29. Kapitel

Das kleine Haus lag fast vollständig im Dunkel. Die Straßenlaterne, nur ein paar Meter entfernt, war eine trübe Funzel ohne jede Leuchtkraft. Vor einer Weile hatte es aufgehört zu regnen, aber die Wolkendecke war nicht mehr aufgerissen und die hereinbrechende Nacht hatte das ohnehin trübe Tageslicht schneller als sonst geschluckt. Aus den Fenstern links neben der Tür drang schwacher Lampenschein. Es war also jemand zu Hause.

Hanka Altmann saß in ihrem Auto und konnte sich nicht entschließen auszusteigen und hinüberzugehen. Wieder einmal wurde sie von ihren Zweifeln und Ängsten daran gehindert, den letzten Schritt zu tun.

All die zurückliegenden Tage hatte sie sich an die Anweisungen des Detektivs gehalten und nichts unternommen, was seine Ermittlungen hätte stören können. Stattdessen hatte sie das Telefon belauert, auf einen Anruf von ihm gewartet, auf eine Nachricht, in der er ihr mitteilte, dass der Urheber des Drohbriefes gefasst sei. Ihre Hoffnung, dass Sascha sich bei ihr meldete, war hingegen in Erfüllung gegangen, wenn auch nicht mit dem Ergebnis, das sie sich gewünscht hatte. Die Telefonnummer von diesem Blume hatte er wissen wollen, ihr aber nicht gesagt, warum. Komisch, hatte sie gedacht, was will mein Junge von dem Mann? Er hatte ihn doch kurz zuvor noch so schroff abgewiesen. Der plötzliche Sinneswandel war ihr merkwürdig vorgekommen, aber Sascha war stur geblieben, hatte ihr kein Wort der Erklärung gegeben.

Ihre Unruhe und Ungeduld hatten sich zuletzt beinahe stündlich gesteigert und sie war nur von der ständigen Gereiztheit ihres Mannes und den daraus erwachsenen Streitereien abgelenkt gewesen. Jetzt lag Rudi im Krankenhaus. Komplizierter Beinbruch. Gestern Morgen, als er in den Keller steigen wollte. Ein Fehltritt hatte ihm die Balance geraubt und er war die Treppe hinuntergestürzt. Ein Wunder, dass nicht mehr passiert war. Abschürfungen, Prellungen und der Bruch.

Am Vormittag war Hanka bei ihm gewesen. Er war operiert worden, noch benommen von der Narkose. Am Nachmittag war sie zu Hause herumgelaufen, hatte sich plötzlich allein und verlassen gefühlt. Der Drang, zu Sascha nach Altenau zu fahren, ihn wiederzutreffen, war übermächtig geworden. Sie war gefahren, allen Warnungen und Abmachungen zum Trotz. Und jetzt saß sie wieder einmal da, in ihrem Auto am Straßenrand, und traute sich nicht hinüberzugehen.

Ein Fahrzeug kam die Straße heraufgefahren. Erst sah Hanka nur das Aufblitzen der beiden Scheinwerfer, dann rollte der Wagen an ihr vorbei. Ein blauer Sprinter. Sie schaute ihm hinterher, sah weiter oben, vielleicht zweihundert Meter entfernt, die Bremslichter aufleuchten. Der Sprinter wendete, rollte langsam die Straße wieder hinunter, hielt genau vor Saschas Haus. Zwei Männer, dunkel gekleidet, schwarze Wollmützen auf dem Kopf, stiegen aus und gingen zur Haustür, warteten, dass ihnen geöffnet wurde. Freunde von Sascha?

Die Tür ging auf, die Männer traten ein. Hanka konnte nicht erkennen, wer sie hereingelassen hatte. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie hatte den Zeitpunkt verpasst. Wenn sie jetzt hinging und Sascha gegenübertrat, würde er ihr eine Abfuhr erteilen. Das zu begreifen, brauchte es nicht viel Fantasie. Ihr Sohn würde seinen beiden Nazi-Freunden kaum seine Mutter vorstellen wollen.

Resigniert seufzend umfasste sie den Zündschlüssel und wollte starten. Noch einmal blickte sie zu dem Haus hinüber. Genau in dem Moment traten die Frau und das kleine Mädchen aus der Tür. Saschas Ehefrau und seine Tochter. Dahinter die zwei Männer. Sie gingen zusammen die Stufen hinunter. Nein, nicht zusammen! Vielmehr schienen die Männer Rike und Emma vor sich her zu schubsen. Hanka kniff die Augen zusammen, versuchte, im trüben Licht der Straßenlaterne mehr zu erkennen. Sie sah, dass die Kleine sich an ihre Mutter klammerte und sie ins Stolpern brachte. Einer der Männer packte sie am Arm, verhinderte, dass sie fiel. Dann zerrte er sie vorwärts. Der zweite Mann musste seitlich am Sprinter eine Tür geöffnet haben, denn im nächsten Moment wurden Mutter und Tochter ins Innere des Wagens gedrängt. Die Männer stiegen in die Fahrerkabine und der Sprinter setzte sich in Bewegung. Die ganze Aktion war in Windeseile vonstattengegangen, hatte nicht einmal eine Minute gedauert.

Aber wo war Sascha? Er war nirgends zu sehen. War er nicht zu Hause? Lag er vielleicht in der Wohnung? Verletzt? Oder gar tot? Hatten die beiden Typen ihm etwas angetan? Hanka musste sich zwingen, nicht in Panik zu geraten. Nein, das ergab keinen Sinn, hämmerte sie sich ein, erst Sascha erledigen und dann seine Angehörigen entführen! Es steckt etwas anderes dahinter! Weiter dachte sie nicht. Plötzlich verschwamm die reale Szene vor ihren Augen, wurde von einem Bild überlagert, das fast ihr halbes Leben bestimmt hatte: Sie sah den Jungen auf dem Rücksitz des Moskwitsch, sah sein verzerrtes Gesicht, seine kleinen Hände, die sich gegen die Autoscheibe pressten. Sie sah sich, wie sie dem Wagen hinterherlief, ohne jede Chance, ihn zu erreichen und zu stoppen.

Das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war. In ihrem Kopf legte sich ein Schalter um, blendete den Verstand aus. Ihr Instinkt übernahm die Regie. Dieses Mal würden ihr die Entführer nicht entkommen. Die Geschichte würde sich nicht wiederholen! Sie ließ den Motor an, wendete und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, sie schaltete hektisch, jagte dem Sprinter hinterher. Dort, wo die beiden Männer die Frau und das kleine Mädchen hinbrachten, würde auch Sascha sein. Sie befürchtete das Schlimmste. Was und warum, das wusste sie selbst nicht, nur, dass keine Zeit blieb, die Polizei zu benachrichtigen. Keine Zeit für Erklärungen, die ihr am Ende ohnehin niemand glaubte. In einer scharfen Rechtskurve musste der Sprinter abbremsen und sie war an ihm dran. Dann folgte sie ihm, darauf bedacht, ihn nicht mehr aus den Augen verlieren.

Wohin genau die Fahrt ging, wusste Hanka nicht. Zu sehr war sie auf das Fahrzeug vor sich fixiert, folgte dem Wagen mit starrem Tunnelblick. Auf langen Geraden ließ sie sich etwas zurückfallen, um nicht bemerkt zu werden. So hatte sie es bei den Verfolgern in den unzähligen Fernsehkrimis gesehen. Die machten es ebenso. Trotzdem entkam ihr der Sprinter nicht, auch deshalb, weil die Männer kein halsbrecherisches Tempo anschlugen, langsam in Kurven hineinfuhren und sich auch sonst an die Verkehrsvorschriften hielten.

Nach mehr als einer Stunde Fahrt verließ der Wagen die Hauptstraße und folgte einem mit etlichen Schlaglöchern übersäten Asphaltband. Hanka vermutete, dass sie irgendwo im Ostharz, in der Nähe von Thale oder Quedlinburg angelangt waren. Das schloss sie aus den wenigen Hinweisschildern, die ihr Blick gestreift hatte, wenn sie irgendwo abgebogen waren. Sie musste ab sofort noch vorsichtiger sein, um nicht aufzufallen, denn hier bewegten sie sich außerhalb des normalen Straßenverkehrs. Sie verlangsamte ihre Fahrt, sodass sich der Abstand zwischen ihr und dem Sprinter merklich vergrößerte. Zusätzlich schaltete sie die Scheinwerfer auf Standlicht. Regelmäßig verschwand der Wagen jetzt in den meist engen Kurven aus ihrem Blickfeld, doch dahinter tauchten die Rückleuchten in einiger Entfernung immer wieder auf.

Eine Weile fuhren sie so durch eine gespenstisch anmutende Nachtlandschaft mit lückenhaftem Baumbestand, hohen Büschen und dichtem Gestrüpp. Immer wieder zuckte Hanka zusammen, wenn plötzlich dürre Zweige in den Weg hineinragten, die gegen die Scheibe schlugen und beim Vorbeifahren ein Schleifgeräusch auf der Karosserie verursachten. Allmählich nahm die Zahl der Bäume zu. Sie verdrängten die Sträucher, rückten näher an den Weg heran. Dicht an dicht schienen sie sich zu einem Tunnel zu wölben, in den Hanka eintauchte.

Weiter ging die Fahrt in einen Wald hinein und eine Anhöhe hinauf. Der Sprinter wurde von der nächsten Kurve geschluckt. Der Asphaltbelag war mittlerweile einem festen Schotteruntergrund gewichen. Hanka durchfuhr die Kurve, konnte dann aber die Rücklichter nicht mehr sehen. Sie beugte sich nach vorn, starrte durch die Windschutzscheibe, hoffte, eine weitere Kurve sei der Grund. Aber der Weg verlief schnurgerade, jetzt wieder leicht bergab. Hanka bremste, kam für einen Moment zum Stehen. Sie blickte sich suchend um, ließ ihren Wagen schließlich langsam weiterrollen. Der Sprinter konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Unmöglich! Irgendwo musste er sein.

Genau in dem Moment, als sie nach links in einen engen, in der Dunkelheit kaum zu erkennenden Waldweg hineinblickte, leuchteten die Bremslichter des Sprinters auf. Na bitte!, dachte sie. So leicht werdet ihr mich nicht los! Für eine Sekunde machte sich Euphorie in ihr breit. Als habe sie einen Sieg errungen. Aber sofort riss sie sich wieder zusammen. Sie spürte, dass die Typen da vorn ihrem Ziel ganz nahe waren. Jetzt galt es, besonders vorsichtig zu sein. Sie setzte eine Wagenlänge zurück, dann schlug sie nach links ein, um dem Sprinter in den Weg hinein zu folgen. Zwei ausgewaschene Fahrspuren zeichneten sich vor ihr ab. Mehr war das nicht. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, fuhr ein paar holprige Meter im Schritttempo. Dann hielt sie und stellte den Motor aus. Ohne jede Sicht machte es keinen Sinn. Die Gefahr, aufzusetzen und sich festzufahren, war zu groß. Außerdem mussten die da vorn nicht hören, dass ihnen jemand folgte.

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, die Polizei zu alarmieren, mahnte ihre innere Stimme. Ziemlich schlau, wenn man keine Ahnung hat, wo man sich überhaupt befindet, hielt eine zweite Stimme dagegen. Und außerdem weißt du noch nicht mal genau, was sich da drüben abspielt. Also vergiss das mit der Polizei!

Hanka ignorierte die erste, die mahnende Stimme, nahm ihr Mobiltelefon und stieg aus. Anrufen konnte sie, sobald sie mehr wusste. Gerade waren die Bremslichter des Sprinters wieder erloschen und das anschwellende Motorengeräusch signalisierte ihr, dass der Wagen weiterfuhr.

Hoffentlich habe ich jetzt keinen Fehler gemacht, schoss es ihr durch den Kopf. Wie soll ich ihnen zu Fuß hinterherkommen? Wenn ich sie verliere, war alles umsonst. Aber ich muss meinem Jungen und seiner Familie doch helfen! Ich muss Sascha retten! Schreckensbilder schossen ihr plötzlich durch den Kopf. Ihr Sohn! Sie durften ihm nichts antun! Er befand sich in großer Gefahr! Die Angst um ihn trieb Hanka an. Blindlings rannte sie los, dem Sprinter hinterher. Als Augenblicke später die Bremslichter wieder aufleuchteten, machte sie einen Satz zur Seite, weg vom Weg und zwischen den Bäumen hindurch einen Hang hinauf. Herumliegende Äste ließen sie stolpern, sie zwängte sich durch das Unterholz, durch Sträucher, deren dünne Zweige zurückschlugen und sie im Gesicht trafen. Sie ignorierte die Schmerzen, hastete keuchend weiter.

Dann sah sie den Zaun und den Wall mit der darin eingelassenen schweren Eisentür. Die Tür stand offen und schwacher Lichtschein drang aus einem Stollen heraus. Auf dem Platz davor stand der Sprinter. Die beiden Männer waren ausgestiegen, hatten Rike links und rechts an den Armen gepackt, einer der beiden hielt zudem die kleine Emma fest, die schrie und sich mit aller Kraft aus der derben Männerhand zu befreien versuchte.

„Halt endlich die Schnauze, du elendes Balg!“, brüllte der Mann, woraufhin Rike versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen, um ihrer Tochter beizustehen.

Im Stolleneingang tauchte ein dritter Mann auf. „Jetzt bringt die zwei endlich rein!“, blaffte er die Entführer an.

Ja, sie hatten die beiden entführt! Jetzt war sich Hanka endgültig sicher. Und irgendwo hinter diesem Höllenschlund hielten sie vermutlich auch Sascha fest! Es wurde allerhöchste Zeit. Sie musste Hilfe rufen! Zwar wusste sie immer noch nicht, wo sie war, aber man konnte Handys ja orten, erinnerte sie sich. Nur schnell musste es gehen. Mit vor Angst zitternden Fingern fummelte sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche, tippte die Notrufnummer ein.

„Das lassen wir mal schön sein!“, hörte sie plötzlich eine krächzende Stimme hinter sich und spürte die Hand, die nach ihrem Handy griff und es ihr entriss.

Sie fuhr herum. Die grinsende Visage war alles, was sie noch sah. Dann raubte ihr ein Schlag an den Kopf das Bewusstsein.