Kapitel 8

Jane stand mit ihren Koffern am Straßenrand, und Sally wurde das Herz schwer. Jane sah noch immer gut aus, das hässliche Entlein war nicht zurückgekehrt, aber die Ausstrahlung, ihre Zuversicht, war in sich zusammengefallen. Sie wirkte verloren und zerzaust und durch und durch niedergeschlagen.

Sally bremste neben ihr und sprang aus dem Wagen, um den Koffer einzuladen.

»Setz dich nach vorn zu mir«, sagte Sally und umarmte Jane fest. »Und dann erzähl mir alles.«

»Es gibt nichts zu erzählen.« Jane legte den Kopf zurück an die Stütze, als Sally sich in den Verkehr einfädelte. »Ein Diplomatenbegräbnis, aber unter diesen Umständen sehr klein. Nur ich, seine Sekretärin und der Pastor. Oh, und die Anwälte. Sie haben mir sein Testament vorgelesen und mir erklärt, was für Möglichkeiten ich habe.«

»Und ... die sind nicht so gut?«

Jane schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein.«

Sally warf ihr einen Blick zu. »Er hat dir nichts hinterlassen.«

»Persönlichen Besitz. Ich konnte es nicht ertragen, die Sachen zu behalten, also habe ich angeordnet, dass sie gespendet werden.« Janes Stimme klang so kühl und bestimmt, dass es Sally weh tat. »Er hatte Schulden bis unter die Hutschnur, aber die Botschaft hat Anwälte bestellt, so dass man mich zumindest nicht belangen kann. Ich bin ja noch minderjährig.« »Was auch bedeutet, dass du einen Vormund bekommst und die Botschaft für dich verantwortlich ist. Jane, du solltest dir wirklich überlegen, ob du nicht doch in die Schule zurückkommst. Helen und ich werden schon auf dich aufpassen.«

»Sie wollen nicht für Miss Milton’s zahlen.«

Das war es. Sallys schlimmster Alptraum. Von Jane getrennt zu werden. Schluss mit ihrem Trio.

»Das ist doch Blödsinn«, rief sie. »Wenn die nicht zahlen, dann tun wir es. Daddy macht das bestimmt.«

Jane streckte den Arm aus und drückte ihre Hand.

»Sally, du bist die Beste.« Tränen brannten in den Augen beider Mädchen. »Aber ich kann nicht zurückkommen, verstehst du das denn nicht? In weniger als einem Jahr bin ich achtzehn, und was dann? College? Dafür ist doch kein Geld da. Wie soll ich ohne Daddys Gehalt die teuren Universitäten bezahlen? Ich kann weder nach Oxford noch nach Cambridge – ich muss selbst Geld verdienen. Denn wenn ich erst einmal achtzehn bin, dann lassen die mich doch fallen wie eine heiße Kartoffel.«

»Oh, Jane.«

»Sie haben mir eine kleine Wohnung in Washington angeboten und das letzte Jahr in einer kleinen Privatschule. Ich habe gesagt, dass ich nicht will. Was soll ich in Washington?«

»Was willst du also machen?«

»Bleiben. Consuela wird erst gehen, wenn ich ihren Lohn nicht mehr zahlen kann. Dann werde ich mir einen Job suchen. Und eine eigene Wohnung.«

»Aber du bist doch minderjährig. Und ohne Abschluss kriegst du nichts Vernünftiges.«

»Mir wird schon etwas einfallen.«

Jane schien es tatsächlich ernst zu sein. Aber Sally hörte die Tränen hinter der Tapferkeit.

»Du kannst bei uns wohnen«, sagte Sally. »Deine Haushälterin auch. Wir zahlen ihr Gehalt. Du nimmst einfach einen der Gästebungalows. Dazu sind sie ja schließlich da. Daddy sagt bestimmt ja.«

»Danke, du Liebe.« Jane lächelte sie dankbar an. »Aber ich muss zumindest versuchen, mir selbst eine Lösung einfallen zu lassen. Ich möchte von niemandem abhängig sein. Kannst du das verstehen?«

»Du warst schon immer ein Sturkopf.« Aber Sally konnte sie nur allzu gut verstehen. Jane war stolz. »Wir holen Helen ab und gehen etwas essen. Anrufen klappt nicht, sie geht nicht dran.«

»Klingt gut«, gab Jane zurück.

Sie hielten vor dem kleinen, hübschen Haus der Yannas an. Sally war noch nie zuvor hier gewesen und musterte es interessiert. Jane lächelte. Helens Eltern mussten sich strecken, um ihre Tochter zu Miss Milton’s zu schicken; noch eine Sache, die sie und Helen gemein hatten. Wer konnte es schon wissen? Vielleicht brauchte ihr Vater eine gute Buchhalterin.

»Du bleibst hier«, sagte Jane. »Ich gehe klingeln.«

Sally trug einen verboten kurzen Rock und ein hautenges T-Shirt, und Jane nahm an, dass Helens Eltern ihr in ihrem schlichten schwarzen Anzug eher Auskunft geben würden. Sie ging zur Tür, drückte auf die Klingel und wartete. Dann öffnete ein hübsches, kleines Mädchen, kaum älter als zehn Jahre, die Tür.

»Du bist bestimmt Jasmine.«

Die Kleine nickte.

Jane streckte ihr die Hand hin. »Jane Morgan. Helens Freundin aus der Schule. Ist sie da?«

»Helen kommt nie wieder«, sagte das Mädchen, und Jane sah plötzlich Tränen in ihren Augen.

»Wie bitte?«

In diesem Moment trat ein bärtiger Mann hinter Jasmine und musterte die Besucherin kühl.

»Mr. Yanna. Ich bin Jane Morgan aus der Schule. Ist Helen da?«

»Nein.«

Jane versuchte es erneut. Vielleicht verstand er nicht so gut Englisch.

»Ich wollte eigentlich ...«

»Meine Tochter wohnt nicht mehr hier«, unterbrach er sie.

»Sie ist verheiratet.«

Es war eindeutig, dass er nicht scherzte.

»Aber das ... das verstehe ich nicht. Wir sind doch vergangene Woche noch zusammen auf einer Party gewesen und ...«

»Sie hat einen Cousin zweiten Grades geheiratet und ist mit ihm nach Kairo gereist«, erklärte Helens Vater. »Ich denke nicht, dass sie die nächsten Jahre zurückkommt.«

»Aber ... sie hat uns gar nichts gesagt.«

»Eine Hochzeit ist eine reine Familienangelegenheit«, erwiderte Ali Yanna. »Wenn sie Sie anrufen will, dann kann sie das tun.«

Daran hatte Jane zu knabbern.

»Falls Sie mit ihr sprechen, könnten Sie ihr dann sagen, dass Sally und ich gerne von ihr hören würden?«

Er zuckte die Achseln. »Auf Wiedersehen.«

Die Tür schloss sich.

Sally ließ das Fenster herunter und steckte den Kopf heraus.

»Was ist los?«

Jane stieg ein und bedeutete Sally, loszufahren.

»Ihr Vater sagt, sie hat das Land verlassen. Hat einen entfernten Verwandten geheiratet und ist nach Kairo geflogen.«

»Du willst mich veräppeln.«

»Schön wär’s. Aber ich fürchte, er hat die Wahrheit gesagt.« Sally sah sie betroffen an. »Das kann doch nicht sein. Sie hat niemals auch nur eine Andeutung gemacht.«

»Mr. Yanna meinte, es sei eine reine Familienangelegenheit.« Jane kaute auf ihrer Unterlippe. »Wir kennen Helen doch. Klar, stille Wasser sind tief, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach verschwinden würde.«

»Sie ist lange genug mit uns zusammen, um zu wissen, wie der Hase läuft«, sagte Sally. »Sie hat unsere Nummern. Wir werden wohl warten müssen, dass sie anruft.«

»Tja. Wahrscheinlich.«

»Oh, Mann«, stöhnte Sally plötzlich. »Weißt du, was mir gerade auffällt? Ab jetzt bin ich an der Schule allein. Du bist weg, Helen auch. Und ich will auch nicht mehr.«

»Dann lass es«, entfuhr es Jane. »Sal, lass es einfach. Frag deinen Vater, ob du einen Privatlehrer kriegen kannst, oder wechsle die Schule. Du musst dir das nicht antun. Ich würde es nicht.«

Julie Manners. Melissa Smith. »Vielleicht hast du recht«, sagte Sally. Sie fühlte sich plötzlich vollkommen erschöpft.

»Ich denke darüber nach. Aber für heute reicht es mir mit Neuigkeiten und Veränderungen.« Sie grinste schwach. »Wenigstens wir haben einander noch. Komm, gehen wir einen Kaffee trinken.«

»So.« Paulie Lassiter schüttelte den Kopf. Langsam verlor er die Geduld. Er befand sich in der Büroetage seiner extrem hochpreisigen Anwaltskanzlei, umgeben von teuren Anzügen, aber keiner dieser Karteikartenreiter hatte eine brauchbare Idee.

»Was machen wir denn nun? Wir müssen doch etwas unternehmen.« Sein zorniger Blick besagte: Ihr müsst etwas unternehmen.

»Ich weiß nicht, Paulie. Diese Bücher ... reine Fiktion.«

»Fiktion!« Er schnaubte. »Drei Wirtschaftsprüfer haben sie unterschrieben.«

»Ja, sicher. Aber Ihr Finanzchef hat sie augenscheinlich geschickt frisiert.«

»Wie ich schon sagte: Den Kerl habe ich gefeuert.«

»Damit ist es leider nicht getan.« Lionel Javits, Senior-Partner der Kanzlei, rückte seine Hornbrille zurecht. »Sie werden die Bundesagenten, die Börse und die anderen Behörden informieren müssen. Die Aktien werden rapide fallen. Und Jack Lessing wandert in den Knast.«

»Ja, und ob er das wird«, fauchte Paulie. Die Anwälte tauschten einen Blick aus. »Ich will jetzt wissen, wie ich meine Aktien rette. Im Augenblick wird niemand verkaufen.«

Ah, wie er es hasste, anderen wichtige Aufgaben anzuvertrauen. Er war eine Weile fort gewesen, um sich neue Ölfelder anzusehen, hatte sich in Kanada mit drohenden Streiks auseinandersetzen müssen, und was war in seiner Abwesenheit geschehen? Seine verdammten Geschäftsführer hatten die Bücher frisiert. Paulie Lassiter war ein Ölbaron, kein verdammter Buchhalter. Ein milliardenschweres Unternehmen, und er musste sich um jede Kleinigkeit selbst kümmern. Er tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab und rang nach Luft. Zorn war keine Emotion, die ihm sehr vertraut war.

»Paulie, das haben sie schon. Die meisten aus Ihrer Führungsetage, sogar die in nichtleitenden Positionen. In den vergangenen achtzehn Monaten haben sie still und heimlich verkauft. Es sind Ihre Angestellten, die letztendlich ruiniert sind.« Javits machte eine Pause. Es war eindeutig, dass Lassiter nicht wirklich begriff, was hier vor sich ging. »Und wenn Sie noch nicht verkauft haben, dann sieht es auch für Sie nicht gut aus.«

»Aber wenigstens beweist es, dass Sie ein ehrlicher Mann sind«, mischte sich ein junger Anwalt ein. »Sie werden nicht ins Gefängnis gehen.«

Javits sah ihn finster an.

Paulie warf einen Blick durchs Fenster in den strahlend blauen Himmel. Ein ganz normaler Tag in LA. Wie konnte die Welt draußen normal aussehen, wenn seine eigene Welt in sich zusammenstürzte?

»Das kann einfach nicht sein«, sagte er schließlich. »Wir sind doch kein windiges Unternehmen, keine Dot-Com-Gesellschaft von irgendeinem jungen Spinner aus dem Silicon Valley. Wir haben Aktiva. Ölfelder. Sechs in Texas, eins in Ghada, vielleicht bald noch ein weiteres in Kanada ...«

»Das deckt nicht die Kosten für die Expansion in die Erdgasbranche. Und dann die Pipeline in Kasachstan, die von Terroristen zerstört wurde. Ihre Unternehmenspolitik ist unterwandert worden.«

»Nicht mehr genug Sicherheiten.«

»Lassiter Oil hat in letzter Zeit im Grunde genommen nur noch durch den guten Ruf funktioniert.«

»Und Ihre Führungsetage hat es sich ziemlich gut gehen lassen, Paulie.«

Nun, das wusste er. Wahrhaftig.

»Aber das Geld war da«, sagte er schwach. Sein Herz begann ungesund heftig zu hämmern. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild seiner Frau, wie sie eigenhändig Frühstück zubereitete und dabei mit Sally über die Party plapperte. Wie, zum Teufel, sollte er es ihr erklären? Er hatte Mona noch nie enttäuscht.

»Nein, Paulie, war es nicht«, erwiderte Lional Javits sanft. Sein Klient war ein großer, freundlicher, tumber Bär. Ein guter Mann, und davon gab es hier in der Geschäftswelt von Los Angeles nicht mehr allzu viele. Paulie kannte sich mit Öl aus, nicht mit Zahlen. Und unglücklicherweise war er viel zu vertrauensvoll.

»Korruption«, ließ sich der junge Anwalt erneut vernehmen. Er schien es unbedingt erklären zu wollen. »Diebstahl – so nennt die Staatsanwaltschaft es.«

»Korruption?« Paulie ignorierte den tödlichen Blick, den Javits seinem jungen Kollegen zuwarf. Das war etwas, das er kannte. »Sie meinen, meine Arbeiter ... der Pensionsfonds ...«

»Ist leer, Paulie. Ich fürchte, dass die Gesellschaft bankrott ist. Wir müssen nun vor allem beweisen, dass Sie keine Schuld daran tragen. Sprechen Sie mit niemandem. Ich werde die notwendigen Behörden informieren. Wenn man Sie fragt, antworten Sie, dass Sie sich auf den Rat Ihres Anwalts hin auf Ihr Recht zu schweigen berufen.«

Paulie Lassiter spürte plötzlich feine Nadeln in seinem Arm, dann einen stechenden Schmerz in der Brust. Das Atmen fiel ihm mit einem Mal schwer.

Er stieß einen grunzenden Laut aus und kam taumelnd auf die Füße. Der Beistelltisch mit der Glasfläche stürzte krachend um.

»Paulie!«, rief Javits. »Mein Gott! Er hat einen Herzanfall.«

»Notarzt. Jemand muss den Notarzt rufen!«

»Aspirin. Da, im Schrank. Her damit!«

Aber es war zu spät. Paulie keuchte, presste sich die Hände auf die Brust und fiel vornüber. Sein Gesicht war dunkelrot. Zwei Anwälte rollten ihn auf den Rücken und versuchten es vergeblich mit Erste-Hilfe-Maßnahmen.

Javits erkannte es als Erster. »Hört auf.« Zu seinem Schrecken brannten Tränen in seinen Augen. Er konnte sehen, dass es keinen Sinn mehr hatte – dazu brauchte man keinen Arzt.

Paulie Lassiter war tot.

Und Lionel Javits wusste auch, was nun folgen würde und womit sich Lassiter Oil und die Familie auseinandersetzen mussten. Der Ruin, Prozesse, Demütigungen, Ausgrenzung. Er hatte Paulie gemocht. Nun war Paulie tot. Und Javits dachte unwillkürlich, dass er damit das bessere Los gezogen hatte.