16. Kapitel

Blume schlug die Augen auf. Einen Moment dauerte es, ehe er realisierte, wo er sich befand. Seine Hand tastete nach links. Das Bett neben ihm war leer, die Zudecke zurückgeschlagen. Matratze und Kopfkissen strahlten noch ein wenig Restwärme ab. Katja war also erst kurz zuvor aufgestanden. Er richtete sich ein Stück auf, schob das Kopfkissen in den Nacken, lehnte sich dagegen. Etliche Minuten blieb er so sitzen, starrte auf das Fußende des Bettes. Die Jalousien waren nicht vollständig geschlossen, sodass spärliches Morgenlicht durch die Ritzen drang und das Zimmer in ein diffuses Halbdunkel tauchte.

Er spürte dem vergangenen Abend nach, der Zeit, die sie sich im Bett einander gewidmet hatten, bis er schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen war. Es war wie ein Déjà-vu gewesen. Katjas Körperduft, ihre weiche Haut, der Geschmack ihrer Lippen, die Intensität ihrer Küsse. Ihr Temperament und ihre Leidenschaft – so sinnlich und hingebungsvoll wie damals. Natürlich hatte sie sich verändert. Genau wie er. Äußerlich. Ihre Körper hatten dem Alter Tribut zollen müssen. Es war nicht mehr alles so straff und knackig. Dennoch strahlte Katja immer noch diese unwiderstehliche Erotik aus, immer noch war da der Gleichklang ihrer beider Bewegungen, dieses Zusammenspiel, das weit über ein rein körperliches Erleben hinausging. Mit ihr zu schlafen, fühlte sich richtig und gut an. Es passte zwischen ihnen. Immer noch. Als hätte es die fast dreißig Jahre nicht gegeben, die sie voneinander getrennt gewesen waren.

Was, wenn damals alles anders gelaufen wäre? Wenn es keine Grenzöffnung gegeben hätte und er nicht zum Beinahe-Verräter geworden wäre ... und wenn dann nicht diese Schreckensnacht gekommen wäre, die ihn endgültig zum Untertauchen gezwungen hatte? Wie wäre es weitergegangen mit ihm und Katja? Wären sie zusammenge­blieben, hätten vielleicht sogar geheiratet, eine Familie gegründet?

Unwillkürlich musste er schmunzeln. Es wäre nicht gut gegangen. Niemals! Die gleiche Leidenschaft, mit der sie sich liebten, hatte auch ihre Streitereien bestimmt. Sie waren unnachgiebig gewesen. Fordernd. Kompromisslos. Weder Katja noch er waren für ein harmonisches Familienleben geschaffen. Auch wenn die Jahre ihn ruhiger und milder hatten werden lassen, so konnte er sich trotzdem nicht vorstellen, den Rest seines Lebens mit einer Ehefrau unter einem Dach zu verbringen. Schon gar nicht mit Katja, die ohnehin als Einzige infrage gekommen wäre. Sie waren beide viel zu dominant, als dass sie es miteinander ausgehalten hätten. Immerhin, Katja hatte die Ehe gewagt, wenngleich das Experiment durch den Unfalltod ihres Mannes auf tragische Weise ein unvorhersehbares Ende gefunden hatte.

Blume fragte sich, wie er wohl gewesen sein mochte, ihr Ehemann. Hatte er Katja etwa gezähmt gehabt? Das konnte er sich nur schwer vorstellen. Eher war es wohl umgekehrt gewesen und der Motorradfahrer hatte ihr aus der Hand gefressen.

Und? Wie sollte es jetzt weitergehen? Nach dieser Nacht mit ihr. Noch verband sie die gemeinsame Recherche. Doch irgendwann war der Fall gelöst und er würde ihre Hilfe nicht mehr benötigen. Blume schnaubte, schlug mit einem Ruck die Bettdecke zur Seite, stand auf. Auf dem Weg ins Bad verscheuchte er die Fragen. Er wusste ohnehin keine Antwort darauf. Eine wunderbare Nacht lag hinter ihm, mit Gefühlen, die er lange nicht mehr erlebt hatte. Es würde ihm nicht leichtfallen, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Aber er durfte sich auf keinen Fall den Verstand vernebeln lassen. Sich ein gemeinsames Leben auszumalen, wäre ohnehin nichts weiter als Wunschträumerei gewesen.

Der Frühstückstisch bot die gleiche Fülle wie schon am Morgen nach seiner ersten Übernachtung in Katjas Haus.

„Na, mein Lieber, gut geschlafen?“, empfing sie ihn. Ihr verschmitztes Lächeln nagte an seinem gerade noch gefassten Vorsatz, seine Gefühle im Zaum zu halten.

„Wie ein Bär im Winter“, gab er zurück.

„Oh ja!“ Sie nickte. „Vor allen Dingen hast du geschnarcht wie ein Bär!“

„Quatsch! Ich schnarche nicht.“

„Und ob. Soll ich es dir vorspielen?“

„Was? Du hast doch nicht etwa ...“

Sie winkte lachend ab. „Natürlich nicht. War nur ein Scherz.“

„Finde ich nicht witzig“, schmollte Blume.

„Ach komm, sei nicht gleich beleidigt.“

Er ging zum Tisch, setzte sich. Sie lud ihm eine gewaltige Portion Rührei auf den Teller.

„Damit du wieder zu Kräften kommst“, sagte sie. Die Anspielung und ihr hintergründiges Grinsen machten jeden weiteren Kommentar überflüssig. Deshalb nickte er nur und begann, mit großem Appetit zu essen. Katja setzte sich zu ihm und betrachtete ihn.

„Hast du keinen Hunger?“, fragte er, als er zwischen zwei Bissen aufblickte und sah, dass sie immer noch vor einem leeren Teller saß.

„Doch, schon ...“

„Aber?“ Ihre Einsilbigkeit wunderte Blume.

„Das ... letzte Nacht, das ...“, begann sie zögernd. „Ich meine, es war schön mit dir. Ich hab das lange nicht mehr so erlebt.“

Blume sah ihr einige Sekunden fest in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick, wich ihm nicht aus. „Mir geht es genauso“, sagte er schließlich. „Es war wie früher. Als hätte sich nichts geändert.“

„Doch“, widersprach sie. „Genau das ist es ja.“

„Ich verstehe nicht. Was meinst du?“

„Ich möchte nicht, dass du glaubst, wir können einfach nahtlos da wieder anknüpfen. An früher. Das funktioniert nicht. Ich habe mein Leben und du deins. Wir können die Zeit nicht einfach zurückdrehen oder ausradieren und etwas Gemeinsames machen.“

Sie fürchtete also, falsche Hoffnungen in ihm geweckt zu haben. Dabei hatte sie nur ausgesprochen, was auch er dachte. Er hätte froh darüber sein können, stattdessen trafen ihn ihre Worte schmerzhaft. Es fühlte sich an, als habe sie ihm einen Korb gegeben und ihre gemeinsame Nacht sei nicht mehr gewesen als nur ein schnelles sexuelles Abenteuer, Ergebnis eines weinseligen Abends vor dem Fernseher.

„Keine Sorge, Katja, das weiß ich selbst.“ Er wich ihrem Blick aus, schnitt ein Brötchen auf und belegte es
mit Schinken. Etwas anderes konnte er nicht tun, um seine Ernüchterung zu verbergen.

„Außerdem habe ich keine Lust auf eine weitere Enttäuschung. Und die würde ich mit dir erleben, da bin ich mir sicher.“

„Wirklich?“ In seinem Inneren regte sich Widerstand. Es war nicht fair von ihr, das zu sagen. „Du denkst also, ich habe dich damals einfach so sitzen lassen? Glaubst du, mir ist es leichtgefallen? Ich habe dich geliebt! Ich wäre nie von dir weg, wenn ...“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Bitte, hör auf, Matthias ... Stefan ... ach, Scheiße, verdammt, ich weiß ja nicht mal, mit welchem Namen ich dich anreden soll. Ich weiß einfach nicht, wer du bist. Vielleicht wusste ich das nie.“

„Doch, das wusstest du, Katja“, widersprach er. „Ich war und bin der Mann, der dich geliebt hat ... und immer noch liebt.“

Sie lächelte. „Komm, lass gut sein. Dir ist ebenso klar wie mir, es würde nicht funktionieren mit uns. Wir würden uns auf Dauer gegenseitig zerstören. Das ist es nicht, was ich mir vom Rest meines Lebens wünsche. Auf einen Beziehungskrieg kann ich verzichten.“

Er biss von seinem Brötchen ab, kaute, nachdenklich, ließ sich Zeit. „Ich verstehe. Ja, vermutlich hast du recht“, sagte er schließlich. „Aber hin und wieder bei dir übernachten darf ich doch, oder?“ Er verzog den Mund, versuchte ein Grinsen und deutete auf den Tisch. „Natürlich nur wegen dieses erstklassigen Frühstücks, das ich dann morgens bekomme.“

„Natürlich.“ Sie griff zur Thermoskanne. „Noch Kaffee?“

„Aber gern.“ Blume ließ sich einschenken und trank einen Schluck. „Dieser Erik oder Sascha“, wechselte er dann das Thema, „hast du schon darüber nachgedacht, was du als Nächstes tun willst? Hast du überhaupt Möglichkeiten, irgendwas über das Leben des Mannes nach der Grenzöffnung herauszubekommen?“

Katja ließ ihre Augen über den Tisch wandern, suchte etwas. Dann hatte sie das kleine Stück Weichkäse entdeckt und griff danach. „Es gibt mehrere Möglichkeiten“, sagte sie. „Er wird genug Spuren hinterlassen haben, wenn er sich nach der Grenzöffnung nicht komplett aus dem zivilen Leben verabschiedet hatte, was ich nicht glaube. Und dann habe ich da auch noch einen sehr guten Bekannten. Polizeihauptkommissar und Stammgast im Saloon. Ich denke, er wird mir gern den einen oder anderen Gefallen tun.“

„Und dabei seine Dienstpflichten verletzen?“ Blume war skeptisch.

„Das lass mal meine Sorge sein.“ Katja grinste frech. „Ist dir doch sicher wichtig zu erfahren, ob es irgendwelche dunklen Flecken im Lebenslauf von Erik Galland gibt.“

„Ja, das wäre sehr wichtig. Mir behagt die ganze Geschichte nicht. Ich werde dieses mulmige Gefühl einfach nicht los.“

„Machst du dir Sorgen um deine Mandantin oder eher um dich?“, fragte Katja.

Ehe Blume ihr antworten konnte, läutete sein Handy. Er zog das Gerät aus der Hosentasche, nahm den Anruf entgegen, hörte der Stimme am anderen Ende eine Weile zu.

„Hören Sie, Frau Altmann“, entgegnete er schließlich mit eindringlicher Stimme, „wir müssen uns umgehend treffen! Ich habe Ihnen ein paar Dinge mitzuteilen, die wichtig sind. Danach können Sie entscheiden, was Sie tun ... Bitte!“ Nach einem Moment angespannten Schweigens nickte er. „Gut. Dann treffen wir uns dort. Ja, kein Pro­blem. Das sollte ich finden. Geben Sie mir ...“, er sah auf seine Uhr, „... geben Sie mir zwei Stunden Zeit ... Ja? Gut. Also bis dann. Ach, und rufen Sie mich bitte nicht mehr an. Sie werden mich unter der Nummer nicht mehr erreichen.“ Er beendete das Gespräch.

„Was ist?“, fragte Katja. „Du siehst nicht gerade glücklich aus.“

„Nein, verdammt! Das bin ich auch nicht!“ Blume rieb sich den Nacken. „Diese Frau bringt mich an den Rand. Ich frage mich, wozu sie mich engagiert hat, wenn sie doch alles allein macht. Weißt du, was sie mir gerade mitgeteilt hat?“

„Nein, aber du wirst es mir gleich sagen.“

„Sie braucht mich nicht mehr. Sie hat nämlich herausgefunden, wo ihr Sascha wohnt. Jemand, der das weiß, hat ihn auf dem Plakat wiedererkannt und sich bei ihr gemeldet. Sie ist natürlich sofort zu ihm hin.“

„Und jetzt sind Mutter und Sohn wieder vereint?“ In ihrer Frage schwang die Antwort bereits mit. Sie glaubte nicht daran.

„Von wegen! Erik Galland hat sie rausgeschmissen. Er hat ihr die Sascha-Sohn-Geschichte nicht abgenommen. Aber diese Hanka Altmann ist hartnäckig. Sie wird nicht so einfach aufgeben und es wieder versuchen. Ohne mich.“

„Na ja, du musst zugeben, dass du, was ihre Interessen betrifft, auch nicht gerade viel geliefert hast.“ Katjas Kritik war unüberhörbar. „Um genau zu sein, gar nichts. Sie hat, was sie wollte: ihren Sohn. Egal, ob der sie abweist. Und dass sie ihn gefunden hat, ist allein ihr Verdienst.“

„So einfach ist das nicht“, widersprach Blume.

„Doch, so einfach ist das.“

„Sie weiß nicht, auf wen sie sich da einlässt. Ihr Sascha oder Erik, ist nicht mehr der vierjährige Junge von damals.“

„Das wird sie selbst wissen und darauf hoffen, dass sie irgendwann mit ihm über alles reden kann, besonders über die Zeit, in der sie voneinander getrennt waren.“

„Es wäre besser, sie würde das von einer neutralen Person hören und sich nicht auf jemanden einlassen, den sie im Grunde gar nicht kennt.“

„Und diese neutrale Person bist du?“

„Ja, gewissermaßen. Ich wüsste nicht, wer sonst.“

„Deshalb triffst du dich nachher mit ihr?“

„Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.“

„Die sie aus deinem Mund vielleicht gar nicht hören will.“ Katja schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob es gut ist, sie mit unseren Informationen zu konfrontieren. Lass sie das selbst herausfinden. Und auch, ob Erik Galland tatsächlich ihr Sohn ist. Bewiesen ist das nämlich noch nicht. Bisher ist es nur eine Vermutung, die auf Indizien beruht.“

„Wir werden sehen“, entgegnete Blume ausweichend. „Und egal, was bei dem Treffen mit der Frau nachher herauskommt, ich möchte auf jeden Fall weiter an der Geschichte dranbleiben. Also frag ruhig deinen Hauptkommissar, was es zu Erik Galland in den Akten zu lesen gibt oder ob er ein unbeschriebenes Blatt ist.“

„Du denkst also wirklich, der Mann hat Dreck am Stecken?“

Blume zog die Schultern hoch und ließ sie mit einem resignierten Schnauben wieder fallen. „Ich habe keine Ahnung. Allerdings würde ich mich wesentlich wohler fühlen, wenn ich es wüsste.“

„Ich kümmere mich darum.“ Katja nahm ihre Serviette und wischte sich über den Mund. „Ach übrigens ...“ Sie musterte ihn kritisch. Über ihrer Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet.

„Ja?“

„Wieso bist du unter deiner Nummer nicht mehr zu erreichen?“

„Weil ich meine SIM-Karte wechseln werde.“

„Aha. Und wozu das?“

„Vorsichtsmaßnahme. Falls jemand auf die Idee kommt, Telefongespräche zu mir zurückzuverfolgen. Ich habe ein kleines Kontingent Karten. Alle anonymisiert. Bei Bedarf tausche ich sie aus.“

„Du weißt schon, dass dein Verhalten ein bisschen paranoid ist, oder?“ Katja machte keinen Hehl daraus, dass sie um ihren Freund besorgt war. „Ich denke, du brauchst keine SIM-Karten zum Wechseln, sondern einen Therapeuten. Dein Sicherheitsbedürfnis in allen Ehren, aber das ist nicht mehr normal.“

„Erzähl mir bitte nicht, was normal ist und was nicht. Mag sein, dass ich in deinen Augen etwas übertreibe. Aber nicht ich bin der Verrückte. Die Verrückten laufen da draußen rum.“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger zum Küchenfenster. „Und einer oder mehrere von denen haben es auf mich abgesehen, glaub mir. Ich werde mich hüten, ihnen eine Möglichkeit zu geben, mich zu finden.“

„Na schön. Deine Entscheidung, wenn du dich den Rest deines Lebens verstecken willst.“ Katja stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. „Und jetzt mach dich mal langsam auf den Weg, damit du nicht zu spät zu deinem Rendezvous mit Frau Altmann kommst.“

„Katja, ich ...“ Er fasste sie an den Schultern, zog sie zu sich herum. „Ich bin nicht geistesgestört. Irgendwann erzähle ich dir alles, versprochen. Dann wirst du es verstehen.“

„Jaja, schon gut.“ Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, gab ihm einen Kuss. „Hau endlich ab.“