23

ALWYN SASS AUF der Plane im hinteren Teil von Rallies Wagen, zusammen mit den anderen Soldaten des Zuges. Jeder Mann blickte in eine andere Richtung und hielt seine geladene Muskete schussbereit. Alwyn sicherte nach hinten und beobachtete, wie die Lichter von Nazalla in der Dunkelheit verschwanden.

Die Ereignisse der letzten Stunden gingen ihm wie in einer Endlosschleife durch den Kopf. Er hatte die Schatten beschworen, und sie waren seinen Befehlen gefolgt.

Doch dann hatten sie Unschuldige getötet. Das hatte er nicht gewollt. Die Schatten mussten gewusst haben, dass er das nicht beabsichtigt hatte, hatten es jedoch trotzdem getan.

»Du solltest dich ein bisschen hinlegen.« Yimt saß auf dem Kutschbock und drehte sich jetzt zu Alwyn herum.

»Es geht mir gut. Ich muss nur immerzu daran denken, was da vorhin geschehen ist.«

»Das war nicht deine Schuld, Ally. Diese Leute wussten schon den ganzen Tag nicht, ob sie uns auf die Wange küssen oder eine Mistgabel in den Hintern rammen sollen. Am Ende hat die Mistgabel-Mentalität gewonnen. Die Finsteren Verschiedenen haben nur das getan, wozu Soldaten ausgebildet sind. Hätten sie es nicht getan, dann wären wir vermutlich jetzt nicht hier.«

»Glaubst du das wirklich? Bist du wirklich der Meinung, dass es einfach nur Soldaten sind … so wie wir?«, erkundigte sich Alwyn.

Yimt betrachtete ihn eine Weile, bevor er antwortete. »Ich hoffe es jedenfalls«, meinte er dann. »Und jetzt schlaf ein wenig.«

Alwyn gähnte und stellte überrascht fest, wie müde er war, obwohl ihm so beklommen zumute war. Dann fiel ihm wieder ein, dass er ja die ganze letzte Nacht nicht geschlafen hatte. Das Geräusch der Räder auf der Straße, der sie folgten, lullte ihn in den Schlaf. Er schüttelte den Kopf und reckte die Arme. Dann legte er die Muskete auf das Segeltuch und suchte eine bequemere Position für sein Holzbein. Es schmerzte noch immer. Er wusste, dass Zwitty etwas Tabak von dieser Wasserpfeife aus dem Blauen Skorpion dabeihatte, aber er beschloss, ihn erst später um ein wenig davon zu bitten. Bis jetzt war dieser Tabak das Einzige, was die Schmerzen in seinem Stumpf hatte lindern können.

Der Planwagen ächzte protestierend, als seine Räder durch ein Schlagloch rumpelten, und seine Insassen wurden kräftig durchgerüttelt. Alwyn gähnte erneut und warf einen müden Blick auf den Weg, den sie bereits zurückgelegt hatten. Ein Dunstschleier verbarg Nazalla vor seinem Blick. Er drehte sich um und schaute auf die Wüste. Die Morgenröte färbte das Grau und Schwarz in den Dünen mit einem dunklen Rot. Seine Stimmung hob sich ein wenig, als die Schatten verschwanden und die Formen der Wüste deutlicher wurden, obwohl sie sich auf dem Weg ins Ungewisse befanden.

Er drehte sich noch weiter herum und versuchte, etwas von dem sehen zu können, was vor ihnen lag. Mistress Rote Eule und Mistress Tekoy ritten auf den Leit-Brindos. Angeblich, weil sie so Tyuls Spur in der Wüste besser folgen konnten. Alwyn vermutete jedoch, dass sie es vor allem deshalb taten, um weiter von ihm wegzukommen. Er konnte es ihnen nicht verübeln … Seit ihrer Flucht in die Wüste machten die anderen Soldaten ebenfalls einen großen Bogen um ihn.

Alwyn überlegte zum wiederholten Male, ob das hier wirklich das Richtige war, und er war froh, dass er die Entscheidung nicht hatte treffen müssen. Es kam ihm leichtsinnig vor, ohne die Hilfe des Regiments hinter Tyul und Jurwan herzujagen, vor allem weil diese beiden Elfen nicht ganz richtig im Kopf waren. Zwitty hatte etwas in der Art gemurmelt, dass sie vermutlich nur Nüsse in der Wüste sammeln würden, aber ein scharfer Blick von Yimt hatte ihn zum Schweigen gebracht. Am Ende spielte es sowieso keine Rolle mehr, denn die aufgebrachten Bürger von Nazalla hätten sie in Stücke gerissen, wenn sie versucht hätten, zum Palast des Vizekönigs zurückzukehren … oder aber die Schatten hätten sämtliche Einwohner abgeschlachtet.

Und selbst wenn sie es unbeschadet durch die Menge zum Palast zurückgeschafft hätten, ohne dabei Unschuldige zu ermorden, hätte es Korporal Arkhorn keineswegs zugelassen, dass die drei Ladys ohne Eskorte in die Wüste fuhren. Also bildeten sie wieder einmal die glänzende Spitze des Bajonetts des Calahrischen Imperiums, das auf dem Weg in die nächste Bredouille voranging.

Alwyn seufzte und gähnte gleichzeitig, hob schließlich den Kopf, um in den heller werdenden Himmel zu blicken. Jedes Mal, wenn er das tat, fürchtete er sich davor, was er vielleicht sehen könnte. Der Weg nach Luuguth Jor zum Roten Stern damals war zumindest in gewisser Weise von Hoffnung gesäumt gewesen. Es hatte ihnen die Chance gewinkt, den Schwur zu lösen und sich aus den Krallen der Schattenherrscherin zu befreien. Doch dann begannen die Kämpfe, das endlose Gemetzel. Jetzt würde ein weiterer Stern auf die Erde fallen, und alle, das Imperium, die Schattenherrscherin und vielleicht sogar Kaman Rhal persönlich, würden sich gegenseitig abschlachten, um ihn zu bekommen.

Alwyn senkte den Kopf und drehte sich zur Vorderseite des Wagens, als er Fetzen einer Unterhaltung zwischen Yimt und Rallie mitbekam. Die beiden diskutierten gerade alte Familienrezepte, und Alwyn gab sich wirklich Mühe, sie nicht dabei zu belauschen. Doch schon die Namen einiger Zutaten ließen seinen Magen revoltieren.

»Ich glaube, ich hole jetzt ein bisschen Schlaf nach, Korporal. « Alwyn stieß Yimt mit dem Schaft seiner Muskete an.

»Was? Klar, Ally.« Yimt streckte die Hand aus und klopfte ihm freundlich auf den Arm. »Ruh deine Augen aus. Du hattest eine anstrengende Nacht.« Er hob die Stimme, als er sich an die anderen Soldaten wandte. »Das Gleiche gilt für euch alle. Nehmt eine Mütze Schlaf, solange ihr es noch könnt. Ich denke, dass wir nicht viel Schlaf bekommen werden, wenn wir unser Ziel erreicht haben.«

»Danke«, erwiderte Alwyn, während Yimt bereits sein Gespräch mit Rallie fortsetzte. Die anderen Soldaten des Zuges versuchten es sich auf dem Planwagen so bequem wie möglich zu machen. Es war keine große Überraschung, dass niemand versucht hatte, unter die Plane zu kriechen, wo Jir und die Sreex sich aufhielten.

Alwyn legte den Kopf auf seinen Arm und schloss die Augen.

Die ersten Sonnenstrahlen schienen ihm ins Gesicht, während die Vision von einem Stern seine Träume erfüllte.

Als er die Augen einen Moment später öffnete, fand er sich auf dem Gipfel eines Berges wieder.

Instinktiv wollte er nach seiner Muskete greifen, obwohl er wusste, dass er träumte. Er war in diesem Zustand bereits zuvor im Reich der Schattenherrscherin gewesen, aber jetzt war es anders. Die Wolfseichen wuchsen hoch und stolz, und ihre sanft geschwungenen Äste erhoben ihre mächtigen Kronen in einen strahlend blauen Himmel. Eine Elfe schlenderte zwischen den Bäumen einher und strich zärtlich über die Stämme, an denen sie vorbeiging. Sie trug ein langes, fließendes rotes Kleid und wirkte jünger als Alwyn. Sie war wunderschön, und ihr blondes Haar fiel über ihre Schultern. Außerdem kam sie ihm bekannt vor.

Er ging auf sie zu, sich bewusst, dass er immer noch seine Uniform trug. Er wollte die Muskete schultern, aber etwas veranlasste ihn, sie in beiden Händen zu halten. Er wusste nur nicht, was es war. Vögel zwitscherten fröhlich in den Blättern, und die Luft war warm und einladend.

»Hallo«, sagte er, obwohl er noch ein ganzes Stück entfernt war. Aber er wollte sie nicht erschrecken.

Die Elfe drehte sich um und lächelte ihn an. Alwyn erwiderte das Lächeln. »Ich kenne Sie, nicht wahr? Ich habe nicht viele Elfen getroffen, aber ich komme einfach nicht darauf, woher ich Sie kenne.«

DU KENNST MICH, ALWYN RENWAR, UND ICH KENNE DICH.

Alwyn hätte vor Schreck über den Klang ihrer Stimme beinahe seine Muskete abgefeuert. Er sah sich hastig um, weil er erwartete, dass jeden Moment Rakkes zwischen den Bäumen hervorstürmen und sich auf ihn stürzen würden. Stattdessen liebkoste eine sanfte Brise die Blüten der Bergblumen, und ein Schmetterling taumelte durch die Luft, bis er auf dem Korn seiner Muskete landete.

HAB KEINE ANGST. ICH WOLLTE NUR, DASS DU MEIN REICH SIEHST, WIE ES IRGENDWANN SEIN WIRD, sagte die Schattenherrscherin.

Sie lächelte Alwyn immer noch zu, während sie ihre langen, blonden Zöpfe zurückwarf. Diese Geste erinnerte ihn an Nafeesah. »Nein, du willst alles zerstören.«

Ihre Miene verdunkelte sich, und im selben Moment verdüsterte sich auch der Himmel. Die Brise verwandelte sich in einen kalten Wind, der dem Schmetterling auf seiner Muskete die Flügel zerriss. Er fiel zu Boden und flatterte hilflos mit seinen Stummeln im Dreck. Einen Moment später lächelte sie wieder und holte damit den warmen, sonnigen Tag auf die Bergspitze zurück. ICH MÖCHTE DIE DINGE RICHTIGSTELLEN. VERSTEHST DU DAS NICHT? ES IST SO VIELES VERKEHRT AUF DIESER WELT. IHRE VÖLKER FÜHREN GEGENEINANDER KRIEG. SIE MORDEN UND ENTWEIHEN DIE NATUR. ICH WILL FRIEDEN, ALWYN. ICH WILL, DASS DIE DINGE SO SIND, WIE SIE … SEIN SOLLTEN.

»Was ist mit den Rakkes und den Dunkelelfen? Den Blutbäumen?« Alwyn rechnete nach wie vor jeden Moment mit einem Angriff. »Was ist mit uns? Warum wir?«

Ich wollte euch nichts Schlechtes, wirklich nicht, sagte sie. Mein Begehr war immer nur darauf gerichtet, das Schlechte, das getan wurde, auszumerzen. Ich will heilen, was verwundet ist, und zurückgeben, was verloren wurde. Während sie sprach, sickerte blubbernd schwarze Flüssigkeit an die Oberfläche einer kleinen Lichtung und bildete ein Becken. Sie fuhr mit der Hand darüber, und die Oberfläche veränderte sich, zeigte Alwyn eine endlose Folge von Szenen des Todes und der Vernichtung. Und keine einzige von ihnen war von ihrer Hand herbeigeführt.

»Ich war in Luuguth Jor, und ich war auf den Inseln. Du kannst mich nicht zum Narren halten«, sagte Alwyn.

VERÄNDERUNG IST SCHMERZHAFT, ALWYN, ABER SIE IST NOTWENDIG. SIEH, WAS DU IN DEINEN HÄNDEN HÄLTST. IST DER TOD DURCH DEINE WAFFE EIN GERINGERER TOD?

Alwyn schüttelte den Kopf in dem Versuch, seine Gedanken zu klären. Das hier hatte er nicht erwartet. Ihre Argumente besaßen eine Logik, die Alwyn nicht so einfach abtun konnte. »Bitte, ich will in Ruhe gelassen werden. Ich will, dass dies hier endlich vorbei ist.«

Die Schattenherrscherin lächelte. Es wurde kalt auf dem Berggipfel, und Dunkelheit senkte sich herab. Die Farbe sickerte aus der Welt und ließ nur Schattierungen von Grau zurück, die mit Schwarz durchzogen waren. Ein eisiger Regen setzte ein; jeder Tropfen war eine kleine Kristallscherbe aus Eis. Der Wind fegte über den Boden, riss Gras und Blumen heraus und entblößte den Fels darunter. Die Wolfseichen krümmten sich, verwandelten sich in Sarka Har, und die Schatten dunkler Kreaturen säumten den Waldrand. KOMM, ALWYN, LASS MICH DIR ZEIGEN, WIE DAS GEHT. Sie streckte ihre Hand aus.

Alwyn starrte sie an, eine Ewigkeit, wie ihm schien. Dann streckte er seine eigene Hand aus. Die Schatten hüllten sie beide ein, und da sah Alwyn einen Weg, seinen Schmerzen ein Ende zu bereiten.

 

Obwohl sein Instinkt mit jeder Faser seines Körpers schrie, dass dies ein Fehler war, warf Konowa die Muskete über seine Schulter und bestieg den Sattel, der auf dem Kamel festgeschnallt war. Beim Gestank dieses Biests wäre er fast nach hinten wieder heruntergefallen. Nichts, was lebte und gesund war, sollte so übel riechen, und doch schien dieses Vieh keineswegs an der Schwelle des Todes zustehen. Noch nicht, jedenfalls, dachte er.

Er unterdrückte seinen Brechreiz und hielt sich am Sattelknauf fest, bis Hand und Armmuskeln vor Schmerzen brannten, während das Kamel sich ruckartig aufrichtete. Konowa blickte zum Boden und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan. Er wusste zwar, dass er nicht einmal drei Meter hoch saß, aber vom Sattel aus fühlte es sich an wie dreihundert Meter, und es sah auch so aus. Ein kleiner Fehler, und er würde in den Tod stürzen.

»Atmen Sie, Major. Ein Ritt auf einem Kamel ist eigentlich sehr angenehm, sobald sie sich an die Höhe gewöhnt haben.« Der Suljak trieb sein eigenes Kamel neben das von Konowa. Er hockte auf dem Sattel, ein Bein unter den Körper gezogen, und wirkte dabei so behaglich, als würde er auf einem Kissen am sicheren Boden sitzen.

»Ich beabsichtige nicht, so lange hier oben zu bleiben, dass ich mich daran gewöhnen könnte«, erwiderte Konowa. Nachdem sich sein Kamel aufgerichtet hatte, stand es vollkommen regungslos da und machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen. Konowa wusste nicht genau, ob er das Vieh mit dem Absatz antreiben sollte, die flache Seite seines Säbels dafür benutzen, mit den Zügeln klatschen oder es einfach erschießen und zu Fuß gehen sollte. »Haben Sie zufällig eine Empfehlung, wie man dieses Ding in Bewegung setzt?«

»Denken Sie daran, dass dieses Tier sowohl empfindsam als auch intelligent ist. Es hat Gefühle und weiß genau, wann sein Reiter Angst hat.«

»Ich habe keine Angst«, widersprach Konowa. »Ich mache mir nur Sorgen.«

»Natürlich«, gab der Suljak zurück. »Zunächst nehmen Sie die Zügel auf, aber ziehen Sie nicht zu fest, und lassen Sie sie nicht zu locker, und dann genießen Sie den Ritt. Das Kamel hat das hier schon sehr oft getan. Sie brauchen nur oben sitzen zu bleiben und majestätisch auszusehen.«

Konowa schnaubte. »Ich würde lieber da unten müde und staubig aussehen«, konterte Konowa und deutete auf den Boden. Das Kamel machte unvermittelt einige Schritte nach rechts und hätte Konowa fast seinen Wunsch gewährt.

Der Suljak lächelte. »Elfen verblüffen mich immer wieder. Wussten Sie, dass diejenigen, die in den Außenposten in der Wüste stationiert waren, auch nicht sonderlich gern geritten sind? Einige der Stämme wollten das ausnutzen und haben ein paar Karawanen etliche Meilen vom nächsten Außenposten entfernt überfallen. Sie dachten, dass die Elfen niemals so tief in der Wüste patrouillieren würden. Doch die Räuber mussten zu ihrem Ärger feststellen, dass sich Elfen sehr schnell auf ihren zwei Beinen bewegen können.«

Über seine Elfen zu sprechen besserte Konowas Laune immens. Als er von ihren Taten hörte, schwoll ihm vor Stolz die Brust. »Sie haben sie also getroffen? Ich hatte größte Schwierigkeiten, überhaupt Informationen über sie zu bekommen. Vizekönig Alstonfar war alles andere als zuvorkommend. Er meinte nur, sie würden die Einsamkeit der Wüste der Stadt vorziehen. Ich hatte gehofft, mehr von ihm über sie zu erfahren, aber er ist den ganzen Morgen ziemlich beschäftigt gewesen.« Konowa deutete über sie hinweg auf die Stadt.

Der Suljak wurde stiller. »Es ist schon eine Weile her, dass ich einen Außenposten aufgesucht habe. In letzter Zeit hatte ich sehr viel in Nazalla zu tun, weil ich mit dem Vizekönig verhandeln musste. Aber Ihre Elfen sind sehr interessante Gestalten.« Der Suljak zögerte, als würde er lieber nicht über dieses Thema sprechen.

»Sie sind gute Soldaten.« Konowa wusste, dass er klang, als würde er sie verteidigen. »Genau genommen sind es die besten, die es gibt.«

»Besser als die letzte Ernte Stählerner Elfen?«

Konowa richtete sich vorsichtig im Sattel auf und sah sich um. Es war kein Soldat in Hörweite. »Ich bin stolz auf dieses Regiment, aber wenn meine Brüder wieder bei den Stählernen Elfen aufgenommen werden und ihre Ehre wiederhergestellt ist, dann erst wird dieses Regiment vollkommen sein.«

»Und Sie sind sicher, dass sich diese Elfen dem Regiment anschließen werden? Erwarten Sie auch, dass sie den Blutschwur leisten, der Sie jetzt bindet, und zwar, falls die Gerüchte stimmen, auf Leben und Tod?«

Das war ein heikler Punkt. Konowa hatte sich tausendmal die Szene seiner Wiedervereinigung mit den Elfen aus seinem Heimatland ausgemalt, war aber nie über die erste Begrüßung hinausgekommen. Er wusste, worauf er hoffte, nämlich dass die Elfen ihn wie einen lange verschollenen Bruder willkommen heißen und ihm für seinen Kampf gegen die Schattenherrscherin ihre Loyalität geloben würden, damit sie für immer ihren Makel auslöschen konnten. Nur, würden sie das wirklich tun? Kritton hatte auf der ganzen Reise nach Luuguth Jor versucht, ihn umzubringen, und war dann im relativ zivilisierten Elfkyna geblieben. Wie würden sich die Elfen verhalten, die in die Wüste verbannt worden waren, obwohl sie kein Verbrechen begangen hatten außer dem, dass sie ihm gefolgt waren? Würden sie Konowa als ihren Retter betrachten oder als den Elf, der für ihre Leiden verantwortlich war? Schließlich hatte er als ihr kommandierender Offizier den Vizekönig von Elfkyna wegen dessen vermuteten Verbindungen zur Schattenherrscherin kaltblütig ermordet. Weil Konowa den Vizekönig nicht vor Gericht gestellt hatte, hatte seine überstürzte Tat einen Schleier des Argwohns hinsichtlich der Zuverlässigkeit aller Elfen geworfen, was letztlich zu seinem und dann auch zu ihrem Sturz geführt hatte.

»Das wird sich schon ergeben«, erwiderte Konowa. Er klang weit überzeugter, als er sich fühlte.

»Das hoffe ich, aber ich sollte Sie wohl warnen, Major – selbst eine kurze Zeit in der Wüste kann einen Mann sehr verändern, und auch einen Elf. Ich würde bei allem Optimismus ein wenig Vorsicht walten lassen.«

Während Konowa darüber nachdachte, näherte sich Vizekönig Alstonfar auf seinem Kamel. Trotz seiner Körperfülle saß er entspannt im Sattel. »Der Prinz wünscht Ihrer beider Anwesenheit an der Spitze der Kolonne. Wir rücken aus.«

»In der Stadt brodelt es immer noch«, sagte Konowa. »Glauben Sie wirklich, dass wir einfach hier herausspazieren können?«

Vizekönig Alstonfar und der Suljak wechselten einen vielsagenden Blick, bevor der Vizekönig antwortete. »Es wurden Zugeständnisse gemacht. Bedeutende finanzielle Zugeständnisse an die Familien derer, die in der letzten Nacht Angehörige verloren haben.«

»Sie haben sie mit Gold bestochen?« Konowa drehte sich trotz des Risikos im Sattel herum und betrachtete den Suljak genauer. »Ein paar Goldmünzen genügen, um uns freies Geleit zu garantieren?«

»Nein. Goldmünzen und meine Versicherung, was das Schicksal des Sterns angeht. Politik ist eine schmutzige Angelegenheit, Major. Dennoch ist sie ein notwendiges Übel.«

Erneut wechselten der Vizekönig und der Suljak einen Blick, und auch dieser gefiel Konowa nicht. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er auf Antworten gedrängt, aber wie so oft war die Zeit nicht auf seiner Seite.

Sie ließen ihre Zügel klatschen, und ihre Kamele setzten sich in Bewegung. Vor dem Palast war immer noch eine ansehnliche Menschenmenge versammelt, aber sie blieb ruhig, als die Tore aufschwangen. Der Ärger der Einwohner war fühlbar, aber sie hielten ihn zurück. Der Suljak winkte der Menge zu, und die Menschen traten langsam vom Tor zurück.

Die Stählernen Elfen hatten sich Schulter an Schulter jeweils sechs Mann nebeneinander aufgestellt. Ihre Bajonette waren aufgepflanzt, und sie hielten die Musketen an ihrer linken Schulter, während sie auf den Marschbefehl warteten. Die aufgehende Sonne glitzerte jetzt drohend auf dem scharfen, blanken Stahl.

Die Mienen der Soldaten waren voll grimmiger Entschlossenheit, aber Konowa wusste, dass ihr Groll vor allem auf dem Ärger beruhte, nach nur einer Nacht in Nazalla in die Wüste geschickt zu werden. Das war ein bitterer Schlag, nachdem sie wochenlang auf hoher See gesegelt und Inseln angegriffen hatten, die von ihren Kreaturen verteidigt wurden, aber es ging nicht anders. Sie hatten keine Wahl. Wenn sie in Nazalla geblieben wären, hätten sie sozusagen ein Streichholz in einem Pulverfass entzündet. Zeit für Ruhe gab es noch genug, sobald sie die Elfen gefunden hatten.

Und den nächsten Stern.

Konowa dachte nach. Er war nicht einmal sicher, ob er an diesen Stern glaubte, denn danach würde es einen weiteren Stern geben und noch einen und noch einen. Unaufhörlich würden Sterne vom Himmel fallen, und sie würden ununterbrochen kämpfen, aber wie lange? Wie lange konnte das weitergehen?

Konowa erreichte den Prinzen an der Spitze der Kolonne und salutierte. Der Prinz erwiderte den Gruß und wendete dann sein Kamel zu den versammelten Truppen. Konowa erwartete eine Rede, aber der Prinz zog nur sein Schwert, hob es hoch in die Luft und ließ es dann heruntersinken. Eine Trommel begann, einen Takt zu schlagen, und das Regiment marschierte im Gleichschritt durch das Tor in die Stadt hinein.

Es war eine ernste Prozession, bis auf die immer noch grinsenden Freiwilligen des Dritten Speerträgerregiments. Konowa hatte sie ans Ende der Kolonne befohlen, in der Hoffnung, dass ihre Anwesenheit etwaige Raubeine in der Menge davon abhielt, in letzter Sekunde die Soldaten doch noch anzugreifen. Obwohl sie ruhig wirkte, kochte die Stadt unter der glühenden Hitze. Die Gerüchte der letzten Nacht schienen sich auszubreiten, während die Temperatur anstieg. Konowa fragte sich, ob sie es rechtzeitig schaffen würden, aus Nazalla herauszukommen, bevor die Leute glaubten, dass sie Babys in ihren Bettchen ermordet hatten.

Der Suljak ritt mit heiterer Miene an der Spitze, und als er die Bürger erreichte, traten sie rasch zur Seite und verbeugten sich respektvoll. Konowa begriff, wie mächtig dieser Mann sein musste. Zweifellos würde eine einzige Handbewegung des Suljak genügen, dass diese Leute Steine und Schlimmeres nach ihnen warfen.

Die Kolonne bewegte sich stumm durch die Straßen. Nur das Knallen ihrer Schritte hallte von den Hauswänden zurück. Jedenfalls war der Handel abgeschlossen. Allerdings vermutete Konowa, dass es Konsequenzen gab, die weder der Prinz noch der Vizekönig noch der Suljak überblickten, aber welcher Art diese Konsequenzen sein mochten, konnte man nur raten.

Nur in einem Punkt war Konowa sich sicher: Wenn ein Preis zu zahlen war, würde er vermutlich mit dem Blut der Stählernen Elfen bezahlt werden.