34. Kapitel

Es kam Blume fast schon wie ein Ritual vor, als sie am Abend nach einem guten Essen wieder bei einer Flasche Rotwein zusammen auf der Couch saßen, allerdings ohne die störenden Geräusche des Fernsehers im Hintergrund. Gut zwei Stunden mochten vergangen sein, in denen sie die Ereignisse der letzten Tage hatten Revue passieren lassen. Jetzt schwiegen sie. Dicht aneinandergelehnt saßen sie im Dunkeln. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, streichelte ihr zuweilen mit den Fingern über den nackten Hals. Sie ließ ihn gewähren. So hingen sie ihren Gedanken nach. Jeder für sich. „Vor wem versteckst du dich?“, holte Katja ihn plötzlich aus seinem Dämmerzustand. Blume zog seinen Arm zurück. Er räusperte sich. „Ich ... das habe ich dir doch schon ...“

„Ist es Gerhard Hauser?“, unterbrach sie ihn. „Du musst es mir sagen, Blume. Bitte!“

Tief in seinem Inneren hatte er gewusst, dass sie keine Ruhe geben würde. Und auch wenn ein beinahe weinerliches Flehen in ihrer Stimme lag, so kam ihre Bitte doch einem Ultimatum gleich. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihm keine Wahl ließ: Sie würde ihrer Freundschaft und was sich daraus vielleicht entwickeln mochte nur eine Chance geben, wenn er mit offenen Karten spielte. Seine Entscheidung.

Er stöhnte leise. Ein hoher Preis, den Katja von ihm forderte. Er ließ sich Zeit. Sie wartete. Er spürte ihre Augen auf sich ruhen.

„Ich habe es dir damals nie erzählt, aber Gerhard Hauser und ich hatten nicht nur dienstlich miteinander zu tun“, begann er schließlich. „Wir hatten auch privat Kontakt. Ich war sehr oft bei ihm zu Hause. Besonders in der schweren Zeit, nachdem seine Frau gestorben war. Wusstest du, dass er eine Tochter hatte?“

„Nein, wie sollte ich?“, erwiderte Katja schroff. „Ich kenne den Mann ja gar nicht. Du hast seinen Namen mir gegenüber nämlich überhaupt nie erwähnt.“

„Ja, natürlich, du hast recht“, gab Blume zu. „Marie, also Hausers Tochter, war ungefähr so alt wie du. Ein paar Jahre jünger vielleicht. Sie war sein Ein und Alles. Und sie war in mich verliebt.“

Er spürte, wie Katja ein Stück von ihm wegrückte. „Und du? Warst du auch ...?“

„Nein!“, beeilte er sich klarzustellen. „Ich mochte sie, fand sie sehr sympathisch. Wir haben uns gut verstanden. Aber verliebt war ich nicht in sie. Schließlich gab es ja dich.“

„Was ist passiert? Du redest von ihr, als gäbe es sie nicht mehr.“

Blume zögerte, suchte nach den richtigen Worten. „Eines Abends stand sie vor meiner Tür, sagte, sie sei gerade in der Gegend gewesen und wolle mir einen kurzen Besuch abstatten. Sie machte auf mich allerdings nicht den Eindruck, als wäre es nur ein spontaner Gedanke gewesen, bei mir vorbeizuschauen. Sie war aufreizend angezogen und wie sie sprach und sich bewegte, diente nur dem einen Ziel, mich zu verführen. Jedenfalls hatte ich den Eindruck gehabt. Zuerst redeten wir nur belangloses Zeug, aber dann merkte ich irgendwann, dass hinter ihrem Besuch noch etwas anderes ... noch jemand anderes steckte.“ Er hielt inne, wartete auf eine Reaktion von Katja. Als die schwieg, sprach er weiter. „Kurz zuvor waren Karl und Dieter, die zwei, mit denen zusammen ich mich bei den westdeutschen Behörden freikaufen wollte, ums Leben gekommen. Hauser schien zu ahnen, dass ich ebenfalls an dem Verrat beteiligt war. Um sich letzte Gewissheit zu verschaffen, hatte er seine Tochter auf mich angesetzt. Deshalb ihr Besuch bei mir. Um mich zu verführen und auszuhorchen. Dieser Drecksack hat nicht davor zurückgescheut, seine geliebte Tochter für seine Zwecke zu missbrauchen.“

„Hat sie dich herumgekriegt?“, fragte Katja. Blume entging ihr gekränkter Unterton nicht.

„Wenn sie das hätte, vielleicht wäre dann alles gut ausgegangen. Aber sie war einfach nicht gewieft genug. Ich habe schnell gemerkt, worauf die Sache hinauslief und es ihr ins Gesicht gesagt. Sie ist wütend und handgreiflich geworden, hat mich attackiert. Ich habe mich gewehrt, sie nur ein wenig zurückgeschubst. Nicht fest. Ich wollte ihr nicht wehtun. Dabei ist es dann passiert. Ein leichter Stoß von mir, sie ist gestolpert und gefallen. Mit dem Genick direkt auf die Kante des Couchtisches. Sie war sofort tot.“

„Du hast nicht den Notarzt alarmiert und nicht die Polizei gerufen“, vermutete Katja.

„Nein“, bestätigte Blume. „Das durfte ich nicht. Du kannst dir denken, wie das ausgegangen wäre.“

„Was hast du mit ihr gemacht?“

„Es gab da diesen stillgelegten Steinbruch in der Nähe, zu dem ein Feldweg geführt hat, direkt auf die Kante zu. Dort ist sie mit ihrem Auto hinuntergestürzt. Der Wagen ist dann völlig ausgebrannt. Dafür habe ich gesorgt.“

„Du hast sie umgebracht“, sagte Katja tonlos.

„Sie war schon tot. Es war ein Unfall!“

„Und Hauser?“

„Im Grunde wusste ich schon in dem Moment, als Marie tot vor mir lag, dass ich verloren hatte. Vielleicht habe ich es mir nicht sofort eingestehen wollen und deshalb die Sache mit dem Steinbruch inszeniert. Aber als Hauser am nächsten Tag bei mir anrief und sich nach seiner vermissten Tochter erkundigte, als ich ihm sagte, sie sei nicht bei mir gewesen, da war mir klar, dass ich sofort untertauchen musste. Man würde das Wrack finden und untersuchen. Hauser würde die Inszenierung durchschauen. Er würde einen Schuldigen für den Tod seiner Tochter suchen und finden. Mich. Hauser denkt, ich bin umgekommen. In Manila. Trotzdem wird er niemals vergessen und vergeben. Deshalb darf er nie erfahren, dass ich noch lebe.“

Blume verstummte. Ließ sich in die Polster zurückfallen. Ein Gefühl von Leere und Unsicherheit überfiel ihn, er kam sich nackt und bloß vor. Dann legte sich Katjas Arm um ihn. Sie rückte an ihn heran, holte ihn in ihre Geborgenheit.

„Es ist gut, dass du mir alles gesagt hast“, flüsterte sie. „Es ist gut ...“