feuer; zugleich verteilten sich Haubitzenbatterien – für die Panzerfaust kein sehr gutes Ziel – um die Baulichkeiten. Die Lage der Verteidiger wurde damit unhaltbar. Den Belagerten blieb nur noch der Versuch, sich zu den Panzerspringerkommandos durchzuschlagen, die außerhalb der Ummauerung verteilt waren und den Auftrag hatten, Panzer und Panzerartillerie des angreifenden Gegners von wechselnden, vorher nicht erkennbaren Punkten aus zu stören.

Tiffauges war gerade damit fertig, die feine Kleidung, die er als Kaltenborns Herr getragen hatte, mit seinen alten Kriegsgefangenenklamotten mit den zwei riesigen Buchstaben KG zu vertauschen, als auch schon die ersten Mörsergranaten auf die Ziegeldächer regneten. Er hastete auf den Dachboden hinauf; zur Eile trieb ihn der Anblick, der sich ihm unterwegs in einem Eckzimmer mit zertrümmerter Türe bot: Die Leiber dreier Jungmannen lagen kreuz und quer über dem Gestell eines leichten MGs, das auf das schwarze Viereck des Fensters gerichtet war. In einer Dachkammer entwickelte ein Stapel Matratzen fetten, stickigen Rauch, der am Boden hinkroch, obwohl große Stücke Sternhimmel in den Ziegeln klafften. Tiffauges stürzte in Ephraims Verschlag.

Das Judenkind saß vor dem wackligen kleinen Tisch in seinem Kämmerchen; es hatte ihn mit einem Rechteck aus weißem Tuch bedeckt, und darauf hatte es etliche Scheiben Brot ausgebreitet, einen Hammelknochen, verschiedene Kräuter und ein Glas mit Wasser, das von Wein gerötet war.

»Die Russen schießen das Schloss in Trümmer.«

»Ephraim, wir müssen fort!«, rief er ihm schon beim Eintreten zu. »Wodurch ist diese Nacht des fünfzehnten Nisan verschieden von allen anderen Nächten?«, fragte Ephraim mit feierlichem Ernst.

»Komm, wir haben keine Minute Zeit zu verlieren!«

»Behemoth, Meisterwerk des Allmächtigen, du musst antworten: ›In dieser Nacht zogen wir aus Ägypten in die Freiheit.‹ Wodurch ist diese Nacht von allen anderen Nächten verschieden?«

»In dieser Nacht zogen wir aus Ägypten in die Freiheit«, wiederholte Tiffauges fügsam.

Doch ein Erdbeben schüttelte den Boden unter ihren Füßen; Gipsbrocken hagelten von der Decke.

»Komm, Ephraim, wir müssen fort!«

»Ja, wir gehen gleich«, sagte das Kind und schob den Tisch weg. »Die Krieger des Allmächtigen schlagen mit Tod die Erstgeburt der Ägypter, unsere Flucht jedoch decken sie. Aber wenn du dich nicht mit mir an den Sedertisch setzen willst, so lass mich wenigstens die ersten Verse der Haggada sprechen.«

Er saß da, in Andacht versunken, seine Lippen bewegten sich. Einige Mal krachten noch Granaten, dann folgte eine Stille, beängstigender als das Artilleriefeuer. Tiffauges wurde ungeduldig.

»Deine Haggada betest du auf meinen Schultern zu Ende. Aufgesessen jetzt auf das Ross Israels!«, befahl er und ging in die Knie, um das Kind aufsteigen zu lassen.

Als er aus dem Kämmerchen trat, gebückt, damit das Kind auf seinen Schultern durch die Tür kam, ratterten überall Maschinenpistolen; die Artillerie schwieg weiterhin. Das deutete darauf hin, dass der Sturm auf das Schloss begonnen hatte. Er musste umkehren; der Dachstuhl des linken Flügels brannte lichterloh. Es blieb nichts anderes übrig, als die Mitteltreppe hinunterzugehen und sich in den Haupttrakt vorzuwagen, von wo der Kampflärm kam. Mit jedem Schritt stieß Tiffauges auf gefallene Jungmannen: die einen, einzeln oder in Trauben aneinander, unversehrt, als ob sie schliefen – Tiffauges dachte gequälten Herzens an das Hypnodrom –, die anderen verstümmelt, zerfetzt, nicht mehr zu erkennen. Auf Russisch gebrüllte Befehle und Revolverschüsse zwangen ihn zum Rückzug ins nächsthöhere Stockwerk. Eine Tür stand offen: das Dienstzimmer des Kommandeurs. Er stürzte hinein. Das große Fenster über der Terrasse mit den drei Schwertern gähnte im Hintergrund wie ein Granateinschlag. Tiffauges lehnte sich an einen Wandteppich, um Kräfte zu sammeln. Da ertönte der Schrei. Tiffauges erkannte ihn sogleich wieder und wusste: Zum ersten Mal hörte er ihn vollkommen rein. Da war sie wieder, diese langgezogene, kehligperlende Klage voll verschiedenster Unter- und Obertöne, solchen, die eine seltsame Fröhlichkeit, anderen, die unerträglichstes Leid verströmten; sie hatten nie aufgehört, in ihm zu erklingen – von seiner gramvollen Kindheit auf den eiskalten Korridoren von St. Christophorus an bis in die Tiefe des Rominter Waldes, als sie aufstieg, den Tod der Königshirsche zu grüßen. Doch was da widerhallte aus ferner oder naher Zeit, war nur blindes Herantasten gewesen an diesen überirdischen Gesang, als wie er soeben in kaum zu ertragender Klarheit von der Schwerter-Terrasse aufgestiegen war. Er wusste, er hörte zum ersten Mal im Urzustand den Aufschrei zwischen Leben und Tod, der seines Schicksals Grundton war. Und abermals – wie am Tag seiner Begegnung mit den gefangenen Franzosen auf dem Heimweg, aber unvergleichlich viel eindringlicher – stand ihm des Erlkönigs friedvolles, vergeistigtes Antlitz vor Augen, wie er unter seinem Bahrtuch aus Torf begraben lag, eine letzte Zuflucht, ein letzter Hort.

»Hast du es gehört?«, sagte er. »Ich glaube, auf der Terrasse liegt jemand im Sterben. Siehst du etwas?«

Und weil Ephraim, wenn er sich hinausbeugte, das Geländer der Terrasse unterscheiden konnte, berichtete er, was er in dem sternschimmernden, unaufhörlich von Explosionen durchzuckten Dunkel sah. Die drei Schwerter ja, aber sie sahen aus, als wäre an allen etwas Dunkles, Dickes, als wären aus ihnen Schäfte von drei Fahnen aus schwerem Brokat mit tiefen schwarzen Falten geworden.

Er ging wieder zurück zur Haupttreppe. Eben war er auf dem Treppenabsatz im ersten Stock angelangt, da zwangen ihn Detonationen in unmittelbarer Nähe, sich rasch in eine Nische zu drücken. Russische Soldaten – die ersten, die er sah – stießen einen Mann vor sich her; er stolperte, fiel, stand unter Fußtritten wieder auf. Ein Rippenstoß, er taumelte näher heran, und Tiffauges sah einen Augenblick lang ein dick verschwollenes Gesicht vor sich, ein Auge rann zerquetscht, als blutig-glasige Flüssigkeit, die Wange hinunter. Er erkannte Raufeisen. Der SS-Mann fiel abermals hin; mit beiden Händen versuchte er sich am Treppengeländer wieder hochzuziehen. Er kniete noch, als ein Soldat den Pistolenlauf in seinen Nacken setzte. Ein dumpfer Knall: Raufeisens Kopf wurde heftig nach vorn geschleudert, prallte von der Treppenwand zurück, dann glitt der leblose Körper auf die Stufen. Da nahm Tiffauges Ephraims magere Knie in die Hände, zog sie nach vorn und barg sein Genick tiefer zwischen Ephraims Schenkel, als fände es dort besseren Schutz. Und in seiner Seele hallte ein Satz aus seiner Kindheit wieder: … zu dem einzigen Ende, dass im Verein mit ihrem guten Glücke desselbigen Unschuld ihm diene als Gewähr und Empfehlung bei der göttlichen Huld, auf dass er zur Errettung gelange.

Die Treppe war im Moment unpassierbar. Es blieb nichts anderes übrig, als nochmals nach oben zu gehen, vielleicht die Kapelle zu erreichen, sich auf der großen Terrasse zu verstecken. Tiffauges überlegte kaum; er handelte unter dem Zwang des Augenblicks. In der Kapelle war ein Teil der Decke eingestürzt. Aber die Tür zur Terrasse stand weit offen. Er tat ein paar Schritte und erstarrte vor dem, was er sah.

Eine makellose Schneedecke, die das Tauwetter unberührt gelassen hatte, lag auf den Steinfließen der Terrasse. Das Geländer war weiß, nur zu Füßen der drei Schwerter war es weithin rot, als hätte man unter jedes einen Purpurmantel gebreitet. Sie waren da, alle drei, Hajo, Haro und Lothar, die beiden rothaarigen Zwillingsbrüder als treue Gefährten außen, der Junge mit dem weißen Haar in der Mitte, alle drei durchbohrt vom Omega bis zum Alpha, die Augen weit in das Nichts starrend, und jeder von seiner Schwertspitze wieder anders verwundet. Bei Hajo war sie über dem linken Schulterblatt herausgekommen, steckte also schräg, und es sah aus, als habe er ein Knie angezogen und neige den Kopf auf die andere Seite, um das gefährdete Gleichgewicht wiederherzustellen. Von einer seiner Zehen, die in krampfhafter Verzerrung erstarrt waren, zog sich, im Hauch der Nacht zitternd, ein Faden geronnenen Blutes zum Geländer hinüber. Haro bog – so hätte man meinen können – seinen Kopf nach rechts, zu Lothar hin, doch rührte dies daher, dass die Schneide des Schwertes links an seiner Kehle herauskam und noch bis zum Ohr hinaufging. Er hatte die Fäuste geballt, die Knie leicht durchgebogen, die Haltung eines Hochspringers in vollem, himmelan strebendem Schwung. Lothar hatte das Haupt zurückgeworfen. Sein Mund war geöffnet, und er presste die Zähne auf die spitze Klinge, die zwischen ihnen steckte. Er war regelrecht gepfählt, kerzengerade, die Beine geschlossen, die Arme angelegt, als wäre er nichts als die Scheide des ehrwürdigen Schwertes, das durch seinen Leib ging. Die Sterne waren erloschen, das kindliche Golgatha stand vor schwarzem Himmel. Auf Silber ein schwarzes Schildhaupt, das Ganze belegt mit drei pfahlweis gestellten roten Schwertern, murmelte Tiffauges.

Eine Explosion, von der die Terrasse wankte, riss die Kapelle in Stücke, und ein Hagel von Stein- und Ziegelbrocken prasselte auf Tiffauges und Ephraim hernieder.

»Ephraim«, sagte Tiffauges, »ich habe meine Brille nicht mehr. Ich sehe fast nichts mehr. Führe mich!«

»Das macht nichts, Ross Israels! Ich pack dich an den Ohren und führe dich!«

Eine Serie von Leuchtkugeln zerplatzte über den Bäumen zu feurigen Tränen.

»Ephraim, ich sehe eine geschlossene Faust am dunklen Himmel. Sie ballt sich fester, und Blutstropfen rinnen heraus.«

»Auf, vorwärts, Behemoth, ich glaube, du wirst meschugge!«

»Ephraim, heißt es nicht in den heiligen Büchern, sein Haupt und sein Haar seien weiß wie Schnee, seine Augen seien Feuerflammen, seine Füße gleich rotglühendem Erz im Schmelzofen, und aus seinem Munde rage ein zweischneidiges Schwert?«

»Behemoth, wenn du nicht umkehrst, reiß ich dir die Ohren ab!« Tiffauges folgte willig und war nun bloß noch ein kleines Kind zwischen den Füßen und in den Händen des Sterntragenden. Sie hatten noch keine zehn Meter hinter sich, da wurden sie von einer Gruppe russischer Soldaten angehalten, die ihre Maschinenpistolen auf sie richteten. Aber vor Ephraims überschnappender Stimme, die ihnen zurief »Wojennoplennyj! Francuzskij plennik!«, wichen sie zurück und gaben dem Kindesträger den Weg frei.

Im Schloss, von dem offenbar nur der rechte Flügel mit dem Atlasturm unzerstört geblieben war, hatten die Kämpfe aufgehört. Doch mussten sowjetische Säuberungstrupps nun darangehen, nacheinander die in Wald und Heide verstreuten Jungmannenkampfkommandos auszuheben, und ab und zu war noch Gewehrfeuer zu hören. Tiffauges drückte sich an den brennenden Gebäuden entlang, strich an den Gitterstäben des Hundezwingers hin, in dem, mit der Maschinenpistole niedergemetzelt, die elf Dobermänner das letzte Kaltenborner Jagdtableau bildeten, und schlug die Straße nach Schlangenfließ ein, da sie einigermaßen dem rettenden Westen zu ging. Wie ein Schiffbrüchiger mitten im Ozean, der ohne eine Hoffnung eben instinktiv schwimmt, machte er all die Bewegungen, die ihn hätten zur Errettung führen können, ohne dass er einen Augenblick glaubte, er werde davonkommen. Er ging durch Schlangenfließ; es war taghell beleuchtet von Häusern, die wie Fackeln brannten und von denen Rauchsäulen mit kleinen lichten Flämmchen dazwischen hoch in den Himmel stiegen. Dann schlug wieder die Dunkelheit über ihm zusammen. Er ging, doppelt blind, noch ein paar Minuten weiter, da zog ihn Ephraim plötzlich an beiden Ohren.

»Halt, Behemoth! Horch!«

Er blieb stehen. Er horchte. Durch die nächtliche Stille drang das vielstimmige, silberne Kettenklirren einer vorrückenden Panzerkolonne mit bedrohlicher Deutlichkeit herüber. Eine rote Leuchtrakete, die kaum einen Kilometer vor ihnen aufstieg, zeichnete mit scharfem Zischen ihre Kurve ins Dunkel. Und fast sofort heulten die ersten Granaten heran und krepierten auf der Straße. Die Flakbatterie war also noch nicht niedergekämpft; sie befolgte das Signal der Panzerspringer.

»Wir müssen weg von der Straße«, bestimmte Ephraim. »Du gehst links durch die Heide, wir machen einen Bogen um die Panzerkolonne.«

Ohne Widerrede bog Tiffauges ab zur linken Straßenböschung, sank in den schmutzigen Schneeverwehungen an ihrem Rande tief ein und fühlte unter seinen Füßen den weichen, tückischen Boden der Heide. Ein Strauch zerkratzte ihm das Gesicht, und von da an streckte er beim Gehen die Hände aus wie ein Blinder. So schritt er lange dahin; das Artilleriefeuer von der Straße war zuletzt nur noch als vages, gewittriges Rumpeln vernehmbar. Allmählich wurde der Grund unter ihm schwammig; mühsam musste er seine Füße bei jedem Schritt dem Sog des Bodens entreißen. Endlich stießen seine Hände auf Zweige und Stämme, auf ein kleines Gehölz, und er erkannte die Schwarze Moorerle. Er wollte stehen bleiben, umkehren, doch eine unwiderstehliche Gewalt stieß ihn an den Schultern vorwärts. Und je tiefer seine Füße in die wasserglucksende Moorerde einsanken, desto mehr fühlte er, dass das Kind, das doch so schmal, fast durchsichtig war, auf ihm lastete wie ein Bleigewicht. Er ging weiter, und der Schlamm stieg an seinen Beinen immer höher, und die Last, die ihn drückte, ward mit jedem Schritt schwerer. Es bedurfte jetzt übermenschlicher Mühe, den zähen Widerstand zu überwinden, der ihm den Bauch, die Brust zusammenpresste, doch er hielt durch, denn er wusste, es war alles gut so. Als er ein letztes Mal zu Ephraim aufblickte, sah er nichts als einen sechszackigen, goldenen Stern, der langsam im schwarzen Himmel kreiste.