11. Verklärung und Apotheose?

Wenn es etwas in der deutschen Literatur gibt, was den Anspruch erheben könnte, Weltkulturerbe zu sein, dann sicherlich Goethes Faust. Diese so deutsche Geschichte, die tief in der historischen Vergangenheit und im Mythos der Deutschen wurzelt, ist zum Thema für uns alle geworden. Wir haben gesehen, wie Faust auf der Suche nach Erlebnissen und Befriedigung, für die er mit dem Teufel sich einzulassen bereit ist, rastlos durchs Leben eilt. Wir haben das Böse gesehen und das Leid, das es verursacht (wofür Gretchen das Symbol ist). Wir haben gesehen, wie zweideutig der Augenblick von Fausts Selbsterkenntnis ist. Doch was ist mit seiner mysteriösen Verklärung und Apotheose in der Schlussszene dieses außerordentlichen Werks, am Ende einer langen geistigen Reise?

Faust als eine Art Allegorie der deutschen Erfahrung zu interpretieren, hieße, seinen Sinn und Zweck, der für die conditio humana von universeller Bedeutung ist, zu entstellen und zu trivialisieren. An Germania verschwendete Goethe keinen Gedanken. Und doch kann das Drama, bei aller Ambiguität, wenn auch nicht als Allegorie, so doch als eine Art Metapher, als eine Erzählung über Deutschland gelesen werden – seine Vergangenheit, seine Gegenwart und Zukunft –, weil Faust in letzter Hinsicht eine universelle Gestalt und die deutsche Geschichte von universeller Bedeutung ist.

Auf dem Höhepunkt – Fausts Apotheose – wird er in letzter Minute vor den Dämonen der Hölle gerettet, nicht, weil er Gutes getan, sondern, weil Mephistopheles es wohl versäumt hat, Fausts Hoffnung auf jenen einen Moment vollkommener Befriedigung zu erfüllen, der die Grundlage des Teufelspakts war. Als die Engel Faust auf zum Himmel führen, ist der alte Gott, der zu Beginn dort weilte, verschwunden. Statt Verurteilung und Verdammnis findet Faust freundliche Vergebung und Erneuerung, als der Geist Gretchens, der er im ersten Teil so übel mitgespielt hat, seine Errettung verkündet:

Vom edlen Geisterchor umgeben,

Wird sich der Neue kaum gewahr,

Er ahnet kaum das frische Leben,

So gleicht er schon der heiligen Schar.

Sieh, wie er jedem Erdenbande

Der alten Hülle sich entrafft

Und aus ätherischem Gewande

Hervortritt erste Jugendkraft.

Vergönne mir, ihn zu belehren,

Noch blendet ihn der neue Tag.

Und dann folgen jene letzten geheimnisvollen Verse, die bei den Gelehrten zu endlosen Analysen und Interpretationen geführt haben:

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche,

Hier wird’s Ereignis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ist’s getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.

Für Goethe ist die stürmische männliche Identität durch ihr fortwährendes aggressives Streben zerrissen: Faust ist der Archetyp des unablässig getriebenen Mannes, der durch seinen unersättlichen und gnadenlosen Ehrgeiz von seinen Wurzeln losgerissen wurde. So kann er in einer der am häufigsten zitierten Stellen der deutschen Literatur ausrufen: „Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust“. Die Errettung aus dieser brüchigen Identität, aus all dieser ruhelosen Spannung und Versuchung kann nur durch die Ganzheit, durch Harmonie, Akzeptanz und das Mysterium geschehen, das Goethe im Weiblichen verwirklicht sah. Die Schlussverse sind die Vision einer Art von Verklärung, in der alle Aggressivität fortfällt. Faust wird in eine höhere Wirklichkeit geführt, in der sein Geist zum ersten Mal Ruhe finden kann.

Etwas in diesen Versen entspricht nicht nur der Erzählung von Deutschland, wie es jetzt im 21. Jahrhundert ist, sondern der ganzen menschlichen Gesellschaft. Natürlich ist die Annahme, das neue Deutschland habe ein vollkommenes Gleichgewicht erreicht, unsinnig. Doch hat das Land auf seinem Weg eine Reise unternommen, die in gewisser Weise die Entdeckung der Wahrheit hinter Goethes Parabel von der conditio humana darstellt. Vom 19. Jahrhundert an verfiel Deutschland jener gequälten faustischen Selbstüberhebung: Es war eine Gesellschaft mit überaus männlichen Eigenschaften, die im „Dritten Reich“ ihren schrecklichen Höhepunkt erreicht. Doch das neue Deutschland ist verändert und kann sich, als wäre es vom Tageslicht geblendet, häufig nicht eingestehen, wie radikal die Veränderung ist. Wenn es ein gewisses Maß an Reife und Ganzheit erreicht hat, dann zum Teil auch deswegen, weil es aus dem furchtbaren Trauma mit deutlich mehr von jenen Eigenschaften hervorgegangen ist – darunter auch Ausgewogenheit –, die Goethe dem Weiblichen zuschrieb.

Das Thema ist universell, weshalb die Geschichte des deutschen Reisewegs für alle Gesellschaften in der globalisierten Welt von Belang ist. Natürlich ist die Parabel nicht vollkommen – auch deshalb, weil Goethes Faust mit diesem Mysterium sich vollendet, während Deutschlands Geschichte weder vollendet noch vollkommen ist – denn nichts in der Realität ist es. Dessen ungeachtet ist sie bemerkenswert und von universeller Bedeutung. Und sie geht weiter.