28. Kapitel

Neudeck war pünktlich. Er parkte neben dem kleinen Lieferwagen. Galland kam aus seinem Auto heraus. Er trug an seinem Körper versteckt eine drahtlose Wanze. Blume konnte die Männer aus seiner verdeckten Stellung heraus sehen. Er hörte, wie sie sich begrüßten. Die Funkübertragung klappte einwandfrei und sein kleiner Rekorder nahm ihre Worte auf. Neudeck und Galland gingen zum Haus hinüber, dann um das Gebäude herum, verschwanden kurz darauf zwischen Böschung und Hausrückseite.

Blumes Anspannung stieg. Er konnte jetzt nichts mehr tun, musste sich darauf verlassen, dass Galland es nicht vermasselte. Solche Situationen hasste er. Mehr als alles andere.

„Was willst du wirklich, Erik? Komm endlich zur Sache“, hörte Blume den Verfassungsschützer knurren, nachdem Galland ihm gut zehn Minuten etwas über den Drohbrief und seine Ängste vor den braunen Terrorkameraden vorgejammert hatte. Der Mann ließ sich nicht einfach hinters Licht führen. Er war misstrauisch, ahnte, dass ihn irgendetwas Unangenehmes erwartete.

Ja, los, mach endlich Nägel mit Köpfen, dachte Blume. Zeig ihm die Fotos und erzähl ihm, was du weißt. Lock ihn aus der Reserve.

Als hätte Galland seine Gedanken erraten, konfrontierte er Neudeck mit den Bildern. „Du hast die drei Kameraden ermordet. Du hast die Drohbriefe an meine Mutter und mich geschickt. Und du willst mich auch aus dem Verkehr ziehen.“

„Woher hast du die?“ Blume brauchte Neudeck nicht zu sehen. Mit diesem einen Satz drückte er seine ganze Überraschung aus. Damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet. Eins zu null für Galland!

„Und das alles, um deinen toten Bruder zu rächen? Ist es das wert?“

„Woher weißt du von meinem Bruder?“

Der nächste Punkt. Galland hatte ihn am Haken. Blume grinste still in sich hinein. Seine Theorie ging offensichtlich auf. Er lauschte weiter angespannt. Neudeck schluckte die Brocken, die er vorgeworfen bekam, gab alles zu, stritt nichts ab, erklärte Galland tatsächlich seine Beweggründe und gewährte ihm gleichzeitig einen Blick in seine Gefühlswelt.

Irgendwann kam von Neudeck die Frage, die zu erwarten gewesen war: „Und jetzt? Wie soll es weitergehen? Dir ist doch klar, dass ich dich mit deinem ganzen Wissen nicht leben lassen kann. Das wollte ich schon vorher nicht und jetzt noch weniger.“

„Mein Tod bedeutet auch deinen Tod“, entgegnete Galland kühl. „Die Kameraden sind da nicht gerade zimperlich. Dagegen ist deine Methode, die Männer mit Schlamm im Rachen zu ersticken, ziemlich harmlos. Noch wissen sie nichts von dir. Aber sollte ich irgendwie zu Schaden kommen, tja, dann ...“

„Was willst du?“

„Geld. Genug, um damit zusammen mit Rike und der Kleinen ein neues Leben anzufangen. Nicht hier, in diesem Land. Hier hält mich nichts. Irgendwo, wo mich niemand mehr erreichen kann, auch nicht dein langer Arm. Dafür bekommst du alle Beweise und ich halte für immer über alles, was ich weiß, den Mund.“

Blume wartete ungeduldig auf Neudecks Reaktion. Der wehrte sich vehement. Erklärte Galland für verrückt. Das war zu erwarten gewesen. Doch dann schwenkte er plötzlich um, ging auf die Forderung einer sechsstelligen Summe ein. Viel zu schnell. Verdächtig schnell. Blume war alarmiert. Das konnte nicht der eiskalte Killer sein, der drei Menschenleben auf dem Gewissen hatte und weitere Morde plante. Neudeck war manipulativ, hatte Galland lange Zeit an der Nase herumgeführt. Wieso gab er sich jetzt ohne großen Widerstand geschlagen? Der Mann führte etwas im Schilde. Er würde nicht einfach aus dem Bordell herausspazieren und wieder fahren, um das von Galland geforderte Geld zusammenzukratzen.

Blume öffnete das Handschuhfach, holte seine alte Makarov-Pistole heraus, die er immer noch besaß, aber schon eine Ewigkeit nicht mehr benutzt hatte, außer um sie gelegentlich zu reinigen. Er hatte sie und ein volles Magazin heute Morgen zusammen mit der Abhörtechnik aus dem geheimen Hinterzimmer in seinem Laden mitgenommen. Vorsorglich. Jetzt war er froh, sie dabeizuhaben.

Er hörte, wie Galland und Neudeck das Separee verließen. In wenigen Augenblicken würden sie nach draußen kommen. Ihm blieb nur noch wenig Zeit. Er sprang aus seinem Wagen, lief geduckt und so schnell er konnte, in einem weiten Bogen hinüber zu dem Platz und den beiden Autos. Er kauerte sich vor den Kühlergrill von Gallands Lieferwagen, hatte über die Motorhaube hinweg das Haus im Blick und konnte, ohne selbst gesehen zu werden, jeden Schritt der beiden Männer verfolgen.

Sekunden später tauchten sie auf, kamen nebeneinanderher auf die Autos zu. Kurz, bevor sie die Wagen erreichten und sich trennten, packte Neudeck Galland in einer blitzartigen Bewegung am Arm, drückte ihm mit der anderen Hand einen kleinen Gegenstand in die Seite. Es konnte eine Waffe sein, eine von diesen kleinen Dingern, eine Taschenpistole.

Blume hatte es geahnt. Er kauerte sich noch etwas tiefer an den Boden, lauschte.

„Rüber zu meinem Auto“, hörte er Neudeck blaffen.

„Wo hast du die her?“, stammelte Galland. „Monas Aufpasser hat dich abgesucht.“

„Er hätte sich mehr Mühe geben sollen.“ Neudeck lachte auf. „So, jetzt quatsch nicht. Los, komm. Du fährst mit mir.“

„Du machst einen Fehler“, versuchte Galland, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Die Überwachungskameras ...“

„Du glaubst, ich hätte sie nicht entdeckt? Hältst du mich für blöd?“ Er schnaubte verärgert. „Ich muss dich enttäuschen. Das, was sie aufgezeichnet haben, wird mich kaum entlarven. Du vergisst, dass ich mich mit solchem Spielzeug auskenne und weiß, wie man sich verhält.“

„Mona. Mona weiß Bescheid.“

„Ach, Mona!“, höhnte Neudeck. „Wer wird ihr schon glauben? Wir werden das braune Nest ausheben und deine Kameraden werden diejenigen sein, die sich für alles, was geschehen ist, verantworten müssen. Leider wirst du das nicht mehr miterleben. Du hättest besser weiter brav für mich Informationen gesammelt und dich nicht in meine Angelegenheiten eingemischt. Was hast du bloß davon? Du bist mir nicht gewachsen. Ich bin eine Nummer zu groß für dich.“

Neudeck stieß Galland ein Stück vor, vom Lieferwagen weg auf sein eigenes Auto zu.

„Denk an die Kameraden“, unternahm Galland einen neuen Versuch. „Sie werden dich suchen und finden, wenn ich nicht wieder auftauche.“

„Bullshit!“, schnappte Neudeck. „Weißt du was, Erik? Ich denke, du bluffst. Und wenn nicht, na und? Lass sie die Fotos sehen. Sie werden mich nicht suchen. Du bist der Verräter, nicht ich. Und du bist dann tot. Sie werden dir keine Träne nachweinen. Ich bin der Verfassungsschutz. An mich trauen die sich nicht ran. Zu riskant. Die Typen sind Feiglinge, allesamt. Keiner von denen hat Eier in der Hose. Vergiss es. Und jetzt los, steig ein. Du fährst.“

Neudeck öffnete die Fahrertür seines Wagens. Einen winzigen Moment war er von Galland abgelenkt. Blume erkannte die Chance sofort und sprang aus der Deckung, drückte Neudeck von hinten die Makarov ins Genick. „Waffe fallen lassen“, knurrte er, „oder Sie sind ein toter Mann.“

Neudeck verharrte in der Bewegung. Sekunden vergingen, ohne dass er sich regte.

„Na los, machen Sie schon!“

Es dauerte einen weiteren endlos erscheinenden Augenblick, dann richtete sich Gallands Kontaktmann auf. Langsam, beinahe zeitlupenhaft hob er die Arme. Die kleine Pistole rutschte ihm aus der Hand, fiel zu Boden.

„Nehmen Sie sie“, sagte Blume zu Galland. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Waffe. „Und dann besorgen Sie etwas, womit wir ihm die Hände fesseln können.“

„Und was?“ Galland hatte die Pistole aufgehoben.

„Eine Schnur, Kabelbinder, irgendwas“, blaffte Blume nervös. „Haben Sie denn nichts in Ihrem Lieferwagen?“ Sie mussten sich beeilen, durften nicht länger hier herumstehen. „Jetzt machen Sie schon, verdammt noch mal!“

Galland sprang hinüber zu dem Fahrzeug, öffnete die Heckklappe und tauchte in das Innere ein. Gleich darauf kam er mit einer Rolle Paketband wieder zum Vorschein.

„Geht das?“

„Wenn Sie nichts anderes finden, muss es reichen.“ Er stieß Neudeck seine Pistole in den Rücken. „Hände nach vorn und zusammenhalten.“

Der Mann gehorchte.

„Und jetzt wickeln Sie ihn gut ein.“

Zwei Minuten später gingen sie mit Neudeck in ihrer Mitte zusammen vom Platz. Hin zu Blumes Wagen. In der Zwischenzeit waren neue Gäste vor dem Bordell vorgefahren. Sie waren ausgestiegen und zum Haus hinübergegangen. Niemand von ihnen hatte sich für sie interessiert. Dafür zwei Männer, die seit geraumer Zeit in einiger Entfernung aus ihrem Auto heraus mit Ferngläsern das Geschehen verfolgten. Sie waren dorthin gekommen, nachdem sie jemand vor etwa zwei Stunden über ein Geheimtreffen in Monas Bordell informiert hatte.

„Mein Gott, was für eine Blamage. Ein alter Mann und ein naiver Spitzel“, brabbelte Neudeck im Gehen vor sich hin. „Mit nichts als einer Pistole und einer Rolle Klebeband. Hätte nie gedacht, dass ich mich mal von so einem Traumduo aufs Kreuz legen lasse.“ Er wandte sich an Galland. „Wer ist der Typ überhaupt, der mit der Knarre in meinem Rücken rumfuchtelt? Der Mann deiner Mama etwa? Die taucht doch bestimmt hier auch gleich noch auf. Damit wäre eure Olsenbande dann ja komplett.“ Er kicherte, amüsierte sich über seine eigenen Worte.

„Halten Sie doch einfach die Klappe“, fauchte Blume ihn an.

Als sie das Auto erreichten, forderte Blume Neudeck auf, stehen zu bleiben. Er drückte Galland seine Pistole in die Hand. „Passen Sie einen Moment auf ihn auf“, sagte er. „Ich muss kurz telefonieren. Und sollte er sich auch nur einen Millimeter rühren, drücken Sie ab. Verstanden?“

Galland nickte und Blume holte sein Handy heraus. Nach dem ersten Freizeichen wurde am anderen Ende abgehoben.

„Katja“, rief er, „es gibt eine kleine Planänderung.“ Er wartete einen Moment, dann erklärte er ihr mit wenigen Worten, was geschehen war. „Du kannst deinem Lieblingspolizisten sagen, dass er alles in die Wege leiten soll für die Übernahme eines Dreifachmörders. Er bekommt ihn mitsamt Schuldeingeständnis frei Haus geliefert. Wir machen uns jetzt auf den Weg. Ruf mich zurück, sobald du von deinem Freund weißt, wo genau die Übergabe stattfinden soll.“ Er legte auf, nahm die Pistole wieder an sich. „So, Herr Neudeck, bitte hinten einsteigen.“ Er öffnete ihm die Tür. „Und Sie, Herr Galland, werden fahren. Ich setze mich zu unserem Gast. Nur, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt.“ Sie stiegen ein. Blume schob sich neben den Gefangenen, richtete die Pistole auf ihn.

Neudeck blickte grinsend auf die Waffe, pfiff leise durch die Zähne. „Makarov. Wie nett“, sagte er spöttisch. „Kannst du überhaupt damit umgehen, alter Mann?“

„Ich würde es nicht darauf ankommen lassen“, entgegnete Blume.

Eine halbe Stunde waren sie bereits unterwegs. Quer durch den Harz. Sie sprachen kein Wort. Nur hin und wieder gab Blume eine Anweisung nach vorn zu Galland. Neudeck saß zusammengesunken auf seinem Sitz, den Kopf vornübergebeugt. In den Kurven schwankte er leicht hin und her. Es schien, als sei er eingenickt. Blume behielt dennoch ein wachsames Auge auf ihn, gleichzeitig warf er immer wieder einen besorgten Blick nach draußen auf die Straße. Mittlerweile war es stockfinstere Nacht. Die immer noch regennassen Straßen schluckten das Scheinwerferlicht, schon wenige Meter voraus war nichts mehr zu sehen. Links und rechts der Straße drängten sich die Bäume, standen schemenhaft Spalier. Wie bizarre Schattenwesen tauchten sie aus dem Dunkel auf, anziehend wie ein Magnet, und waren in Sekundenbruchteilen wieder verschwunden.

Galland fuhr vorsichtig und doch war ihm die Unsicherheit deutlich anzumerken. Blume hoffte, bald aus dieser nächtlichen Hölle herauszukommen und seine Fracht abliefern zu können.

Wie aus dem Nichts stand plötzlich der Hirsch da. Mitten auf der Straße. Galland reagierte reflexartig, trat viel zu heftig auf die Bremse, kam ins Schleudern. Der Wagen schlingerte, drehte sich um die eigene Achse. Entgegen der Fahrtrichtung und hart an der Kante eines Abgrundes kam er zum Stehen.

Blume, der nicht angeschnallt gewesen war, hing in einer merkwürdigen Schräglage zwischen Rückbank und Vordersitz fest. Er war mit dem Kopf gegen den Türholm geprallt. Seine Pistole war ihm aus der Hand gerutscht, lag irgendwo im Fußraum. Ächzend arbeitete er sich aus der misslichen Lage hoch. Galland hing stöhnend in seinem Gurt. Blume sah sich um. Der Hirsch war verschwunden. Neudeck auch.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte er und griff sich an den schmerzenden Kopf. „Meine Pistole! Wo ist ...?“

Er sah die Makarov unter dem Beifahrersitz hervorlugen, griff sie sich, drückte seine Tür auf und zwängte sich aus dem Auto. Etwas benommen schwankte er über den Asphalt, um das Auto herum und hin zu der steilen Böschung, die sie um ein Haar hinabgestürzt wären. Neudeck war nirgends zu sehen.

Blume überlegte nicht lange, machte einen Schritt über die Böschungskante, geriet aus dem Gleichgewicht und schaffte es gerade noch, sich nach hinten fallen zu lassen. Auf dem Hintern rutschte er den Abhang hinunter, hinein in das nächtliche Schwarz und das Gewirr aus Sträuchern, Hecken und kleinen Bäumen, das sich unten in der Senke abzeichnete. Genauso musste es Neudeck gemacht haben und war so entkommen. Blume wusste, noch während er nach unten glitt, dass er ihn verloren hatte. Es machte keinen Sinn, ihm mitten in der Nacht in das Dickicht zu folgen. Er stemmte seine Hacken in den Waldboden, wurde langsamer und beendete seine Rutschpartie auf halber Strecke. An einem mickrigen Bäumchen fand er Halt, zog sich daran in die Höhe, krabbelte auf allen vieren schnaufend zurück zur Straße. Sollte die Polizei sich um den Flüchtigen kümmern und ihn jagen. Er, Blume, hatte bekommen, was er brauchte – Neudecks Geständnis. Mehr hatte er von Anfang an nicht haben wollen. Alles war gut.

Nein, nichts war gut! Das wusste er, als sein Handy läutete. Katja. Sie hatte die Polizei aufgescheucht. Sie rief an, um ihm den Ort der Übergabe mitzuteilen. Und er musste ihr jetzt gestehen, dass ihm der Mörder entwischt war. Schmerzhafter konnte eine Niederlage nicht sein!