32. Kapitel

Die Minuten schleppten sich dahin, ohne dass etwas geschah. Hanka spürte die nackte, kalte Felswand in ihrem Rücken kaum mehr. Sie war zu erschöpft, um die bohrenden Schmerzen noch wahrzunehmen, die das kantige Gestein ihr zufügte. Wie ein nasser Sack hing sie dort an der metallenen Regalhalterung, ihr Kopf fühlte sich an wie von einem Helm umschlossen, unter dem es dumpf pochte. Ihre Hände waren kalt und taub. Alles Blut war vermutlich herausgeflossen, nachdem sie ihre Arme schon so lange nach oben gereckt halten musste.

Sie wollte schlafen, nur noch schlafen und die verzweifelte Lage vergessen, in der sie sich befand. Sie mochte nicht mehr daran denken, was passierte, wenn Sascha auftauchte und den Versuch unternahm, sie, seine Frau und seine Tochter aus diesem verdammten Stollen zu befreien. Sie wollte nicht länger die Dynamitstangen anstarren. Sie hatte aufgegeben. Es gab kein Entrinnen. Keine Rettung. Ihr aller Schicksal war besiegelt. Immerhin wusste sie, dass ihre jahrzehntelange Suche sich gelohnt hatte. Wenn sie starb, dann in der Gewissheit, dass sie ihren Sohn wiedergefunden und darüber hinaus eine Schwiegertochter und eine süße kleine Enkelin geschenkt bekommen hatte. Was wollte sie mehr? Vielleicht nur noch das Eine, dass es, wenn schon nicht ihr, dann wenigstens ihren Kindern irgendwie gelang, diesem trostlosen Ende zu entgehen. Dass irgendwo der große Retter bereitstand, der Superheld, der immer in letzter Sekunde auftauchte. Blume, der Detektiv? Ach Gott! Auf was für abwegige Ideen man angesichts des Todes doch kam ...

„Hanka, du must wach bleiben, hörst du?“

Rike neben ihr hatte noch nicht aufgegeben, wie es schien.

„Wozu?“, fragte Hanka leise. „Es hat doch sowieso keinen Zweck.“

„Du darfst nicht aufgeben. Bitte!“ Rike flehte sie geradezu an. Sie war eine starke, eine mutige Frau, die bis zum Schluss kämpfte, das hatte Hanka in den letzten Minuten erkannt. Ein Mut, der nicht belohnt werden würde. Auch jetzt, während Rike redete, zerrte sie an ihren Fesseln. „Wir müssen durchhalten! Für Sascha! Für deinen Sohn! Er wird kommen und uns hier rausholen.“

Ein warmes Gefühl durchzog Hanka. Sie hatte ihn Sascha genannt, das erste Mal. Sie war eine gute Schwiegertochter!

„Vielleicht kommt er. Aber nur, um mit uns zu sterben.“

„So darfst du nicht reden!“

„Rike, Mädchen, es ist vorbei. Sieh es endlich ein.“

„Nein! Ich gebe nicht auf. Niemals!“ Sie gab ihren Worten Nachdruck, indem sie mit Wucht an ihren Fesseln ruckte. Wieder und wieder.

„Lass es sein. Es bringt nichts.“

„He! Ich glaube ... die Halterung!“

„Was? Was ist damit?“

„Sie löst sich.“

„Das bildest du dir ein.“

„Nein, sie ist locker. Ich hab es doch gemerkt!“

Hanka sah aus den Augenwinkeln, dass Rike wild weiterzerrte. Die kleine Emma begann zu heulen.

„Es klappt! Ich bekomme sie los!“, übertönte Rike ihre Tochter. „Gleich! Nur noch einen Moment! Dann helfe ich dir! Die Eisenstange da drüben, siehst du die? Mit der schaffe ich das.“

Hanka stöhnte resigniert. „Mädchen, hör auf! Deine Handgelenke sind ja schon völlig blutig gescheuert.“ Warum quälte Rike sich nur so?

Aber dann gelang es ihr tatsächlich! Sekunden später. Ein letzter kräftiger Ruck von Rike.

„Ja!“, schrie sie auf.

Hanka sah, dass die Halterung aus der Wand brach und Rike in den Schoß fiel, haarscharf am Kopf ihrer Tochter vorbei. Die Freude überwog den Schreck. Sie war frei. In Windeseile fummelte sie das Klebeband von ihren Beinen, die Handschellen behinderten sie kaum dabei. Danach löste sie den Strick von ihrem Leib und vom Hals ihrer Tochter. Sie lief hinüber zur Stange, kam mit dem provisorischen Werkzeug zurück, rammte es in die Halterung über Hankas Kopf, versuchte, sie mit kräftigem Zug herauszubrechen. Plötzlich eine Stimme, die nach ihnen rief. Sie kam von draußen. Saschas Stimme!

Rike erstarrte in der Bewegung. Er war da! Endlich! Fast gleichzeitig mit der Freude überfiel sie panische Angst. Er durfte den Stollen nicht betreten! Da draußen war jemand, der sein Kommen beobachtete und im passenden Moment die Sprengung auslösen würde.

„Papa!“, erwiderte Emma sein Rufen.

Für einige Augenblicke hatte Rike ihre Tochter nicht beachtet. Sie fuhr erschrocken herum, sah sie auf den Ausgang zulaufen. „Emma, nicht! Halt an! Warte!“

Das Mädchen hörte nicht zu, lief weiter. Rike zog die Stange aus der Halterung zurück, ließ sie zu Boden fallen. Sie stolperte ihrer Tochter hinterher. Von Angst getrieben, vergaß sie Hanka.

„Erik! Bleib, wo du bist!“, schrie sie verzweifelt. „Komm nicht zu uns rein!“

Emma erreichte die eiserne Tür. Rike war jetzt direkt hinter ihr. Dann sahen sie Erik. Er flog ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen.

*

„Hinter der Kurve stellst du das Auto ab. Den Rest gehst du zu Fuß. Nach dreihundert Metern nimmst du den Weg links. Du kannst das Ziel nicht verfehlen.“

Das war die letzte Anweisung gewesen, die er per SMS erhalten hatte. Jetzt hastete er über die Fahrspuren, schielte dabei immer wieder auf das Handy. Vielleicht kamen weitere Nachrichten. Dann sah er den rostigen Zaun. Er hatte plötzlich das Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein. Aber da war nichts, an das er sich erinnerte. Trotzdem wusste er, dass sie irgendwo hinter der Absperrung sein mussten: Rike und Emma. Und seine Mutter.

Neudeck. War er bei ihnen oder kroch er irgendwo im Unterholz herum und beobachtete ihn?

„Frank! Wo bist du?“, brüllte er in den Wald hinein. „Lass die Finger von den Frauen! Ich bin da! Also los, komm raus, du Feigling!“

Totenstille. Nichts regte sich. Er ging weiter. Langsam steuerte er auf den Zaun zu, erwartete jeden Augenblick einen Schuss aus dem Hinterhalt, der ihn tötete. Doch nichts geschah. Jetzt erkannte er hinter dem Zaun den Wall mit dem Tor. Na klar! Der geheime Bunker! Das Unternehmen Harzwasser! Das war der Stollen, in den die Kameraden ihn hineingeschleppt hatten. Es musste so sein! Aber woher kannte Neudeck den Bunker?

„Zeig dich endlich, du Schwein!“, schrie er noch einmal. Wieder keine Reaktion. Er strengte sich an, in der einsetzenden Morgendämmerung etwas zwischen den Bäumen zu entdecken. Nichts. Hatte Neudeck ihn in die Irre geführt? Nein, garantiert nicht! Er hielt die Frauen in dem Bunker gefangen. Aber wie war das möglich? Darin befand sich die Kommandozentrale der Terrorkameraden! Neudeck war doch keiner von denen. Im Gegenteil!

„Rike! Emma!“ Er hastete auf den Zaun zu, rannte durch das offene Tor, rief wieder und wieder ihre Namen. Dann, plötzlich, ein dünnes Stimmchen. Emma! Sie lebte! Sie rief nach ihm! Er beschleunigte seine Schritte.

„Komm nicht rein!“ Rikes Stimme! Er stoppte abrupt ab. Hatte er sich verhört? Ganz bestimmt. Er setzte sich wieder in Bewegung. Und dann sah er sie aus dem Stollen kommen. Sie lebten, waren frei. Gott sein Dank! Nichts war passiert! Er breitete die Arme aus, flog auf sie zu.

*

Blume sah den weißen Toyota hinter einer Kurve stehen. Er hielt an, stieg aus und umrundete den Wagen. Er fasste an die Türgriffe. Verschlossen. Ein Blick durch die Seitenscheiben. Er konnte nichts erkennen ... doch, da! Das Smartphone! Galland hatte es im Auto liegen gelassen. Verdammt! Wo war er? Weit konnte er nicht sein.

Einen Moment zögerte Blume, dann setzte er sich wieder in sein Auto, fuhr langsam den Weg hinab, blickte angestrengt nach rechts und links. Er bemerkte die abgehenden Fahrspuren, rollte daran vorbei, fand eine Schneise, in der er parkte. Mit der Makarov bewaffnet, lief er zurück, tauchte auf Höhe der Fahrspuren in den Wald ein, huschte parallel zu den Spuren zwischen den Bäumen hindurch.

Weit war er noch nicht gekommen, als er jemanden brüllen hörte: Galland! Er hatte ihn gefunden. Und noch lebte der Mann! Hoffentlich lange genug. Mit seinem Geschrei weckte er den ganzen Wald auf. Schwachkopf! Blume verschärfte sein Tempo, blieb aber vorsichtig und in Deckung. Sein Atem ging schwer, die Lungen brannten. Sein Körper zeigte ihm überdeutlich, was er sich selbst nicht eingestehen wollte: Er war alt. Zu alt für so etwas wie das hier.

Für einen Moment hielt er an, stützte sich keuchend an einem Baumstamm ab. Als er kurz aufblickte, erkannte er ein Stück voraus einen hohen Zaun. Undeutlich schimmerte er zwischen den Bäumen hindurch. Dann tauchte Galland in seinem Blickfeld auf. Er sah ihn, wie er sich dem Zauntor näherte und dabei aus Leibeskräften schrie, nach Neudeck, nach seinen Frauen.

Blume überwand sich, lief weiter, bergan, immer auf sichere Deckung bedacht. Sein Blick huschte in kurzen Abständen zum Zaun hin. Er durfte Galland nicht aus den Augen verlieren. Plötzlich hörte er ein leises Knacken und Rauschen vor sich. Ganz nah. Er erstarrte in der Bewegung, versuchte, etwas zu erkennen. Nichts. Doch! Da lag jemand. Auf dem Bauch. In seinem Tarnanzug und mit der dunklen Kapuze über dem Kopf verschmolz er fast mit dem Waldboden. Er brabbelte irgendwas in ein Sprechfunkgerät. Starrte den Hang hinunter.

Blume folgte seinem Blick, sah Galland, der auf den Platz hinter dem Zaun lief. Auf einem Wall zu. Im Wall eine offen stehende Tür.

„Was ist? Siehst du ihn?“, hörte Blume eine Stimme aus dem Funkgerät krächzen.

„Kleinen Moment noch. Gleich ist er drin“, die Erwiderung des Mannes keine drei Meter vor ihm. Der hatte ihn noch nicht bemerkt.

Neudeck war das nicht, dort auf dem Boden. Das war Blume in diesem Augenblick klar. Er machte einen Satz auf den Typ zu, hielt ihm die Makarov an den Kopf. „He, du!“, zischte er.

„Was ...?“ Der Kerl fuhr erschrocken herum, starrte in die Mündung der Pistole. „Scheiße, Mann, was ... was soll das?“, stammelte er. „Wer bist du?“

„Hallo, was ist los bei dir?“ Die Stimme von der Gegenseite, als der Kerl für einen Moment die Sprechtaste losließ.

„Lass das Ding fallen!“, knurrte Blume.

Der Mann zögerte, starrte ihn mit hasserfüllten Augen an, presste Sekundenbruchteile später den Finger wieder auf die Sprechtaste. „Drück ab! Jetzt!“, schrie er, genau in dem Moment, als Blume aus den Augenwinkeln jemand aus dem Stollen kommen sah.

Die Detonation ließ den Waldboden erbeben. Blume warf sich zu Boden, bemerkte zu spät, dass der Dreckskerl die Gelegenheit sofort erkannt hatte. Mit dem Sprechfunkgerät verpasste der ihm einen Schlag an den Kopf und rappelte sich auf. Noch ehe er reagieren konnte, hatte sich der Mann bereits ein Stück entfernt. Blume riss die Makarov hoch, zielte in die Richtung, wo er nur noch einen undeutlichen Schatten erkannte. Er drückte ab. Zwei Mal.

Ächzend kam er auf die Beine, taumelte, starrte dem Flüchtigen hinterher. Es hatte keinen Sinn, ihm zu folgen. Seine Gedanken richteten sich auf das Geschehen unten, auf dem Platz vor dem Wall. Undeutlich erkannte er ein kleines Menschenknäuel auf dem Boden, nur einige Meter vom Bunker entfernt. Vor dem Stolleneingang hing eine Staubwolke, die sich nur langsam auflöste.

Blume setzte sich in Bewegung. Stolpernd und rutschend kam er unten am Zaun an, bahnte sich einen Weg darum herum bis zum Tor, lief auf den Platz auf die drei Menschen zu.

„Geht es Ihnen gut?“, Er beugte sich zu der Frau hinunter, die am Boden hockte, ein kleines, wimmerndes Mädchen in ihrem Arm, dem sie sanft über den Kopf streichelte. Mit beiden Händen, die aneinandergekettet waren. Mit Handschellen. Das musste Rike sein, vermutete er. Gallands Frau. Und die Kleine war seine Tochter.

„Ist alles okay mit Ihnen?“, fragte er noch einmal. Die Frau blickte zu ihm hoch, sagte aber nichts. Sie stand unter Schock. Deutlich zu erkennen in ihrem dreck- und blutverschmierten Gesicht. Blume wandte sich von ihnen ab. Seine Augen suchten Galland. Er sah ihn ein paar Meter entfernt planlos über den Platz irren, lief zu ihm, fasste ihn an den Armen, riss ihn zu sich herum. Die Augen des Mannes waren ins Leere gerichtet, blickten starr irgendwo hin.

„Herr Galland, hallo! Erik! Können Sie mich verstehen?“

Wie in Zeitlupe wandte Galland ihm sein Gesicht zu. „Meine Mutter ...“

„Wo? Wo ist sie?“ Blume schaute zum Stolleneingang. Sah, dass er durch die Explosion verschüttet war. „War sie auch da drin?“

„Ich glaube ...“, Es war nur ein Hauch. Gallands Worte kaum zu verstehen.

Blume rannte los, auf den verschütteten Eingang zu. „Kommen Sie“, schrie er, „helfen Sie mir.“

Er drehte sich nicht um, wusste nicht, ob Galland ihm gefolgt war. Wie ein Irrer begann er, die Steine zur Seite zu werfen, den Eingang freizulegen. Eine kopflose Handlung, nicht mehr. Getrieben von dem Drang zu helfen, wo es nichts mehr zu helfen gab. Schon beim Blick auf den verschütteten Eingang hatte er gewusst, dass es Hanka Altmann nicht gelungen war, dem Inferno zu entkommen.

Motorengeräusche. Weit entfernt noch, aber doch deutlich zu hören, jetzt, wo der Wald seine Stille zurückgewonnen hatte. Blume unterbrach sein fieberhaftes Räumen und richtete sich auf. Er wandte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Nur Sekunden später meinte er, blaue Lichter aufflackern zu sehen. Sie waren da. Schneller als vermutet. Höchste Zeit für ihn, zu verschwinden. Ein letzter Blick auf die Trümmerwand, dann drehte er sich zu Galland um, der immer noch regungslos hinter ihm stand.

„Kommen Sie“, sagte er, packte den wie betäubt wirkenden Mann am Arm und zog ihn zu seiner Frau und seiner Tochter hinüber. Der ließ es mit sich geschehen, folgte ihm willenlos. „Bleiben Sie bei den beiden. Gleich kriegen Sie Hilfe.“ Er ließ ihn los und hastete, so schnell er konnte, vom Platz und in die Deckung des Waldes. Dort stellte er sein Handy aus, öffnete es und entfernte die SIM-Karte. Seine Hilfe wurde nicht mehr gebraucht. Ab sofort musste er wieder an sich denken.

Er schaffte es, unbemerkt seinen Wagen zu erreichen und zu verschwinden. Gerade noch rechtzeitig, ehe rund um die Bunkeranlage die Hölle losbrechen würde.