21. Kapitel
Blume hatte sich verspätet. Ein Stau in einer der leidigen Baustellen auf der A7 war ihm zum Verhängnis geworden, trotz vorausschauender Zeitplanung.
Kurz nach drei bog er in die schmale Straße am westlichen Stadtrand von Goslar ein. Knapp fünf Minuten später fuhr er auf den Parkplatz, der weit außerhalb der Stadt lag, eingebettet in Wiesen und Nadelwald. Von hier aus hatte er noch etwa einen halben Kilometer Fußweg vor sich, bis er die Waldgaststätte erreichte, die ihm Hanka Altmann genannt hatte. Dort war sie für fünfzehn Uhr mit Erik Galland verabredet gewesen. Sein Plan, bereits vor den beiden in dem Gasthaus zu sein, sie eine Weile zu beobachten, und dann zu ihnen zu stoßen, war jetzt natürlich Makulatur.
Er parkte direkt an der Einmündung des Platzes rückwärts ein und stellte den Motor ab. Mehr zufällig fiel sein Blick auf Hanka Altmanns kleinen Lieferwagen, der ganz hinten zusammen mit einigen anderen Fahrzeugen am Ende des lang gezogenen Platzes stand. Ein Mann bewegte sich zwischen den Autos hindurch, schien sich aber ganz besonders für den Lieferwagen zu interessieren. Im ersten Moment wirkte das Verhalten des Mannes unauffällig wie das eines arglosen Mitmenschen, der vielleicht auf jemanden wartete und sich die Zeit vertrieb, indem er die dort abgestellten Fahrzeuge begutachtete.
Blumes Augen waren jedoch geschult genug und er verfügte über ausreichend Erfahrung, um zu wissen, dass der Kerl dort hinten keineswegs so unbedarft war, wie er sich gab. Das Augenmerk des Unbekannten galt eindeutig dem Wagen von Hanka Altmann und ebenso dem Pkw daneben. Der Mann konnte durchaus ein Autoknacker sein, der eine günstige Gelegenheit sah. Andererseits schien es überhaupt nicht so, als wolle er eins der Fahrzeuge aufbrechen.
Als der Fremde neben dem Lieferwagen in die Hocke ging, hätte jeder andere vermutlich gedacht, er habe etwas verloren oder wolle sich nur einen Schuh zubinden. Nicht so Blume. Der Typ bringt einen Peilsender an, war sein erster Gedanke. Auch wieder nur so ein Reflex, seinem übertriebenen Misstrauen geschuldet? Vielleicht. Trotzdem war er alarmiert. Er griff nach der Umhängetasche auf dem Beifahrersitz und zog seine Kamera heraus. Schon aus Gewohnheit führte er die Tasche, in der sich noch andere wichtige Utensilien zur Observation befanden, immer mit sich. Er hätte nicht gedacht, dass er die Kamera heute gebrauchen könnte. Ohne seine Augen von dem Fremden zu lassen, der sich wieder aufgerichtet hatte, öffnete er das Seitenfenster und zielte mit dem Fotoapparat auf den Mann. Er machte ein paar Aufnahmen in der Totalen, dann zoomte er den Fremden näher heran. Wieder ließ er den Auslöser klacken. Als der Mann sich plötzlich umdrehte und in seine Richtung blickte, zog er den Apparat blitzschnell zurück und duckte sich, so gut es ging, hinter das Armaturenbrett. Sekunden später lugte er vorsichtig zwischen Lenkrad und Konsole hindurch. Der Mann bewegte sich von dem Lieferwagen weg, hin zu einem anderen Auto, ein Stück abseits. Wie es schien, sein eigenes, denn er öffnete die Fahrertür, beugte sich hinein und holte etwas heraus. Blume konnte aus der Entfernung nicht genau ausmachen, worum es sich bei dem Gegenstand handelte. Doch dann, als der Mann sich das Ding um den Hals hängte, glaubte er, ein Fernglas zu erkennen.
Der Fremde bewegte sich von seinem Auto weg, hin zum nahen Wald. Wenige Augenblicke später war er zwischen den Bäumen verschwunden. Ein argloser Wanderer, der mit seinem Fernglas Fauna und Flora beobachten wollte. Unverdächtig.
Blume wartete noch zwei, drei Minuten, dann stieg er aus. Er nahm seine Kamera mit und ging hinüber zu Hanka Altmanns Lieferwagen. Dort, wo der Mann sich hinuntergebeugt hatte, bückte auch er sich und nahm den Unterboden des Fahrzeugs in Augenschein. Nichts. Etwas überrascht kam er wieder hoch. Er war überzeugt gewesen, dass der Fremde sich an dem Auto zu schaffen gemacht hatte. Wenn der Kerl sich nun doch nur die Schuhe zugebunden hatte? Vielleicht war es tatsächlich so gewesen. Und dennoch – was immer Blume auch gesehen hatte, sein Instinkt warnte ihn. Etwas stimmte nicht mit dem Typ.
Nachdenklich blickte er hinüber zu der Stelle, wo der Mann im Wald verschwunden war. Dann steuerte er auf dessen Auto zu, schaute in den Innenraum. Alte Parkscheine, die verstreut herumlagen, eine halb leere Mineralwasserflasche und eine Plastiktüte auf dem Beifahrersitz, dazu ein verdreckter Fußraum. Nichts Auffälliges. Er schoss weitere Fotos, achtete darauf, dass das Nummernschild gut zu sehen war. Danach machte er sich auf den Weg hinauf zur Waldgaststätte.
Blume entdeckte Hanka Altmann in dem verwinkelten Restaurant nicht sofort. Das rustikale Interieur machte es ihm unmöglich, von einem Ende des Raumes bis zum anderen zu blicken. Wohin er sich auch wandte, überall Holz, das ihm die Sicht versperrte. Nahe des Eingangs eine alles dominierende Treppe ins Obergeschoss, dazu Absätze, kleine, etwas erhöhte Ebenen, Ecken und Nischen, zaunartige Abtrennungen, Brüstungen und andere knorrige Accessoires. Was vermutlich urige Gemütlichkeit vermitteln sollte, empfand er, kaum dass er eingetreten war, als beklemmende Enge.
Dann sah er sie rechts hinter dem Thekenbereich, am äußersten Ende des Raumes, auf einer der Plattformen am Fenster sitzen. Hanka Altmann und den Mann, der Erik Galland sein musste. Blume nahm die kleine Stufe auf das Podest, machte einen Schritt zur Seite, sodass er ins Blickfeld seiner Mandantin geriet. Sie bemerkte ihn und nickte unmerklich. Dann wandte sie sich wieder ihrem Gegenüber zu, der offensichtlich nichts von dem kleinen Manöver mitbekommen hatte.
Blume zog es vor, die zwei nicht sofort zu überfallen und nahm zwei Tische entfernt im Rücken des Mannes mit Blick auf Hanka Altmann Platz. Er hoffte, sie würde ihren Gesprächspartner vorbereiten und ihm, Blume, signalisieren, wenn er sich zu ihnen gesellen
sollte.
Obwohl keine weiteren Gäste auf dem Podest saßen, konnte Blume nichts von dem aufschnappen, was die beiden miteinander beredeten. Der Geräuschpegel im Gastraum überlagerte ihre Worte. Nur ein gedämpftes Brabbeln drang an seine Ohren. Wenige Minuten später jedoch änderte das Gespräch seine Klangfarbe, wurde lauter, auch eine Nuance aggressiver. Blume fing Hanka Altmanns Blick auf. Sie wirkte ratlos, fast schon ein wenig verzweifelt. Er nahm es als Hilferuf, erhob sich, ging zu ihnen an den Tisch.
„Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, dass ich so einfach in Ihre Unterhaltung platze, aber ich dachte ...“
„Sie stören. Sehen Sie das nicht?“, unterbrach ihn Erik Galland feindselig.
„Sascha, das ist Herr Blume.“
„Wer?“
Sie hatte ihm also noch nichts gesagt, stellte Blume fest. Kein guter Zeitpunkt, jetzt aufzutauchen.
„Der Herr heißt Stefan Blume. Er ist der Privatdetektiv. Er hat ...“ Weiter kam sie nicht.
„Wie bitte?“ Erik Gallands Gesicht verwandelte sich zur wütenden Grimasse. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, stieß ein kaltes Lachen aus. „Ah, natürlich! Verstehe! Sie haben mich beschatten lassen! Warum? Was haben Sie vor?“
„Wir waren beim Du, Sascha“, warf Hanka Altmann zaghaft ein.
Er wischte ihre Bemerkung mit einer ungehaltenen Handbewegung weg. „Noch mal, was soll das hier werden?“ Er nickte kurz zu Blume hin. „Mit dem da? Wollen Sie mich aufs Kreuz legen? Haben Sie mich deshalb hier hochgelockt?“
„Reden Sie keinen Unsinn, Mann!“, ging Blume dazwischen. Es wurde Zeit, dass er die Regie übernahm. „Niemand hat Sie beschattet!“ Er griff nach dem freien Stuhl, zog ihn ein Stück zurück, setzte sich und legte seine Kamera auf die Tischplatte. In den wenigen Sekunden, die er dazu brauchte, hatte er den Mann rechts von sich genau taxiert. Erik Gallands Augen waren tatsächlich von einem bemerkenswerten Blau. Kein Wunder, dass er damit auffiel. Der verkrüppelte Finger hingegen erregte vermutlich erst auf den zweiten Blick Aufmerksamkeit, sofern man nicht gezielt oder durch Zufall darauf gestoßen wurde.
„Was haben Sie mit ihr zu tun?“ Erik Galland deutete auf Hanka Altmann, die sichtlich eingeschüchtert den Blick senkte.
„Sie hat mich gebeten, ihr bei der Suche nach Ihnen zu helfen. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?“
„Schon. Aber weder wie Sie heißen noch dass Sie heute hier auftauchen würden.“ Erik Galland beruhigte sich ein wenig, seine Ablehnung schien in Neugier umzuschlagen. „Also, weshalb sind Sie hier? Meine Mutter ... Frau Altmann war es doch, die mich aufgestöbert hat. Allein. Ohne Ihre Hilfe.“
„Sie können sie ruhig Ihre Mutter nennen“, gab Blume zurück. „Mit ziemlicher Sicherheit ist sie das nämlich. Und um Ihnen das zu bestätigen, bin ich gekommen. Frau Altmann hat mich darum gebeten, bei Ihrem Treffen dabei zu sein.“
„Hattest du Angst, ich glaube dir nicht?“ Erik Galland war wieder zurück ins Du gewechselt und hatte sich seiner Mutter zugewandt.
Hanka Altmann nickte. „Ich war mir nicht sicher. Ist ja auch eine unfassbare Geschichte. Herr Blume kann sie aber bestätigen. Er hat alles herausgefunden, was damals passiert ist.“ Sie wandte sich dem Detektiv zu. „Vielleicht sagen Sie ihm noch mal, wie das genau war. Ich habe ihm so viel von mir erzählt und dann war ich auch so aufgeregt und habe vielleicht etwas vergessen oder durcheinandergebracht.“
„Wenn Sie wollen.“ Blume nickte und sah Erik Galland fragend an.
„Ich bin ganz Ohr“, sagte der nur und erwiderte mit herausfordernder Miene den Blick.
Blume gab alles wieder, was er wusste, erklärte die Zusammenhänge, soweit er konnte, und verfolgte dabei interessiert Gallands Mienenspiel, das von Ablehnung über Neugier hin zu Entsetzen und Traurigkeit nahezu alle vorstellbaren Gefühlsfacetten spiegelte. „Kennen Sie einen gewissen Gerhard Hauser?“, fragte er abschließend.
„Gerhard Hauser?“ Erik Galland krauste die Stirn. „Nein ... nein, nie von ihm gehört. Wer soll das sein?“
„Der Mann ist allem Anschein nach für Ihre Entführung verantwortlich und hat auch danach maßgeblich Ihren weiteren Lebensweg mitbestimmt.“
Erik Gallands Augen irrten unruhig zwischen seiner Mutter und Blume hin und her. „Verstehe ich nicht. Warum hat er das getan? Wusstest du das?“ Die letzte Frage ging an seine Mutter.
„Nein, ich hatte keine Ahnung“, sagte Hanka Altmann. „Das habe ich auch erst von Herrn Blume gehört. Aber ich kenne den Mann. Ich war Hausers Sandkastenliebe.“ Blume überließ es ihr, die Geschichte zu erzählen. „Hätte ich mich damals für Gerhard entschieden, wer weiß, wie mein Leben dann verlaufen wäre ...“ Sie ließ den letzten Satz einen Moment in der Luft hängen, blickte gedankenverloren nach draußen. „Bist du eigentlich verheiratet?“, fragte sie unvermittelt.
Erik nickte. „Ja. Mit Rike. Wir haben eine Tochter. Emma.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
Das erste Mal, dass er so etwas wie Freude zeigte, stellte Blume fest.
„Ist sie so eine, die sich ganz in Schwarz kleidet?“, fragte Hanka Altmann. „Ich habe sie aus deinem Haus kommen sehen. Mit einem kleinen Mädchen an der Hand.“
„Du warst also tatsächlich noch mal da. Rike hat dein Auto gesehen.“
„Ja, ich war da. Hab mich aber nicht getraut, bei dir zu klingeln.“ Hanka zögerte. „Ist sie ... hat deine Frau was mit diesen Neo-Nazis zu tun? Oder mit anderen Radikalen?“, fragte sie. „Ich meine, ihr Aussehen ... ganz ehrlich, so eine Frau passt doch gar nicht zu dir.“
Eriks Gesicht verdüsterte sich binnen Sekundenbruchteilen, was Hanka Altmann nicht verborgen blieb. „Entschuldigung. Das hätte ich nicht sagen sollen.“ Sie streckte ihm flehend ihre Hände entgegen. „Es tut mir leid.“
„Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Ihrer Mutter von Ihrem Leben nach der Grenzöffnung zu erzählen“, schaltete sich Blume ein, der in den letzten Minuten geschwiegen hatte. „Das sind immerhin knapp dreißig Jahre gewesen. Ich glaube, sie hat ein Recht darauf, das zu erfahren. War ja doch ein ziemlich bewegter Lebensabschnitt. Sie sollten ihr nichts verschweigen, wenn Sie wieder zueinanderkommen wollen.“
Erik Galland wandte sich ihm zu, die Augen zusammengekniffen. Holte Luft, wollte etwas erwidern, ließ es dann aber sein. Er wirkte aufgewühlt. Als habe man ihn auf frischer Tat ertappt. Blume sah, wie der Mann mit sich kämpfte. Seine Hände krallten sich ineinander, seine Kiefer mahlten. Er musste vorsichtig sein, durfte ihn nicht zu sehr herausfordern und in die Ecke drängen. Wenn Erik Galland jetzt aufstand und ging, war es vermutlich das erste und letzte Treffen von Mutter und Sohn gewesen.
„Was ist? Was soll er mir erzählen?“ Hanka Altmanns Angst vor einer bösen Überraschung war greifbar. Blume schielte zur Seite, sah ihre Lippen zittern. Zweifellos wusste sie nicht das Geringste über den Werdegang ihres Sohnes nach der Wende.
„Warum sagen Sie es ihr nicht?“, schnappte Erik Galland unvermittelt. „Sie sind doch hier der große Ermittler und wissen vermutlich besser über mich Bescheid als ich selbst.“
„Wollen Sie das wirklich?“ Blume fixierte den Mann, vergewisserte sich, ob er es ernst meinte.
Erik Galland wich seinem Blick aus. Dann nickte er.
„Na schön. Ich werde es kurz machen.“
Erst gestern hatte Blume mit Katja telefoniert und sich berichten lassen, was ihr Polizeifreund über Erik Galland zusammengetragen hatte. Der Beamte schien es mit den Dienstvorschriften, was die Herausgabe von Informationen anging, nicht allzu genau zu nehmen. Zumindest nicht, wenn er von einer Saloonbesitzerin umgarnt wurde. Es war eine ganze Menge, was er recherchiert und an Katja ausgeplaudert hatte, der überwiegende Teil davon nicht besonders erfreulich.
„Nach der Grenzöffnung sind Sie verschwunden“, begann Blume. „Abgetaucht. Es hielt Sie nichts in dem Heim, das Ihnen vermutlich wie ein Gefängnis vorgekommen sein muss. Über die Zeit, die dann kam, kann ich nur spekulieren. Ich bin mir sicher, Sie haben sich irgendwie durchgeschlagen, mit Gelegenheitsjobs, sind bei verschiedenen Leuten und Freunden untergekrochen. Fest steht jedenfalls, Sie wurden mehrere Male bei Diebstählen erwischt, haben immer wieder ein paar Tage hinter Gittern verbracht. Eine feste Bleibe hatten Sie nicht, bis zu dem Tag, als Sie in Cottbus mit einem Mann zusammengetroffen sein müssen, der Sie in sein Haus aufgenommen hat. Der Mann war Malermeister. Sie haben bei ihm eine Lehre gemacht und auch bei ihm gewohnt. Über ihn haben Sie dann Kontakt zur rechten Szene bekommen. Ihr Förderer hat Sie in Kameradschaftskreise eingeführt, in denen er der große Anführer war. Ich kann mir vorstellen, dort haben Sie, nach allem, was hinter Ihnen lag, das erste Mal so etwas wie Freundschaft und Zusammenhalt erlebt. Was Ihren Beruf betrifft, hatten Sie jedoch kein großes Glück. Drei Jahre nach Ihrem Lehrabschluss ist Ihr Förderer mit seinem Betrieb Pleite gegangen. Sie saßen wieder auf der Straße, nicht nur beruflich. Auch bei ihm zu Hause war plötzlich kein Zimmer mehr für Sie frei. Es hieß, der Grund dafür sei die sehr attraktive Ehefrau des Malers gewesen. Ich weiß nicht, was daran wahr ist. Und ich möchte das Thema auch nicht weiter vertiefen.“ Blume machte eine kurze Pause, seufzte. „War jedenfalls nicht gerade eine Bilderbuchkarriere, die Sie da hingelegt haben“, fuhr er fort. „Wie kommt’s? Kein Interesse gehabt, was aus sich zu machen? Nach oben zu kommen?“ Eine kleine Provokation, die Blume sich nicht verkneifen konnte.
„Das wundert Sie jetzt, wie?“, giftete Erik Galland zurück. „Wo es doch angeblich überall blühende Landschaften geben sollte! Wissen Sie was, Herr Meisterdetektiv? Ich muss das irgendwie verschlafen haben mit der plötzlichen Blüte. Als ich aufgewacht bin, war davon jedenfalls nichts mehr zu sehen. Ausverkauf statt Aufbruchsstimmung. Überall tote Hose. Da war nix mit Karriere.“
Blume zuckte müde mit den Schultern. Immer die gleiche Leier der Verlierer. Er hatte keine andere Antwort erwartet. „Egal, Sie hatten auf jeden Fall genug Verbindungen in der rechten Szene, sodass Sie regelmäßig an Arbeit und zu Unterkünften gekommen sind“, setzte er seine Ausführung fort. „Unter Kameraden hat man sich eben geholfen. Aus der Zeit stammen allerdings auch etliche Übergriffe im Verlauf von rechten Demonstrationen mit Sachbeschädigungen bis hin zu Körperverletzungen. Ihre Polizeiakte weist eine ansehnliche Länge auf. Irgendwann scheinen Sie dann aber ruhiger geworden zu sein, haben vermutlich Ihre Frau Rike kennengelernt und sich mit ihr ein bescheidenes Familienleben aufgebaut. Zur Miete in dem Haus in Altenau und mit Ihrem jetzigen Job als Kurierfahrer.“
Erik Galland klatschte lässig in die Hände, spendete spöttischen Beifall. „Bravo, Herr Detektiv. Saubere Ermittlerarbeit“, höhnte er.
Blume blieb unbeeindruckt. „Verdient man eigentlich gut als Kurierfahrer?“
„Wir kommen zurecht. Mein Chef zahlt gut. Gehört nicht zu den Marktführern. Den Halsabschneidern. Ist nur ein kleines Unternehmen.“
„Ja. Ich weiß.“
Erik Galland schnaubte verächtlich. „War klar.“
„Und sonst?“, fragte Blume. „Immer noch mit den rechten Kameraden auf Tuchfühlung? Ich meine, so eine Gesinnung gibt man doch nicht einfach an der Garderobe ab.“
„Wäre das so schlimm? Was soll das jetzt? Was wollen Sie?“
„Sie sind lustig! Die Umtriebe von Ihresgleichen sind verfassungsfeindlich, erfüllen verschiedenste Straftatbestände, das ist Ihnen ja bekannt. Es soll da eine rechte Gruppierung in Ihrem nahen Umfeld geben. Vielleicht gehören Sie der ja an.“
„Oh, das klingt jetzt aber nicht sehr nett. Als würden Sie mich unbedingt als Verbrecher verurteilen wollen.“
„Nein, keineswegs. Das steht mir nicht zu. Das ist die Aufgabe von anderen. Ich will nur, dass Sie ehrlich zu Ihrer Mutter sind. Das hat sie verdient.“
Erik Galland schüttelte den Kopf, begleitet von einem bitteren Lachen. „Ehrlich, na klar. Ehrlichkeit ist ein hohes Gut. Wird von allen Seiten eingefordert. Besonders von denen, die die Leute Tag für Tag aufs Schlimmste belügen. Nur, wenn man dann ehrlich sagt, was Sache ist, dann gehört man zu dem rechten Pack, wird als Nazi gebrandmarkt. Was ist so verachtenswert daran, wenn meine Kameraden und ich auf die Missstände hinweisen? Wenn wir uns für ein Deutschland stark machen, das der internationalen Einflussnahme trotzt? Wenn wir gegen Überfremdung auf die Straße gehen, es nicht zulassen wollen, dass der Islam unsere deutsche Lebensart verdrängt? Wir halten nicht den Mund, wenn Fremde versuchen, uns ihre Regeln aufzuzwingen. Unsere Regierung dagegen öffnet Wirtschaftsflüchtlingen und Asyltouristen Tür und Tor, schaut tatenlos zu, dass sich diese Schmarotzer an unserem Sozialsystem nach Belieben bereichern, sich auf unsere Kosten fettfressen, uns ihre abartige Kultur überstülpen. Wir protestieren dagegen, dass diese Regierung das deutsche Volk ausbluten lässt und werden dafür als Nazis beschimpft.“
Blume hob abwehrend die Hand. „Danke, Herr Galland. Sie müssen nicht Ihre verqueren Ansichten über die Zustände in unserem Land vor mir ausbreiten. Und vor Ihrer Mutter sicher auch nicht, denke ich.“
In der plötzlich eingetretenen Stille versuchte Blume, Gallands absurde Äußerungen richtig einzuordnen. Irgendwie hatten seine Worte unehrlich geklungen, leer und ohne innere Überzeugung. Als hätte der Mann nur einen Katalog mit Phrasen heruntergebetet. Trat so einer auf, der fest zu seiner Weltanschauung stand? Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als Erik Galland unvermittelt aufstand.
„Ja, ich denke, ich werde unser nettes Zusammensein jetzt beenden. Es ist alles gesagt.“ Er blickte seine Mutter an. „Und Sie ... du, tu mir einen Gefallen und ruf mich nicht an oder komm zu mir nach Hause gefahren.“ Wie nahe sich Mutter und Sohn bei diesem Treffen auch gekommen sein mochten, Erik Galland ging wieder auf Distanz. Der dünne Faden, der mit dem Treffen geknüpft schien, drohte in diesem Moment zu zerreißen.
„Aber ich ... Sascha!“ Hanka Altmann stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Sie hatte mit einem anderen Ausgang des Nachmittags gerechnet. „Meldest du dich bei mir? Wir können doch über alles reden. Bitte!“
Erik Galland zuckte mit den Schultern. „Vielleicht“, sagte er, ohne sie anzusehen. Er wandte sich ab, wollte gehen.
„Hätten Sie noch einen Moment?“, hielt Blume ihn zurück. „Ganz kurz.“
„Was denn, verdammt?“
„Ich möchte Ihnen nur schnell etwas zeigen.“ Blume nahm seine Kamera und aktivierte das Display auf der Rückseite. „Schauen Sie sich das mal an“, sagte er und hielt ihm eins der Fotos hin, die er auf dem Parkplatz geschossen hatte. Er vergrößerte das Bild etwas, sodass das Gesicht des Fremden deutlicher zu erkennen war. „Kommt Ihnen der Mann bekannt vor? Er hat sich sehr für das Auto Ihrer Mutter interessiert. Auch für den Wagen daneben. Das ist Ihrer, nehme ich an.“
Erik Galland hatte sich etwas zu ihm hinabgebeugt, aber sofort wieder aufgerichtet, kaum, dass er auf das Foto geschaut hatte.
Blume bemerkte Gallands versteifte Haltung, sein plötzlich blasses Gesicht. Überraschung? Schreck? Was es auch war, das Foto hatte ihn eindeutig aus dem Gleichgewicht gebracht. „Schauen Sie ruhig etwas genauer hin. Kennen Sie ihn?“
„Nein, nie gesehen“, entgegnete Galland schroff, ohne das Foto noch einmal zu betrachten. „War’s das jetzt endlich?“
„Ja, klar.“ Blume seufzte leise. Er wusste, dass der Mann log. Fragte sich nur, warum. Nachdenklich blickte er ihm hinterher. Galland hatte es eilig, das Restaurant zu verlassen. Gleich darauf wandte sich Blume Hanka Altmann zu und zeigte ihr das Foto auf dem Display. „Wie ist es mit Ihnen? Ist Ihnen der Herr auf dem Bild schon mal irgendwo begegnet?“
Sie zog den Apparat zu sich heran, betrachtete mit tränenbenetzten Augen das Foto, schüttelte Sekunden später den Kopf. „Nein. Ich weiß nicht, wer das ist.“ Sie gab ihm die Kamera zurück, starrte ins Leere, schien einen Augenblick wie weggetreten. „Sie sind schuld, dass er gegangen ist!“, platzte es plötzlich aus ihr heraus. „Ich hätte es wissen müssen. Wie konnte ich nur so dumm sein! Wie konnte ich nur glauben, Sie würden mir helfen? Diese ganzen Sachen mit den Nazis, mussten Sie das auspacken? Damit haben Sie ihn vertrieben!“
Vermutlich hatte die Frau recht. Vielleicht hätte er diplomatischer vorgehen müssen. Andererseits sah er seine Aufgabe nicht darin, die Dinge zu verklären oder gar zu verheimlichen. Er war derjenige, der aufdeckte und die Fakten auf den Tisch legte. Das konnte durchaus schmerzhaft sein, natürlich!
„Wollten Sie Ihr Wiedersehen und Ihr Zusammenkommen denn auf Lügen aufbauen?“, hielt Blume dagegen. „Haben Sie nicht wissen wollen, was für ein Leben Ihr Sohn die zurückliegenden Jahrzehnte geführt hat? Irgendwann wären Sie auf Dinge in seiner Vergangenheit gestoßen, die Sie Ihrer Illusionen beraubt hätten. Sie wären enttäuscht worden.“
„Wäre ich nicht“, protestierte Hanka Altmann. „Er ist mein Sohn! Er ist kein schlechter Mensch! Er hat eben eine ... eine andere Meinung. Ich hätte gelernt, ihn so zu akzeptieren, wie er ist. Allein dass wir uns wiedergefunden haben, zählt. Alles andere ist unwichtig.“
„Tatsächlich“, brummte Blume. Er wusste, dass es nicht so war.
„Ja, tatsächlich. Und jetzt? Sie haben alles kaputt
gemacht! Weil Sie nur daran interessiert waren, Sascha bloßzustellen. Keinen Augenblick haben Sie an mich
gedacht. Er wird sich nicht mehr melden. Was soll ich denn jetzt tun?“ Ihr Schmerz brach sich Bahn, sie schluchzte hemmungslos, die Tränen rannen ihr über die Wangen.
Blume suchte in seinen Hosentaschen nach einem Papiertaschentuch, fand aber keins. „Geben Sie ihm etwas Zeit. Er wird Sie anrufen“, sagte er und streichelte ihr die Hand. Die Frau tat ihm leid und er wusste, seine Worte waren in diesem Moment nur ein schwacher Trost für sie, wenn überhaupt. Vielleicht hätte er sich schuldig fühlen sollen, doch das konnte er nicht. Er hatte nichts Falsches getan, nichts, wofür er sich rechtfertigen oder gar schämen musste.
Hanka Altmann entzog ihm ihre Hand. „Ach hören Sie doch auf“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Nach allem, was er sich von Ihnen anhören musste.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und ließ dabei dunkle Schlieren unter ihren Augen zurück. Erst dadurch fiel Blume auf, dass sie geschminkt war. Ein kurzes Schniefen, dann griff Hanka Altmann nach ihrer Handtasche. Sie förderte ein zusammengefaltetes Blatt Papier zutage, das sie vor ihn auf den Tisch warf. „Sie sind nicht besser als die da!“
„Was? Was ist das?“
„Lesen Sie! Es lag bei uns zu Hause im Briefkasten. Mein Mann hat es gefunden.“
Blume faltete das Blatt auseinander, überflog den kurzen, mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengeklebten Inhalt. Er schluckte trocken. Die Überraschung war Hanka Altmann gelungen. Das Keltenkreuz. Die Achtundachtzig. Er wusste, was das bedeutete. Die Drohung war klar und deutlich. Er ließ das Blatt sinken. Seine Miene verdüsterte sich. „Waren Sie damit bei der Polizei?“
„Nein. War ich nicht.“ Trotzig schob sie die Unterlippe ein wenig vor.
„Warum?“
„Weil es keinen Zweck gehabt hätte. Niemand nimmt mich bei denen noch ernst.“
„Sie wussten also von Erik Gallands Verbindungen in die rechte Szene? Warum haben Sie dann so ahnungslos und entsetzt getan?“
„Weil ich es nicht glauben konnte ... wollte. Es musste ja auch nicht automatisch bedeuten, dass er zu denen gehört.“
„Sie hätten den Brief Ihrem Sohn zeigen sollen.“
„Auf gar keinen Fall! Ich wollte ihn von Anfang an Ihnen geben. Dann war ich mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich es tun sollte. Ob er bei Ihnen gut aufgehoben ist.“
„Und jetzt? Was erwarten Sie von mir?“ Blume blickte sie etwas ratlos an.
„Dass Sie mir helfen. Sie haben was wiedergutzumachen.“
„Ach? Habe ich das?“
Hanka Altmann ignorierte seine Bemerkung. „Können Sie herausfinden, wer das geschickt hat? Wer verhindern will, dass ich mit Sascha Kontakt habe?“
Blume hatte sich innerlich bereits von Hanka Altmann getrennt gehabt. Er hatte es in ihren Augen vermasselt und es gab in dieser Angelegenheit tatsächlich nichts mehr für ihn zu tun. Mit dem Drohbrief hatte sich die Lage jedoch schlagartig geändert.
„Also schön.“ Er nickte. „Ich versuche herauszubekommen, wer den Drohbrief verfasst und Ihnen geschickt hat. Scheint ja einigermaßen klar, wo ich suchen muss.“ Er faltete das Blatt zusammen, wollte es in seine Tasche stecken. „Ich darf den Brief doch behalten?“
„Ja, sicher. Nehmen Sie ihn.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich habe Angst“, fügte sie dann zögernd hinzu.
„Das brauchen Sie nicht“, sagte Blume. „Solange Sie die Füße stillhalten und nichts Unbedachtes unternehmen, wird nichts passieren.“ Er war nicht wirklich überzeugt von seinen Worten. Andererseits, was hätte er sagen sollen, um die Frau zu beruhigen? Er konnte nur hoffen, sie ließ ihn dieses Mal in Ruhe arbeiten und unternahm keine Alleingänge.
„Danke. Ja, ich werde mich dann mal auf den Weg machen“, sagte Hanka Altmann stockend, stand auf und zog ihre Jacke von der Stuhllehne.
„Soll ich Sie zum Parkplatz begleiten?“, fragte Blume.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, lassen Sie mal. Ich komme schon zurecht.“ Sie hielt kurz inne, sah ihn mit leeren Augen an. „Wird auf dem kurzen Weg wohl keiner über mich herfallen, oder?“
„Nein, das müssen Sie ganz sicher nicht befürchten“, bestätigte Blume und zwang sich zu einem Lächeln.
„Na dann ... Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Sie drehte sich um und verschwand aus seinem Blickfeld.
„Ich Ihnen auch“, sagte er leise und mehr zu sich selbst.
Nachdem Blume noch auf einen Kaffee am Tisch sitzen geblieben war, verließ auch er etwa zwanzig Minuten später die Gaststätte. Er ging ein paar Schritte um das Gebäude herum, auf die weitläufige Terrasse, von wo aus er einen herrlichen Blick auf die Stadt weit unten im Tal hatte. Er ließ seine Augen über das Panorama wandern, blieb einen Moment an den von der schräg stehenden Sonne beschienenen Altstadtdächern hängen. Dann konzentrierte er sich wieder auf die nähere Umgebung. Unbewusst hatte er schon die ganze Zeit nach dem Mann vom Parkplatz Ausschau gehalten. Sogar drinnen in der Gaststube hatte er mehrmals aus dem Fenster geblickt und nach ihm gesucht. Er hatte ihn nicht entdeckt. Auch jetzt sah er ihn nicht. Nirgends eine Spur von ihm. Doch nur ein Naturliebhaber, der irgendwo im Wald herumpirschte? Blume mochte nicht daran glauben. Schon deshalb nicht, weil Erik Galland den Mann kannte. Auch wenn der das Gegenteil behauptet hatte. Und jetzt noch der Drohbrief! Der und Erik Gallands Lüge machten den Fremden noch verdächtiger. So verdächtig, dass Blume plötzlich Angst bekam, Hanka Altmann könne auf ihrem Rückweg doch etwas zugestoßen sein. Er zögerte nicht länger und hastete zum Parkplatz hinunter. Sowohl der kleine Lieferwagen als auch Erik Gallands Auto waren verschwunden. Der Pkw des Fremden stand nach wie vor dort. Blume beschlich das Gefühl, dass er dem Mann wiederbegegnen würde. Schon bald. Es war kein gutes Gefühl.