6. Kapitel

Nur zwei Tage hatte Stefan Blume benötigt, um Katja Ortlepp aufzuspüren. „Jenny“ nannte sie sich jetzt, und sie war Mitinhaberin eines Western-Saloons. Als er das herausgefunden hatte, war er unvermittelt in herzhaftes Lachen ausgebrochen. Katja und ihre Vorliebe für Cowboys und Indianer. Geradezu vernarrt war sie in alles gewesen, was mit dem Wilden Westen zusammenhing. Damals, als sie noch über das Berufliche hinaus miteinander verbunden waren. Daran hatte sich seit jener Zeit offensichtlich nichts geändert.

In Neustadt am Südharzrand hatte sich Katja also verkrochen, im nördlichsten Zipfel Thüringens. Blume fragte sich, was sie ausgerechnet hierher verschlagen hatte, fernab jeglichen urbanen Lebens. Andererseits, Wilder Westen und Harz-Einöde, das passte schon.

Knapp drei Kilometer Reststrecke zeigte sein Navigationsgerät an, als er am frühen Abend die Ortsmitte von Neustadt passierte. Wenig später befand er sich auf einer befestigten Forststraße, die nach Osten direkt in das Mittelgebirge hineinführte. Er fürchtete bereits, sein Navi habe ihn in die Irre geleitet, in eine menschenleere Wildnis, als links, an einer abzweigenden Stichstraße ein lang gestrecktes Blockhaus auftauchte, das im Licht mehrerer Außenscheinwerfer hell erstrahlte. Das beleuchtete Hinweisschild vorn an der Straße, aus einer robusten Holzplanke gefertigt und zwischen zwei knorrigen Baumstämmen aufgehängt, zeigte ihm, dass er sein Ziel erreicht hatte. „Ponytail Saloon“ stand schwarz auf der Planke eingebrannt und etwas kleiner darunter „Restaurant, Bar, Dance-Hall“.

Blume bog von der Straße ab und fuhr auf die weitläufige, zum großen Teil geschotterte Stellfläche, die sich rund um das Blockhaus zog. Eine Handvoll Autos parkte nebeneinander aufgereiht in der Nähe des Eingangs. Er steuerte seinen Wagen ans Ende der Reihe, hielt an und stieg aus. Einen Moment blieb er neben der Fahrertür stehen, sog tief die würzige Waldluft ein, die vom leichten Abendwind herübergeweht wurde, ehe er sich eine Zigarette ansteckte. Er machte einen Zug, stieß den Qualm aus. Dann ging er ein Stück vom Auto weg, blickte dabei nachdenklich über den nahezu verwaisten Parkplatz. Alles, sowohl der Platz als auch das Blockhaus, wirkten auf ihn völlig überdimensioniert. Wie sollten sich denn so viele Besucher auf einen Schlag hierher verirren? In diese Einöde? Das konnte er sich nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht! Andererseits machte der Saloon keinen heruntergekommenen Eindruck, sah nicht so aus, als stünde er kurz vor der Schließung. Gut, das Geld, um solch ein Lokal zu führen und instand zu halten, konnte von sonst woher stammen, musste nicht unbedingt erwirtschaftet worden sein. Vielleicht hatte Katja zahlungskräftige Western-Fans im Rücken, die sich den Fortbestand dieses Saloons etwas kosten ließen.

Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann warf er die Kippe zu Boden, trat sie mit der Schuhspitze aus. Mit schnellen Schritten steuerte er auf den Eingang zu, öffnete die Tür und trat ein.

Das rustikale, naturbelassen wirkende Ambiente, das die Außenansicht des Saloons prägte, setzte sich im Inneren mit der Einrichtung fort. Glänzende, dunkel gemaserte Holzdielen bildeten den Fußboden, die
Deckenbretter waren rauchgeschwärzt und rau. Mehrere nahezu unbearbeitete Baumstämme, vermutlich Eiche, dienten als Stützpfeiler und markierten darüber hinaus die einzelnen Bereiche in dem weitläufigen Raum. Bleiche Totenschädel von Rindern und indianische Masken zierten die Pfeiler. An den Wänden zogen sich mit Fellen bedeckte Bänke entlang, darüber hingen unzählige gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien aus
den goldenen Zeiten des Wilden Westens, aber auch solche neueren Datums und in Farbe. Auf ihnen posierten Freizeit-Cowboys in Wildwest-Kostümen, saßen auf ihren Pferden oder präsentierten stehend ihre Waffen – Colts, Vorderlader, Winchester-Gewehre. Andere mimten Indianer, entsprechend gekleidet und ausstaffiert, mit Pfeil und Bogen oder Tomahawk in der Hand. Die Bar wiederum entsprach bis ins letzte Detail dem Bild, das man aus unzähligen Westernfilmen kannte – der lange Tresen mit den Barhockern davor und den beiden authentischen Zapfanlagen. Dahinter eine reich verzierte Regalwand, in der sich unzählige Flaschen unterschiedlicher Whiskysorten und andere harte Getränke aneinanderreihten. Über allem prangte der Schriftzug „Ponytail Saloon“ und daneben eine riesige Südstaatenflagge.

Blume blieb an der Tür stehen, ließ den Raum und seine Menschen auf sich wirken. An den Tischen saßen verstreut einige Gäste, denen vermutlich die draußen geparkten Autos gehörten. Zwei weibliche Bedienungen, stilecht gekleidet mit Stetson, Jeans, Karohemd und Cowboystiefeln, huschten zwischen den Gästen herum, eine andere kam durch eine Schwingtür, balancierte mehrere Teller mit Essen zu einem der Tische. In den Nacken der Bedienungen wippten Pferdeschwänze. Einen Pferdeschwanz trug auch die Frau hinter dem Tresen, die mit einem mürrisch wirkenden Barkeeper sprach und ihm, Blume, in diesem Moment einen flüchtigen Blick zuwarf. Etwas in ihm verkrampfte sich. Katja! Sie war es tatsächlich. Trotz der albernen Pferdeschwanzfrisur und ihrer weit über zwei Jahrzehnte zurückliegenden letzten Begegnung hatte er sie sofort wiedererkannt.

In Blumes Rücken öffnete sich die Tür und eine Gruppe Männer und Frauen drängte herein. Einer der Männer, wie die anderen vollständig in ein Cowboy-Kostüm gekleidet, rempelte ihn an. Unabsichtlich, das zeigte er durch eine entschuldigende Geste. Blume stolperte ein, zwei Schritte in den Raum hinein, fing sich und sah der Gruppe nach, die laut plappernd an ihm vorbeizog und sich im hinteren Bereich des Saloons verdrückte. Er grunzte einen leisen Fluch, streckte sich und ging zur Bar hinüber. Dort setzte er sich auf einen der Hocker.

Katja bemerkte ihn, kam zu ihm herüber. „’n Abend, Cowboy“, sagte sie lässig, „was darf’s sein? Whisky? Gin?“

„Ein Bier wäre mir lieber“, entgegnete Blume.

„Wet Bread?“

Blume runzelte fragend die Stirn.

„Unsere Spezialität“, erklärte sie. „Findest du in jedem Saloon diesseits und jenseits des Atlantiks. Oder Big Moose. Harzer Spezialität. Auch nicht schlecht. Ansonsten kann ich dir unser Schwarzbier empfehlen. Oder unser Weizen.“

„Haben Sie auch ein ganz normales Pils?“

Sie stutzte, wirkte für eine Sekunde, als habe er ihr ein unmoralisches Angebot gemacht. „Pils ... äh ... ja, natürlich.“ Sie wandte sich dem Barkeeper zu. „Sam, mach mal ein Altenauer Pils klar!“, rief sie, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihn. „Du bist das erste Mal hier, oder? Hab dich noch nie gesehen.“

Blume fragte sich, ob sie jeden neuen Gast auf diese misstrauische Art taxierte oder ob es an seinem scheinbar exotischen Getränkewunsch lag. Oder war ihr vielleicht etwas an ihm aufgefallen, das irgendwo in ihr eine Erinnerung weckte?

„Stimmt. War noch nie zuvor in der Gegend.“

„Und was hat dich hierher verschlagen?“

Er lächelte sein maskenhaftes Lächeln. „Der Beruf.“

„Lass mich raten. Du bist in der Tourismusbranche tätig. Suchst interessante neue Highlights, richtig?“ Sie zwinkerte ihm neckisch zu. „Na ja, mein Saloon läuft zwar wie geschmiert, kann nicht klagen. Ist aber trotzdem immer noch ein Geheimtipp. Ein bisschen zusätzliche Werbung wäre nicht schlecht.“

„Da liegen Sie leider komplett falsch“, erwiderte Blume, „mit Tourismus habe ich nichts am Hut ... also Ihnen gehört der Laden? Donnerwetter!“

Sie nickte stolz. „Kannst ruhig Jenny zu mir sagen. Wir duzen uns alle hier. Personal, Gäste, meine Musiker, eben alle. Wie eine große Familie. Wie heißt du eigentlich?“

„Mich nennen die Leute Stefan“, raunte er ihr zu. „Aber eigentlich heiße ich Matthias. Erinnerst du dich nicht ... Katja?“

Sie zuckte zusammen. Wich einen Schritt vom Tresen zurück. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „Was soll das?“, schnappte sie. „Willst du mich verarschen, Mann?“

Blume beugte sich vor. „Hör zu, Katja, ich will niemanden verarschen“, raunte er, in der Hoffnung, keinen unliebsamen Zuhörer zu haben. „Ich bin’s, Matthias Wagenfeld. Ich habe nach dir gesucht.“

Katja wandte sich dem Barkeeper zu. „Sam!“ Sie schnippte mit den Fingern, ließ sich von dem Mann am Zapfhahn das Bier herüberreichen, knallte es vor Blume auf den Tresen. „Ihr Pils! Macht zweifuffzig. Trinken Sie aus und dann verschwinden Sie.“

„Katja, bitte“, flehte Blume leise, „ich bin es wirklich.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Ich kenne keinen Matthias Wagenfeld.“

„Natürlich kennst du mich. Komm, jetzt tu doch nicht so!“

Sie hielt ihm drohend den Finger unter die Nase. „Wer immer Sie auch sein mögen. Matthias Wagenfeld sind Sie jedenfalls nicht! Der Matthias Wagenfeld, den ich kannte, ist tot. Schon sehr lange.“ Dann öffnete sie die Hand. „Und jetzt zahlen Sie endlich und hauen ab!“

Blitzartig griff er nach ihrem Handgelenk, umklammerte es. „Katja, hör mir doch erst mal zu, verdammt!“

Sie versuchte, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Es gelang ihr nicht. „Sam!“, rief sie und sah zu ihrem Barkeeper hinüber. Der erkannte die Situation sofort und kam hinter seinem Tresen hervor. Sekunden später stand er in Blumes Rücken, legte ihm den Arm um den Hals und drückte zu.

„Ribanna ...“, keuchte Blume, ehe er Katja losließ und sich vom Hocker zerren ließ.

„Warte!“

Für einen kurzen Augenblick glich die Szene einem Standbild. Dann bedeutete Katja ihrem Barkeeper mit einer Handbewegung, Blume freizugeben. Der Mann grunzte unwirsch und ließ von seinem Opfer ab.

„Was hast du eben gesagt?“

Blume rieb sich den Hals, hustete und trat wieder an den Tresen. „Katja Ortlepp alias IM Ribanna, erinnerst du dich?“, flüsterte er Katja ins Ohr.

„Das können Sie überall herhaben.“ Plötzlich begannen ihre Augenlider zu flackern. „Die Akten konnte ja jeder einsehen.“ Von ihrem forschen Auftreten war nichts mehr zu spüren. Nervosität dominierte ihre Mimik. Und Angst. Blume kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu genau.

„Nicht alle“, entgegnete er. „Vieles ist im Reißwolf gelandet. Bevor es jemand zu sehen bekam.“

„Was genau wollen Sie von mir? Erpressung? Das können Sie vergessen!“ Sie bemühte sich, ihre alte Selbstsicherheit zurückzugewinnen.

Blume schüttelte den Kopf. „Mein Gott, du erkennst mich ja tatsächlich nicht“, murmelte er. „Vor dir steht Matthias Wagenfeld. Wirklich ... Na gut, dann noch ein Beweis.“

„Ach ja?“ Sie schwankte zwischen Ablehnung und Neugier. „Was für ein Beweis sollte das sein?“

Blume verzog seine Mundwinkel. „Och-Och ... Erinnerst du dich? Immer, kurz bevor du ...“

„Schon gut, verdammt!“, fuhr sie ihm giftig ins Wort.

Er ließ sich nicht beirren. „Ich habe dich danach immer damit aufgezogen, weil es sich anhörte wie der Schlachtruf dieser Kinder vom Indianer-Club. Die Serie hat uns bis ins Bett verfolgt. Eine Kindersendung vom Klassenfeind! So was hast du dir angesehen! War dir völlig egal, hatte ja schließlich was mit Wildwest zu tun. Kapiert habe ich das nie. Na ja, lustig war’s trotzdem.“

Katja blickte ihn schweigend an. Musterte ihn, schien jeden Millimeter seines Gesichtes abzuscannen. Zweifel, Erschrecken, aber auch ein schwacher Funken Freude schimmerten in ihren Augen.

„Nur lustig?“, fragte sie plötzlich leise.

Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein“, sagte er. „Vor allen Dingen schön.“

„Warum bist du dann einfach so verschwunden?“, brauste sie plötzlich auf, nahm sich aber sofort wieder zurück. „Ohne ein Abschiedswort? Auf Nimmerwiedersehen abgetaucht?“ Sie presste die Worte in unterdrückter Wut hervor. „Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute war, als ich hörte, dass du tot bist? Und jetzt tauchst du einfach hier wieder auf, du Arschloch! Keine Ankündigung, nichts. Lässt mich unvorbereitet in die Falle tappen.“

„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Blume starrte auf sein Bierglas. „Aber ich dachte, wenn ich mich anmelde, wimmelst du mich ab und ich habe keine Chance.“

„Dachtest du!“ Sie stemmte sich mit beiden Händen an der Tresenkante ab, blitzte ihn herausfordernd an. „Vermutlich hast du recht. Wie siehst du überhaupt aus? Ich hätte dich nie im Leben wiedererkannt.“

„Doch, hättest du. Du kennst mich besser als jeder andere. Hättest nur genauer hinhören und hinsehen müssen.“

„Was ist mit dir passiert?“

Blume blickte sich um. Der Barkeeper hantierte wieder am Zapfhahn herum. Scheinbar desinteressiert, spitzte er dennoch die Ohren, war bemüht, etwas von dem Gespräch zwischen seiner Chefin und dem merkwürdigen Mann mitzubekommen. Der Saloon hatte sich in den vergangenen Minuten weiter mit neuen Gästen gefüllt. Die Geräuschkulisse war merklich angeschwollen. Irgendjemand hatte sich an das alte Honkytonk-Piano hinten in der Ecke gesetzt und klimperte darauf herum.

„Können wir das irgendwo an einem ruhigeren Ort besprechen?“, fragte Blume. „Wo es leiser ist und nicht so viele Ohren mithören.“

Katjas gedehntes „Okay“ war mehr Frage als Zustimmung, begleitet von einem argwöhnischen Blick. Nach kurzem Zögern redete sie weiter. „Wir schließen um Mitternacht. Vielleicht komme ich früher weg. Du kannst unterdessen bei mir zu Hause warten, wenn du willst. Ich wohne ein Stück die Straße rauf, in der Feriensiedlung.“ Sie nannte ihm die Hausnummer und zog einen Schlüssel vom Schlüsselbund. Den drückte sie ihm in die Hand. „Willst du vorher hier noch was essen?“

„Nein, ich bin satt. Habe mir vor Kurzem erst an einem Schnellimbiss den Bauch vollgeschlagen.“

Sie grinste. „Fastfood – du schreckst wohl vor nichts zurück.“ Dann zuckte sie mit den Schultern. „Na egal. Bis später also. Mach es dir so lange bequem bei mir.“

„Danke.“

„Wieso bist du eigentlich hier?“, fragte sie schnell, ehe er sich abwenden konnte. „Du musst doch einen besonderen Grund haben, wenn du nach so vielen Jahren ...“

Er nickte. „Stimmt. Ich brauche deine Hilfe, Katja. Und du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue.“