26

EISIGE KÄLTE LEGTE sich über Konowa und löschte die Hitze der Wüstensonne aus.

Er wusste, dass irgendwo vor ihnen die verschwundenen Soldaten und die drei Frauen in Schwierigkeiten waren. Frustriert schlug er sich mit der Faust auf den Schenkel und drehte sich um, um auf die Kolonne zurückzublicken.

Ein Stück hinter ihm plauderten der Prinz und der Vizekönig auf ihren Kamelen freundlich miteinander. An ihrer beider Seite waren zwei große, grüne, mit Silberbrokat gesäumte Sonnenschirme befestigt, die über ihren Köpfen schwankten und ihnen reichlich Schatten spendeten. Das Schaukeln des grünen Segeltuches erinnerte an Ozeanwellen, und Konowas Magen knurrte gereizt. Hastig blickte er an den Sonnenschirmen vorbei und sah die Sonne auf den Speerspitzen funkeln, die die Position der timolianischen Soldaten des Dritten Speerträgerregiments markierten.

Den Abschluss der Kolonne bildeten jetzt, da sie Nazalla sicher verlassen hatten, zwei Nachschubwagen, die von Maultieren gezogen wurden, und drei Kanonen, vor die Esel gespannt waren. Konowa kannte den Unterschied zwischen den Tieren nicht genau, aber es war ihm auch gleichgültig, weil beide Rassen dazu neigten, zu treten und zu beißen. Die Kanonen, zwei Neunpfünder und eine Sechspfünder, gehörten zur Ausrüstung der Marine. Bedauerlicherweise hatten sie nur Pulver und Kugeln für fünfzehn Schüsse pro Kanone. Konowa bezweifelte, dass dies genügen würde, falls sie in Schwierigkeiten gerieten. Neben den Kanonen marschierten mürrisch die Marinekanoniere, die zweifellos das Meer aus Sand verwünschten, in dem sie jetzt steckten.

Konowa tat jeder einzelne marschierende Soldat leid. Die Stählernen Elfen trotteten mit gesenkten Köpfen voran in einem Schweigen, das sehr beredt über ihre Stimmung Auskunft gab. Die drückende Hitze der Sonne und der glühend heiße Sand am Boden erzeugten ein sengendes Umfeld, das nicht einmal durch Magie gebundene Soldaten wie die Stählernen Elfen ignorieren konnten. Die Mittagsstunde war bereits überschritten, aber immer noch lagen viele Stunden anstrengender Hitze vor ihnen, bevor die kurze Abkühlung des Abends Erleichterung versprach. Dann folgte die eiskalte Nacht, die ihrerseits – wenn man dem Suljak glauben konnte  – ganz neue Probleme schuf. Das Klügste wäre gewesen, bis zum Einbruch der Nacht zu warten und erst dann loszumarschieren, aber wie so häufig war die Zeit nicht auf ihrer Seite.

Das Juwel der Wüste würde in der Tat zurückkehren, und obwohl Konowa keinen einzigen konkreten Beweis dafür hatte, wusste er genau, dass es heute Nacht so weit war. Vielleicht würde er ja jetzt endlich aus seiner elfischen Herkunft schlau werden, was ihn sowohl faszinierte als auch bekümmerte. Er hatte in der Vergangenheit oft versucht, die Natürliche Ordnung zu verstehen, und gewöhnlich bekam er für seine Bemühungen nur einen Tritt in den Hintern. Diesmal jedoch konnte er es fühlen. Er sah, was Visyna und seine Mutter sahen, wenn auch, wie er vermutete, nicht auf dieselbe Art. Der Stern würde irgendwo zwischen der Knochenschlucht in der Nähe von Suhundams Hügel und dem Standort seiner ursprünglichen Stählernen Elfen herunterfallen … und wenn sie nicht bald etwas schneller marschierten, würden sie nicht dort sein, wenn es geschah.

»Ich glaube, der Ausdruck dafür ist, dass ein Kessel niemals kocht, wenn man ihm dabei zusieht. Allerdings habe ich dieses Sprichwort nie verstanden, weil der Kessel selbstverständlich kochen wird, ob er nun beobachtet wird oder nicht«, erklärte der Suljak nüchtern, als er zu Konowa aufschloss. Die Kamele bewegten sich mit Leichtigkeit über den Sand, fast sogar mit Anmut. Konowas Rücken und sein Hals schmerzten von dem ständigen Schaukeln; er war einfach nicht in der Lage, sich dem Rhythmus des Tieres anzupassen. Insgeheim vermutete er, dass sein Kamel den Rhythmus absichtlich ständig veränderte.

»Wir werden zu spät kommen«, antwortete Konowa. »Warum regt Sie das nicht auf? Ihnen bedeutet der Stern doch mehr als uns allen.«

Der Suljak nickte. »Das stimmt zwar, aber sich wegen Dingen aufzuregen, die wir nicht ändern können, ist nicht gerade die produktivste Art und Weise, seine Zeit zu nutzen. Außerdem habe ich etwas, was Sie offensichtlich nicht haben.«

Konowa verdrehte die Augen. »Ich habe jetzt wirklich keine Lust, über meinen Glauben zu diskutieren.«

»Ich meinte Geduld, Major. Falls die Legende zutrifft, sind die Sterne seit Tausenden von Jahren verschwunden. Ein paar Stunden mehr sind da nur Sandkörner in …«, er beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen, »eben in dem hier.«

»Lassen Sie sich gesagt sein: Ein paar Stunden können den entscheidenden Unterschied ausmachen«, widersprach Konowa und blickte erneut zur Kolonne zurück. Hinter ihnen hing eine Staubwolke in der Luft, die den Weg markierte, den sie durch die Wüste genommen hatten. Man konnte ihn meilenweit sehen. Konowa fühlte sich noch kälter. »Verdammt! Wir werden es nicht zum Stern schaffen, habe ich recht?«

Der Suljak drehte sich leicht im Sattel herum und beobachtete die Staubwolke, die der Kolonne folgte. Dann strich er sich über die dünnen Haarsträhnen seines Bartes und warf Konowa einen rätselhaften Blick zu. »Wie ich schon sagte, Major: Politik ist eine schmutzige Angelegenheit.«

»Sie haben noch eine Abmachung mit dem Prinzen getroffen«, sagte Konowa. Das war keine Frage.

»Eine Streitmacht von mehreren tausend Stammeskämpfern zieht von Süden herauf. Sie haben friedliche Absichten. «

Der Suljak betonte das Wort, als würde es wahrscheinlicher, wenn er es deutlich aussprach. Was Konowa ernstlich bezweifelte.

»Sie werden das Juwel der Wüste willkommen heißen und verhindern, dass jemand sich in die rechtmäßige Wiederbeschaffung einmischt. Es ist alles so, wie es sein sollte, Major. Zweifellos wird der Prinz sein Missvergnügen öffentlich kundtun, wie man es von ihm erwartet.«

»Zweifellos«, erwiderte Konowa trocken. »Aber was ist mit der Schattenherrscherin und dem, was hier draußen Unruhe stiftet? Beide dürften diese Sache mit Sicherheit anders sehen. Ihre Stammeskämpfer sind bestimmt nicht ausreichend ausgerüstet, um Mächte wie diese zu bekämpfen.«

»Natürlich haben sie Hilfe.«

Das Verhalten des Suljak änderte sich nicht, während er das sagte, was Konowa ungeheuer ärgerte. Der Mann hatte keine Ahnung, welche Schrecken sein Volk erwartete. Bei diesem Gedanken hielt Konowa inne. Eigentlich wusste er selbst es auch nicht. So schrecklich Elfkyna auch gewesen sein mochte, auf ihre Art waren die Inseln noch schlimmer gewesen. Und wer konnte schon sagen, ob die Wüste nicht neue Wege fand, um den Schrecken noch zu verstärken, dem sie sich alle gegenübersahen. »Welche Hilfe?«

»Major, ich bewundere wirklich Ihre Zielstrebigkeit. Für Sie ist alles ziemlich einfach, habe ich recht?« Sein Tonfall verriet, dass die Frage ein wenig spöttisch gemeint war. »Der Weg zu meinen Zielen ist leider wesentlich verschlungener. Es wird Kämpfe geben, Major, da bin ich mir sicher, aber ich sehe keinen Grund dafür, dass diese Kämpfe zwischen dem Imperium und dem Volke der Hasshugeb ausgefochten werden müssen. Wie mir scheint, werden wir zusammenstehen, als gleichberechtigte Bundesgenossen, und gemeinsam werden wir unsere Feinde auch besiegen.«

»Sie erwarten also, dass der Prinz Ihnen hilft, nachdem Sie so geschickt den Stern für sich beansprucht und seine Autorität untergraben haben? Pimmer ist eine Sache, aber der Prinz ist der zukünftige König. Ich bezweifle, dass er Ihrer Vision so wohlgesinnt ist, wie Sie zu glauben scheinen. Selbst hier draußen befinden wir uns immer noch im Calahrischen Imperium.«

Die Überraschung des Suljak wirkte aufrichtig. »Aber verstehen Sie nicht, Major? Alle bekommen das, was sie wirklich wollen. Der Stern wird meinem Volk zurückgegeben. Der Prinz findet die verschollene Bibliothek, die Schattenherrscherin und der Nekromant Kaman Rhal werden vernichtet … vorausgesetzt, dass er überhaupt zurückgekommen ist. Und selbst wenn sie nicht zerstört werden, können wir ihre Bestrebungen ganz eindeutig vereiteln, und Sie werden gleichzeitig mit Ihren Brüdern wiedervereint. Das ist doch wunderschön, habe ich recht? Intrigen innerhalb von Intrigen, die wiederum mit Finesse geknüpft wurden und mit genau dem richtigen Maß an Gewalt vollendet werden.« Der Suljak strahlte, und seine Stimme klang fast kindlich vergnügt.

»Leider bezweifle ich irgendwie, dass es so passieren wird«, meinte Konowa.

»Geduld, Major, nur Geduld. Heute Abend wird alles offenbart. Sie werden schon sehen. Alles wird sich genauso zutragen, wie ich es vorhergesagt habe.«

»Und was ist mit meiner Mutter, Rallie und Visyna? Sie haben einen beträchtlichen Vorsprung. Wenn sie jetzt zuerst den Stern erreichen?«

Zum ersten Mal in ihrem Gespräch verlor der Suljak seine aufreizende Ruhe. Er ballte einen Moment die Faust, bis er merkte, dass Konowa ihn beobachtete. Sofort entspannte er sich und lächelte wieder. »Ein nicht vollkommen unerwartetes Ereignis, auch wenn es äußerst unerfreulich sein mag. Trotzdem, sie verstehen, wie die Dinge laufen. Vor allem die Schreiberin Ihrer Majestät. Mein kurzes Gespräch mit ihr war höchst … faszinierend.«

Es freute Konowa insgeheim, dass der Suljak nicht so klang, als würde er seine eigenen Worte auch nur eine Sekunde lang glauben. Aber das war nur ein kleiner Trost. Denn Konowa wusste, dass der Suljak sich irrte. Was auch immer die Nacht enthüllen mochte, es würde vermutlich weit mehr sein, als sich jeder gewünscht hatte.

 

Alwyn schlug die Augen auf und wusste sofort, dass eine beträchtliche Zeitspanne verstrichen sein musste. Die Sonne stand tief am Himmel, und es wurde bereits kühler. Er blinzelte mehrmals und konnte allmählich Gestalten erkennen, die sich um ihn herum bewegten. Dann erkannte er Yimt und entspannte sich. Jemand hatte ihm die Uniformjacke ausgezogen, sie lag auf dem Sand neben ihm. Der rechte Ärmel war vollkommen zerfetzt. Er knirschte mit den Zähnen und stützte sich auf den Ellbogen. Er erwartete stechenden Schmerz. Doch zu seiner Überraschung spürte er nichts, bis auf ein leichtes Pochen in seinem Hinterkopf. Mistress Rote Eule tauchte vor ihm auf und reichte ihm seine Brille, die man irgendwie gerettet zu haben schien. Er nahm sie mit der linken Hand entgegen und setzte sie auf. Sofort verschwamm ihm alles vor den Augen.

Er nahm sie wieder ab, reinigte sie an seinem Ärmel und wollte sie gerade wieder aufsetzen, als er bemerkte, dass er auch ohne Brille ganz ausgezeichnet sehen konnte.

Langsam hob er die Brille vor die Augen, und wie schon zuvor verschwamm sein Blickfeld. Als er die Brille sinken ließ, klärte es sich. Er konnte perfekt ohne Brille sehen. Hatte der Schlag auf den Hinterkopf seine Sehkraft zurückgebracht?

Mistress Rote Eule trat zu ihm und legte ihm sanft eine Hand auf die verletzte Schulter.

»Du kannst von Glück reden, dass du noch bei uns bist, Alwyn vom Imperium«, sagte sie.

Alwyn blickte auf seinen Oberarm und verstand zunächst nicht, was er da sah. Hässliche, schwarze Narben überzogen seine gesamte Schulter. Sie gingen von der Stelle aus, wo die Kreatur aus dem Teich ihre Zähne in seine Haut gegraben hatte. Doch das Frostfeuer hatte die offenen Wunden mit einer borkenähnlichen Substanz überzogen. Die Haut um die Wunden herum war ganz grau. Er krümmte seine Finger. Kein Schmerz. Genaugenommen fühlte er gar nichts. Er schaute auf seine Hand. Sie war von schwarzen Narben überzogen, aber die Finger waren noch da, und er konnte sie bewegen.

»Ich habe kein Gefühl in meinem rechten Arm«, sagte er. »Ich mache mir mehr Sorgen um das Nichts zwischen deinen Ohren«, sagte Yimt, während er zu ihnen herüberkam. Er kniete sich in den Sand und blickte Alwyn in die Augen. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

Alwyn betrachtete erneut seinen Arm. Es war sinnlos, den Unwissenden zu spielen. »Ich hätte es fast geschafft. Die weißen Flammen verbrannten den Schwur. Ich konnte es fühlen. Noch ein kleines bisschen mehr, und ich wäre frei gewesen.«

Yimt hob die Hand, als wollte er Alwyn schlagen, legte sie jedoch stattdessen auf seine unversehrte Schulter. »Frei? Mein Junge, kapierst du das denn nicht? Noch so eine dumme Handlung, und du bist tot.«

»Nein, du bist es, der nicht versteht. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß es.« Alwyn richtete sich etwas weiter auf. »Ich habe gefühlt, wie eine mächtige Magie mich durchströmte, unmittelbar bevor der Schwur sich auflöste.«

»Genaugenommen war es weniger Magie als ein drei Pfund schwerer Felsbrocken«, sagte Rallie hinter Alwyn.

Er drehte sich herum. Sie hatte den Wagen an den Rand der Oase gefahren. Die Segeltuchplanen waren zurückgeschlagen, und Rallie öffnete die Käfige der Sreex. Die großen Vögel kreischten, schlugen mit ihren ledernen, fledermausartigen Schwingen, stiegen auf und beschrieben über ihren Köpfen einen engen Kreis.

»Sie haben mir einen Felsbrocken an den Kopf geworfen?« Alwyn hob die linke Hand und rieb sich den Hinterkopf. Richtig, da war eine große Beule, und die Haut darum herum fühlte sich wund an.

»Ich hatte jedenfalls nicht vor, in dieses Wasser zu waten, solange diese Drakarri darin herumplanschten«, antwortete sie.

»Drakarri?«

»Es sind uralte Kreaturen.« Rallie deutete auf die Aschehaufen, die überall in der Oase verstreut waren. »Obwohl hinter ihrer Existenz heutzutage meist der Missbrauch von Magie zu stehen scheint. Man könnte diese Wesen auch Drachenbrut nennen, und sie sind selbst in dieser Hinsicht einzigartig. Diese Geschöpfe sind, wenn man den Legenden Glauben schenken kann – und wir sind wohl beraten, das zu tun –, die unseligen Nachkommen von Kaman Rhal aus seiner verdammungswürdigen Paarung mit einer Drachenfrau.«

Alwyn versuchte, sich dieses Bild vorzustellen, und scheiterte kläglich. »Er … er hatte sich mit einem Drachen gepaart?«

»Offensichtlich kann man sich hier draußen in der Wüste ziemlich einsam fühlen«, erwiderte Rallie und sah sich um. Aber niemand schien gewillt zu sein zu lachen. »Nun, der Legende nach war es mehr eine magische Paarung, eine Verstrickung von zwei Mächten, die niemals hätten vereint werden dürfen.«

Ein schmerzhafter Stich in seinem Hinterkopf riss Alwyn ins Hier und Jetzt zurück. »Und deshalb haben Sie mir einen Stein an den Kopf geworfen?«

Rallie klopfte sich den Staub von ihrem Mantel. »Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Visyna hat versucht, einen Schutz um Sie zu weben, aber das funktionierte nicht. Also musste ich zu einer … direkteren Möglichkeit greifen.«

Hätte Zwitty den Felsbrocken geworfen, hätte Alwyn möglicherweise sofort das Frostfeuer beschworen und ihn auf der Stelle verbrannt. Aber Rallie gegenüber hielt er seinen Ärger unter Kontrolle. »Wie konnten Sie das tun? Sie haben alles ruiniert.«

Diesmal versetzte ihm Yimt einen Schlag auf den Kopf. »Benimm dich, Junge, immerhin sprichst du mit einer Lady. Ganz offensichtlich begreifst du es nicht, aber sie hat dir das Leben gerettet.«

Alwyn wollte etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Wie geht es den anderen?«

Yimt ließ sich zurücksinken und schaute zu Boden. »Gut, hoffe ich. Zwei dieser Skelettdinger haben sich Harkons Leichnam geschnappt und sind in einem Tunnel auf der anderen Seite der Oase verschwunden, bevor wir sie erreichen konnten. Tyul, Jurwan und Jir sind ihnen gefolgt, und Mistress Tekoy ist hinter ihnen hergerannt. Ich habe Hrem, Teeter und Zwitty losgeschickt, um sie zurückzuholen. Der Rest unserer kleinen Gruppe ist noch da, mehr oder weniger in einem Stück.«

»Dann müssen wir sofort los.« Alwyn machte Anstalten aufzustehen.

Yimt hielt ihn zurück. »Während der Kämpfe haben zwei von diesen Drakarri-Wesen versucht, die Jungs durch den Tunnel zu verfolgen. Wir haben die Bestien zwar erwischt, aber in ihrem Todeskampf haben sie den Eingang zerstört. Es wird einen Tag dauern, bis wir ihn wieder freigegraben haben.«

»Warum gräbst du dann nicht?«

Yimt ließ Alwyns Schulter los und richtete einen Finger auf ihn. »Wir haben andere Probleme, aber im Augenblick kümmern wir uns erst einmal um deines.«

Alwyn schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut.«

»Ach wirklich?«, fragte Yimt barsch. »Also gut, Rallie, zeig es ihm.«

»Nein«, mischte sich Mistress Rote Eule ein. »Für den Moment hat er genug gelitten.«

Yimt stand auf. »Dann wird er eben noch etwas mehr leiden. Soldat Renwar, aufgestanden!«

Scolly reichte Alwyn die Hand, der sie ergriff. Sein Holzbein knarrte drohend, und er sah, dass mehrere Zweige gebrochen waren.

»Rallie, deinen Spiegel, bitte.« Yimt streckte die Hand aus.

Rallie trat vor und reichte Yimt schweigend einen kleinen, viereckigen Spiegel, den der Zwerg an Alwyn weitergab.

Alwyn warf einen Blick hinein und zuckte zurück. Scolly hielt ihn fest. Alwyn wischte sich mit der linken Hand den Mund, beugte sich vor und sah erneut hin. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, erkannte er nicht.

Eines seiner Augen glänzte schwarz, in dem anderen loderten weiße Flammen.

»Ich … ich verstehe nicht. Was ist mit mir passiert?«

»In Ihnen vereinen sich jetzt zwei Formen von Magie«, erklärte Rallie. »Als Sie versucht haben, die weißen Flammen zu kontrollieren, haben Sie ihnen erlaubt, in Sie einzudringen. Sie können es sich so vorstellen, als hätten Sie einen zweiten Schwur geleistet.«

Alwyn streckte die Hände aus und beschwor das Frostfeuer. In seiner rechten Hand flammten sofort schwarze Flammen auf, aber in seiner Linken loderte eine reine, weiße Flamme.

Er schrie auf. Sofort begannen beide Magieformen, in ihm zu kämpfen; sie rissen und brannten, verdrehten und zerrten an jeder Faser seines Wesens. Seine Lungen vereisten, während sein Kopf brannte.

Scolly schrie auf und ließ Alwyn los.

Augenblicklich erloschen die Flammen. Alwyn stolperte, stürzte jedoch nicht. Er roch Rauch und blickte hinunter. Sein Holzbein kokelte. Er wandte sich um und wollte sehen, ob er zufällig Scollys Schatten in Brand gesetzt hatte. Zu seiner Erleichterung war das nicht geschehen.

In dem Moment bemerkte er seinen eigenen Schatten. Er war noch da, doch er war nicht schwarz wie bei den anderen, sondern grau und irgendwie durchscheinend.

»Das kann nicht sein. Ich … ich wollte nicht, dass das …« Alwyn fehlten die Worte. Was hatte er getan?

»Wir haben keine Zeit, uns lange damit aufzuhalten, weil wir noch größere Probleme haben«, erklärte Yimt.

Alwyn hob den Kopf und folgte Yimts Blick. Eine Staubwolke hing im Süden über dem Horizont, und sie bewegte sich sehr schnell.

»Das Regiment, stimmt’s?«, fragte Alwyn. Sein Kopf fühlte sich gleichzeitig leicht und schwer an. Seine Knie drohten nachzugeben, aber er riss sich zusammen und blieb gerade stehen. Ihm fiel auf, dass niemand näher kam und versuchte, ihn zu stützen.

»Nein, das sind nicht die Stählernen Elfen«, antwortete Yimt. »Sie würden von Norden kommen, weil sie dieselbe Route nehmen wie wir. Wer auch immer das sein mag, ist unterwegs nach Nordwesten. Ich vermute, dass es die Stämme der Hasshugeb sind. Wenn die Leute in Nazalla wissen, dass ein Stern zurückkehrt, dann kannst du darauf wetten, dass ihre Verwandten in der Wüste es auch wissen.«

»Mit ihnen werden wir keinen Ärger bekommen«, erklärte Mistress Rote Eule. »Sie werden sicherlich begreifen, dass wir ihren Wunsch teilen, die Natürliche Ordnung wiederherzustellen.«

»Chayii, du vergisst, dass wir jetzt zu den Stählernen Elfen gehören«, warf Rallie ein. »Und das bedeutet, dass sie in uns Agenten des Imperiums sehen werden.«

Mistress Rote Eule sah aus, als hätte man sie geohrfeigt. »Aber das ist absurd! Ich missbillige das Imperium und seine willkürlichen Akte der Zerstörung. Ich arbeite nur mit ihm zusammen, weil wir in der Schattenherrscherin eine gemeinsame Feindin haben, die unser aller Existenz bedroht. Man wird doch mit diesen Leuten sicher vernünftig reden können.«

»Ein andermal vielleicht«, meinte Yimt. »Heute aber würde ich mein Leben nicht darauf verwetten wollen.«

Rallie zog die Landkarte heraus. »Die Knochenschlucht liegt direkt vor uns. Wir sollten hinfahren, solange wir noch können.«

»Wenn wir draußen in der Wüste überrascht werden, sind wir vollkommen ohne Deckung. Hier haben wir eine Stellung, die wir verteidigen können«, erklärte Yimt. »Diese Hütten sind solide und gewähren uns freies Schussfeld.«

»Aber wir können nicht hierbleiben«, widersprach Alwyn. »Wir müssen Kester folgen. Wo auch immer sie ihn hinbringen, dorthin müssen wir gehen.«

»Hrem, Visyna und die anderen sind immer noch im Tunnel. Ich möchte sie nicht dort zurücklassen«, antwortete Yimt.

»Aber der Stern kommt nicht hierher. Spürst du das nicht?«, sagte Alwyn. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber …«

»Er hat recht«, pflichtete Rallie ihm bei. »Macht liegt in der Luft, Korporal, Macht aus einer vergessenen Vergangenheit. Wenn diese Macht hier ankommt, müssen wir dort sein. Soldat Renwar muss dort sein.«

»Vermutlich hast du recht«, lenkte Yimt ein. »Aber es wird uns alles nichts nützen, wenn wir getötet werden, bevor wir dort eintreffen.«

»Korporal«, sagte Scolly und stellte sich neben Yimt.

»Nicht jetzt, Scolly, wir haben zu tun. Wenn du hungrig bist, geh zum Wagen.« Yimt drehte sich wieder zu ihnen herum. »Ich glaube nicht, dass wir auch nur eine winzige Chance …«

»Korporal.« Diesmal zupfte Scolly an Yimts Ärmel.

Yimt fuhr herum und starrte wütend zu Scolly hoch. »Was ist denn?«

»Ich will nicht in diesen Wald gehen«, sagte Scolly. Seine Stimme war vor Furcht kaum zu hören.

Yimt massierte sich die Schläfen. »Bis auf vier verdammte Palmen und ein paar Feigenbäume gibt es in einem Umkreis von tausend Meilen keinen einzigen Wald.«

»Doch, gibt es.« Scolly deutete nach Nordwesten, in Richtung der fernen Küste.

Alwyn hätte fast nach seiner Brille gegriffen, aber die brauchte er ja nicht mehr. Außerdem spürte er den Wald, schon bevor er ihn sah. Zwanzig, vielleicht dreißig Meilen entfernt verbreitete sich ein kalter, schwarzer Fleck auf dem Wüstensand. Es war eine riesige Masse schwarzer Sarka Har, die über den Sand krochen. In ihrer Mitte glitzerte Frostfeuer. Der Forst breitete sich aus, so weit das Auge blickte. Dies hier war etwas anderes als der kleine Wald, der Luuguth Jor umringt hatte. Dies hier war ungeheuerlich.

»Zur Hölle …!«, fluchte Yimt.

Es war, als würde man eine hereinbrechende Flutwelle beobachten. »Sie wird spätestens bei Anbruch der Nacht hier sein.«

»Das ist das Ende«, meinte Inkermon, schloss die Augen und betete.

Yimt stieß die Stiefelspitze in den Staub. »Du liegst vielleicht gar nicht so weit daneben, Inkermon, aber wir wollen doch mal sehen, ob wir es nicht noch eine Weile aufschieben können, wenn es dir recht ist.«

Rallie ging zügig zum Wagen und sprang mit einem Satz hinauf. Dann nahm sie die Zügel und sah zu den Soldaten herunter. »Wir müssen aufbrechen. Mein Gespann schafft es bis zur Schlucht, bevor die Stämme oder die Sarka Har da sind. Wir suchen uns dort ein Versteck, aber jetzt müssen wir los. Sofort!«

»Rallie hat recht«, meinte Mistress Rote Eule. »Wir müssen weiter. Das Risiko ist sehr groß, aber wenn wir nichts tun, riskieren wir noch mehr. Das weißt du, Yimt von der Warmen Brise. Die anderen im Tunnel können sich allein durchschlagen. Visyna ist bei ihnen, und sie besitzt große Macht. Wir müssen jetzt Mächten vertrauen, die größer sind als wir selbst.«

Yimt packte seinen Schmetterbogen fester, warf einen Blick auf den Forst aus Sarka Har, der sich auf sie zubewegte, und betrachtete dann die Staubwolke, die sich aus der anderen Richtung näherte. »Und du bist sicher, dass deine Brindos schneller sind als dieser Wald? Wenn wir von ihm eingeholt werden, kann uns auch noch so viel Frostfeuer nicht helfen.«

Rallie zog eine Zigarre aus ihrem Umhang und steckte sie in den Mund, wo sie sich von allein entzündete. Sie nahm einen Zug und bewegte dann den Kopf, sodass ihr Nacken knackte. Dann blickte sie zu den kreisenden Sreex hinauf und pfiff. Die Vögel kreischten einmal zur Antwort und flogen dann nach Norden. »Jede Sekunde, die wir zögern, wird die Zweifel nur verstärken, also sollten wir uns jetzt besser in Bewegung setzen.«

»Aufsitzen!«, befahl Yimt.

Alwyn humpelte zum Wagen und kletterte auf die Pritsche zu den leeren Käfigen. Scolly und Inkermon folgten ihm, während Yimt und Mistress Rote Eule sich zu Rallie auf den Bock setzten. Der Wagen fuhr los, während Alwyn sich noch nach einem gemütlichen Sitzplatz umsah. Eine Suche, die, wie er rasch bemerkte, ergebnislos enden würde. »Haltet euch an allem fest, was klappert, denn diese Fahrt wird noch ein bisschen ungemütlicher als die von letzter Nacht!«, schrie Rallie ihnen zu.

Der Wagen fegte über einen schmalen Kamm und donnerte dann auf der anderen Seite der Düne hinab. Eine Staubwolke erhob sich, und der Fahrtwind pfiff Alwyn um die Ohren. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre er begeistert gewesen, wenn auch ein bisschen verängstigt. Jetzt kam es ihm viel zu langsam vor. Er sah zur Seite, auf den sich nähernden Forst. Die Stämme und Zweige der Sarka Har schossen aus dem Sand und krochen mit unregelmäßigen, abgehackten Bewegungen voran, wie eine Spinne mit gebrochenen Beinen.

Dunkle Wolken bildeten sich darüber. Ein einzelner Blitz schlug zwischen den Bäumen ein und löste eine wahre Frostfeuer-Kaskade aus. Dieser Wald war pervers und zornig. Alwyn spürte, wie Schmerz von den Bäumen ausstrahlte.

Und Gier.

Alwyn wandte sich ab und richtete seinen Blick auf die heraneilenden Stämme der Hasshugeb. Am Fuß der gewaltigen Staubwolke konnte er bereits dunkle Umrisse erkennen.

Rallies Wagen fuhr jetzt zwischen den beiden Backen einer sich schließenden Zange. Alwyn schaute nach vorn.

Der Wind peitschte ihm ins Gesicht und trieb ihm feinen Sand in Nase, Ohren und Mund, aber nicht in die Augen. Jedes Korn, das darauf traf, wurde entweder von weißen oder von schwarzen Flammen verzehrt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber es half ihm, sich von den siedenden Kräften in ihm abzulenken. War er wie diese Kreaturen, die er noch vor wenigen Stunden getötet hatte? Hausten jetzt zwei Formen von Magie in ihm, die vereint wurden, obwohl sie überhaupt nicht hätten existieren dürfen?

Schließlich stieg das Gelände in der Ferne langsam an, und zwischen zwei Felsschultern tauchte eine schmale Passage auf – die Knochenschlucht.

Alwyn ließ sich zurücksinken und hielt sich fest, so gut er konnte. Die Sonne sank tiefer, und die Schatten wurden länger, als sie auf die Öffnung der Schlucht zurasten – und auf das, was dort auf sie wartete.

Alwyn trieb die Brindos stumm an. Erneut durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Der neue Stern kam. Er zog an seinen Sinnen, als wäre er mit seiner Seele verbunden. Die Welt würde sich erneut verändern.

Er betrachtete seine Hände, mit denen er seine Muskete festhielt, und wusste, dass er nicht ewig so weitermachen konnte.

Zögernd versuchte er, das Frostfeuer zu beschwören, nur ein bisschen davon. Sofort reagierte auch die weiße Flamme. Er versuchte, die Flammen zu löschen, während er nach Luft rang, aber es gelang ihm nicht. Er konzentrierte sich stärker und brachte die Flammen unter Kontrolle, aber sie wollten nicht ersterben.

»Was machst du da?«, wollte Inkermon wissen und sah ihn entsetzt an. »Mach diese Flammen aus! Sie werden uns alle verbrennen!«

Alwyn wollte etwas sagen, aber es kostete ihn so viel Anstrengung, die Flammen zu beherrschen, dass er nicht sprechen konnte. Er verzog nur das Gesicht und schloss die Augen.

Ein heller, blauer Stern lockte ihn zu sich. Er hing reglos an einem seidenschwarzen Firmament.

Er war fast da. Er musste nur noch ein bisschen länger aushalten.

Alwyn öffnete die Augen und sah Inkermon an. Der hockte immer noch direkt vor ihm, aber Alwyn nahm nur die dunkle Silhouette eines Mannes war, der einen Kern aus glühendem Frostfeuer hatte. Er drehte sich zu Scolly herum und sah das Gleiche. Dann blickte er an sich herunter. Frostfeuer und weißes Feuer umschlangen sich lodernd in ihm und pulsierten mit einer Energie, die er nicht mehr lange kontrollieren konnte.

Beeilt euch, sagte Alwyn an niemanden direkt gerichtet. Bitte, beeilt euch!