19. Kapitel
Hanka Altmann hatte viel nachgedacht in den letzten Tagen. Hatte sich herumgequält mit der erlittenen Abfuhr bei ihrem Sohn. Und dazu noch dieser Privatdetektiv. Sie hatte es längst bereut, ihn engagiert zu haben. Anstatt ihr einfach nur Saschas Adresse zu besorgen, hatte er im Dreck der Vergangenheit gewühlt und Dinge ans Tageslicht gefördert, von denen sie lieber nichts gewusst hätte. Gerhard Hauser! Der Drahtzieher hinter Saschas Entführung! Keine wirkliche Überraschung und dennoch war ihr der Schreck tief ins Mark gefahren, als sie den Namen gehört hatte. Wie es schien, war ihr Sandkastenfreund mit dem Untergang der DDR nicht mit abgesoffen, sondern war, wie die sprichwörtlichen Ratten, vom sinkenden Schiff geflohen und trieb weiter quicklebendig sein Unwesen. Mehr noch – wenn dieser Blume recht hatte, dann stellte Hauser eine Gefahr dar. Allgemein oder nur für sie, Hanka? Das hatte er nicht gesagt, auch nicht, welche Gefahr genau das sein sollte. Und Sascha wurde vielleicht von Hauser benutzt, hatte mit diesem niederträchtigen Schurken irgendetwas zu tun? Sie wollte das nicht glauben. Auch wenn ihr Blumes Worte plausibel schienen. Aber wie sollte sie jetzt mit diesen Informationen umgehen? Wie sich verhalten? Nichts mehr unternehmen? Warten und hoffen, dass Sascha ihre Telefonnummer wählte? Damit sie mit ihm reden konnte und sich alle Befürchtungen in Luft auflösten?
Anders, als sie es ursprünglich geplant hatte, war sie gestern und heute in den Harz gefahren, um ihre Waren auszuliefern. Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, hatte sie die ursprüngliche Verkaufsroute verlassen, um Altenau anzusteuern. Dorthin zu fahren, das war von Anfang an ihre Absicht gewesen, der eigentliche Grund für ihre Planänderung. Mit heftigem Herzklopfen und einem beklemmenden Gefühl im Bauch war sie bereits gestern zwei Mal in den Ort eingefahren. Aber mit jedem Meter, dem sie sich Saschas Zuhause genähert hatte, war ihr Mut ein bisschen mehr geschwunden. Schließlich war sie, anstatt in die schmale Straße einzubiegen, einfach weitergefahren und hatte die kleine Bergstadt am anderen Ende wieder verlassen. Heute hatte sie sich dann doch überwunden. Bis fast hin zu dem Haus, in dem er wohnte, war sie gekommen. Dreißig, vierzig Meter entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hatte sie gehalten. Als sie gerade aussteigen wollte, trat eine Frau aus der Tür, an ihrer Hand ein kleines Kind. Die Frau schien noch recht jung zu sein und wirkte mit den dunkel umrandeten Augen im bleichen Gesicht und ihrem komplett schwarzen Äußeren abstoßend auf sie. Automatisch dachte Hanka an Randale, Demonstrationen, Straßenschlachten, Zerstörung. An makabere Friedhofsorgien. Sie hegte eine Abscheu gegen alle, die mit ihren Aktionen den Frieden und die Ordnung zu stören versuchten. Egal, ob linke oder rechte Randalierer, ob Gruftis oder sonstiges zwielichtiges Gesindel. Und die da mit dem Kind an der Hand sah aus wie eine von denen. Unheimlich, grauenvoll. Was hatte die in dem Haus gewollt? War sie eine Freundin von Sascha? Gab er sich tatsächlich mit solchen Leuten ab? Oder noch schlimmer – war sie etwa ...? Aber nein, die passte nicht zu ihm. So eine würde er nicht heiraten. Schon vom Alter her konnte das nicht sein. Die Frau war mindestens zehn oder fünfzehn Jahre jünger als er. Irgendwie konnte Hanka sich ihren Sascha auch nicht wirklich als verheirateten Mann vorstellen, der vielleicht sogar Kinder hatte. Und wenn, dann wäre ihr bei ihrem ersten Besuch bestimmt etwas aufgefallen, obwohl sie nur bis zur Haustür gekommen war und auch sofort wieder hatte gehen müssen.
Hanka war noch eine Weile im Auto sitzen geblieben, hatte über Saschas Familienverhältnis nachgedacht und gemerkt, wie bei dem Gedanken an eine glückliche kleine Familie Eifersucht an ihr zu nagen begann. Am Ende hatte sie den letzten Schritt nicht mehr gewagt. Anstatt hinüberzugehen und einen neuen Versuch zu machen, mit Sascha zu reden, war sie wieder gefahren. Vermutlich hätte sie ihn sowieso nicht angetroffen, weil er arbeiten musste. Eine fadenscheinige Begründung, die ihr für den Rest des Tages ein schwacher Trost gewesen war.
Als Hanka zu Hause ankam, goss es in Strömen. Kurz nach Mittag war die Schlechtwetterfront aufgezogen. Es schien, als habe der Himmel bis zu diesem Moment gewartet, um seine Schleusen zu öffnen. Sie bog auf das Grundstück ein und fuhr die wenigen Meter bis vor die Garage. Dort hielt sie und stellte den Motor ab. Sie blieb sitzen, wollte abwarten, bis der Regen etwas nachließ, ehe sie die Transportkisten auslud. Niedergeschlagen starrte sie durch die Sturzbäche hindurch, die über die Windschutzscheibe rannen, erkannte nur schemenhaft dahinter das Garagentor. Bald begann der monoton auf das Autodach prasselnde Regen sie einzulullen. Sie spürte die Müdigkeit in allen Knochen, eine Müdigkeit, die nicht von der körperlichen Arbeit herrührte. Vielmehr schwand ihre Energie in dem Maße, wie die Hoffnung allmählich verblasste. Sollten sich ihre Wünsche und Träume dieses Mal wieder als schillerndes Trugbild erweisen, würde sie die Suche nach ihrem Sohn aufgeben. Dann aber würde sie auch auf die Frage, wofür sie eigentlich lebte, keine Antwort mehr wissen.
Nach einer guten Viertelstunde stieg Hanka aus. Die Zeit wurde ihr zu lang und sie wollte nicht warten, bis der letzte Tropfen vom Himmel gefallen war. Ein Blick nach oben zeigte ihr, dass es bis dahin noch dauern konnte. Sie beeilte sich mit dem Ausladen, war trotzdem schon nass bis auf die Haut, als sie erst die Hälfte der Kisten im Schuppen verstaut hatte. Sie erledigte stumpfsinnig den Rest und trottete dann mit gesenktem Kopf zum Haus hinüber. Es regnete weiter ohne Unterlass.
Im Hausflur schüttelte sie sich das Wasser aus den Haaren. Ihr erster Weg führte ins Bad. Dort zog sie sich aus und rubbelte sich mit einem Handtuch trocken. Im Schlafzimmer unter dem Dach schlüpfte sie in ihren bequemen Jogginganzug. Danach fühlte sie sich etwas wohler, ging wieder hinunter und warf einen schnellen Blick ins Wohnzimmer. Sie wollte Rudolf sagen, dass sie zurück war. Diesen Moment der Begegnung hatte sie sich aufgespart, wollte es möglichst lange hinauszögern, sich dem Missmut ihres Mannes auszusetzen. Schon heute Morgen hatte er sich unwohl gefühlt, hatte den Wetterumschwung in seinen Knochen gespürt. Die Schmerzen waren im Tagesverlauf vermutlich schlimmer geworden.
Ihr Mann saß nicht wie erwartet in seinem Fernsehsessel und schaute sich eine seiner geliebten Serien an.
„Rudi?“ Sie verharrte einen Moment, lauschte. Rudolf antwortete nicht. „Rudi, bist du da?“ Er konnte nicht weit sein. Nicht, wenn ihn das Rheuma quälte. An solchen Tagen ging er nie vor die Tür.
Sie hörte ein leises Klappern. Es kam aus der Küche. Hanka schlurfte in ihren Frotteepantoffeln hinüber und trat durch die Tür. Rudolf stand mit einer Dose Fertigsuppe neben dem Herd, suchte etwas in einer der Schubladen, fischte gleich darauf den Dosenöffner heraus.
„Ach, hier bist du“, sagte sie. „Ich bin zurück. Mein Gott, ist das ein Sauwetter!“
„Hm ...“ Mehr als ein unwirsches Brummen kam nicht als Antwort.
„Ich kann dir gern was Vernünftiges zu essen machen.“ Sie griff nach der Dose, wollte sie ihm aus der Hand nehmen und wieder in den Schrank stellen.
„Lass das“, fauchte Rudolf. „Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich komme alleine zurecht.“
Hanka zog ihre Hand zurück. „Ist ja gut. Entschuldigung!“ Sie setzte sich an den Küchentisch und betrachtete den Rücken ihres Mannes. Rudolf werkelte stumm vor sich hin. Er vermied es, sich zu ihr umzudrehen und sie anzublicken.
Nach einer Weile unterbrach Hanka das Schweigen. „Wie ist es mit deinen Schmerzen?“
„Geht so.“
„Das Wetter?“
„Hm ...“
„Was hast du heute gemacht?“
„Nichts.“
„Nichts. Aha. Ist sonst irgendwas gewesen?“
Kurzes Zögern. Dann: „Nein.“
„Wir könnten ja mal wieder was unternehmen ... wenn es dir besser geht. Was meinst du?“
„Hm ...“
Das leise Blubbern im Topf verriet Hanka, dass die Suppe kochte. Rudolf schaltete den Herd ab. Er machte einen Schritt nach rechts, zum Hängeschrank hin, öffnete ihn und nahm einen Teller heraus. Den füllte er mit der heißen Suppe. Mit unsicheren Schritten balancierte er den vollen Teller zum Tisch, stellte ihn behutsam ab. Wie in Zeitlupe wandte er sich wieder der Küchenzeile zu, holte sich einen Löffel aus der Schublade. Dann endlich setzte er sich mit einem Ächzen auf den Stuhl und begann zu essen. Langsam und vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrennen. Seine Hand zitterte leicht, etwas Suppe plätscherte zurück auf den Teller. Hanka sah ihm zu, sah, dass er allmählich schneller wurde. Ekel stieg plötzlich in ihr auf. Sie war nahe daran, würgen zu müssen. Es war die Art, wie Rudolf Löffel um Löffel mechanisch in sich hineinschlürfte und dabei Tropfen aus den Mundwinkeln in seine Bartstoppeln sickerten. Sie stand auf, riss ein Stück Papier von der Küchenrolle und reichte es ihm. Rudolf nahm es mit einem Grunzen entgegen, wischte sich über das Kinn, warf es auf den Tisch, aß ungerührt weiter.
„Da ist ’n Brief für dich gekommen“, brummte er plötzlich, ohne von seinem Teller aufzublicken.
„Ein Brief? Wo?“
„Liegt im Wohnzimmer.“ Er deutete mit dem Löffel zur Tür.
„Und von wem?“ Hanka war aufgestanden.
Rudolf zuckte mit den Schultern, stierte weiter auf seine Suppe. „Stand kein Absender drauf.“
Wütend drehte sich Hanka von ihm weg. Rudolfs Einsilbigkeit war zum Verrücktwerden! Schmerzen hin, Schmerzen her. Sie schlappte aus der Küche. Kaum zwei Minuten später stand sie wieder vor dem Esstisch. Das Gesicht kreidebleich. Sie hielt sich an der Stuhllehne fest, krallte ihre Fingernägel in das Kunstleder.
„Hast du das gelesen?“ Sie hielt ihrem Mann das Blatt Papier entgegen. Es waren aus Zeitschriften ausgeschnittene Buchstaben, die darauf klebten.
Rudolf nickte.
„Finger weg von Erik oder wir werden dich ausmerzen, du Zeckenschlampe!“, zitierte sie mit bebender Stimme den kurzen Text. Sie musste heftig schlucken. Der Kloß in ihrem Hals wuchs. „Wer schreibt so etwas Widerliches?“
„Siehst du das nicht?“, brauste Rudolf unerwartet heftig auf. Er riss ihr das Blatt aus der Hand, knallte es auf die Tischplatte und tippte wütend mit dem Zeigefinger darauf. „Das stammt von irgendwelchen verfluchten Nazi-Typen!“
Hanka fühlte sich, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Sie musste sich setzen. „Aber wie ... wieso Nazis? Was haben wir denn damit zu tun?“
„Keine Ahnung! Sag du es mir!“
„Wie kommst du überhaupt darauf, dass es von denen stammt?“
„Hier, siehst du das?“ Er pochte auf das Symbol unter dem Text. „Das ist ein Keltenkreuz. Das verwenden diese rechten Brüder. Genau, wie die beiden Achten. Zweimal der achte Buchstabe im Alphabet. Eine Art Gruß. Steht für Heil Hitler. Hab mich darüber schlaugemacht, während du mit deinen Marmeladen unterwegs warst. Hatte ja genug Zeit.“
„Ich verstehe das nicht.“
„Ich schon!“ Rudolfs Gesicht nahm eine ungesunde Farbe an. „Das liegt nur daran, weil du keine Ruhe gibst. Diese verdammte Sucherei nach deinem Sohn!“
„Ich bin also schuld?“
„Wer denn sonst? Wer weiß, wen du da mit deinem Plakat aufgescheucht hast! Wohl kaum deinen Sascha!“
„Aber ...“
Hanka wollte das nicht auf sich sitzen lassen, wollte Rudolf entgegenschleudern, dass es ja hauptsächlich seine Idee gewesen war mit dem Phantombild. Doch dann schluckte sie die Worte herunter, weil sie sich wieder an die Minuten vor dem Haus in Altenau erinnerte. Die junge Frau, die sie gesehen hatte. Die mit dem Kind aus dem Haus gekommen war. Ja, dem Aussehen nach konnte die eine Nazi-Braut sein. Und das hieße dann vielleicht, dass ihr Sascha auch ein ... Nein, nie im Leben! Oder doch? Hatte sie sich wirklich so sehr getäuscht in diesem Mann, Erik Galland? Hatte sie nur gesehen, was sie sehen wollte? Ihren Sohn? Aber Stefan Blume, der Detektiv, der hatte ihr bestätigt, dass es Sascha war! Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.
„Was soll ich denn jetzt tun?“, wimmerte sie. So hilflos wie in diesem Moment hatte sie sich schon ewig nicht mehr gefühlt.
„Was du tun sollst?“ Rudolf starrte sie mit kalten Augen an. „Du tust gefälligst genau das, was da auf dem Wisch steht! Du lässt die Finger von diesem Erik oder wie der auch immer heißt. Du gibst endlich Ruhe mit deiner Sucherei. Es reicht! Endgültig!“
Hanka wich seinem Blick aus. „Aber ich ...“
„Nein!“, fiel er ihr ins Wort. „Willst du etwa riskieren, dass die Kerle dich vielleicht auf offener Straße zusammenknüppeln? Oder unser Haus in Brand stecken? Oder weiß der Kuckuck, was die sonst noch für Methoden haben! Willst du das?“
Hanka schüttelte kraftlos den Kopf, griff nach dem Blatt von der Küchenrolle, das Rudolf achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Sie schnäuzte sich. „Hast du ... hast du die Polizei angerufen?“
Ihr Mann lachte auf. Es klang bitter, eine Mischung aus Wut, Verachtung und Hilflosigkeit. „Die Polizei, natürlich“, ätzte er. „Als ob die uns noch irgendwie helfen würden. So oft, wie du denen auf die Nerven gegangen bist, geben die keinen Pfifferling mehr auf so einen Fetzen Papier, wenn wir damit ankommen. Das landet bei denen in der Ablage oder im Papierkorb und gut.“
„Aber die können so eine Drohung nicht einfach ignorieren!“
„Doch, die können“, behauptete Rudolf. „Gib du einfach nur Ruhe, dann passiert auch nichts. Du hast uns schon tief genug reingeritten.“
Hanka sagte nichts mehr. Sie stand auf und verließ die Küche. Vermutlich hatte ihr Mann recht. Die Beamten würden wegen ihr keine Sonderkommission einsetzen, um die Urheber des Briefes zu fassen. Aber so eine Drohung einfach übergehen und den Brief in die Mülltonne werfen? Das änderte nichts daran, dass gewisse Leute ein Auge auf sie geworfen hatten. Leute, die nicht wollten, dass sie mit dem Mann, den sie für Sascha hielt, in Kontakt trat.
Der Mann, den sie für Sascha hielt ... Sie blieb vor der Treppe hinauf ins Obergeschoss stehen, schüttelte den Kopf. So weit war sie also schon, dass sie an ihrem eigenen Gespür zweifelte. Sie machte sich gerade, reckte das Kinn vor. Nein! Mochte der Mann für alle anderen Erik sein – er war ihr Sohn! Und sie würde nicht so einfach klein beigeben. Aber allein? Was sollte sie allein ausrichten? Also doch wieder der Detektiv! Der würde die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Er würde etwas tun. So ungern Hanka es sich eingestand, aber Stefan Blume war der Einzige, an den sie sich wenden konnte. Und das, nachdem sie vor Kurzem erst großspurig seine weitere Hilfe abgelehnt hatte. Zum Glück war sie auf seine Bitte um weitere Kooperation eingegangen. Sie überlegte, ob sie Blume sofort anrufen oder bis morgen warten sollte.
Noch ehe sie einen Entschluss gefasst hatte, läutete das Telefon.