1. Kapitel
Ende August 2018
Der Spätsommer trug diesen besonderen Duft in sich, den sie so sehr liebte. Überfluss, Süße, Reife und auch ein wenig Trägheit und Melancholie angesichts des nahen Sterbens und Abschiednehmens.
Hanka Altmann blickte in den Rückspiegel und ließ ihre Augen eine Sekunde lang auf den Kisten im Laderaum ihres Škoda Yeti ruhen, ehe sie sich wieder auf den Verkehr konzentrierte. Zufrieden lauschte sie dem leisen Klicken der Einweckgläser, die das Vibrieren und Schwingen der Karosserie aufnahmen und, dem Rhythmus des welligen Straßenbelags folgend, aneinanderschlugen.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Immer, wenn sie, wie jetzt, unterwegs war, um ihre Waren auszuliefern, verspürte sie diese seltenen Glücksgefühle. Ihre Marmeladen und ihr Eingemachtes waren heiß begehrt. In den nahe gelegenen Städten Braunschweig und Wolfsburg sowieso, aber auch etwas weiter entfernt, im Harz. Gaststätten, Hotels und Supermärkte gehörten zu ihren Hauptabnehmern. Doch es waren auch ein paar Privatkunden darunter, vornehmlich in den etwas abgelegeneren Ecken des Mittelgebirges.
Sie verkaufte nur sehr kleine Mengen, so viel, wie sie zusammen mit ihren drei Helferinnen aus der Nachbarschaft eben ernten und verarbeiten konnte. Doch das war immer noch weit mehr als das, was sie damals, vor ihrem Renteneintritt, hergestellt hatte. Gelegentlich packte auch ihr Mann mit zu, wenn es sein Gesundheitszustand erlaubte. Aber eine wirkliche Hilfe war er nicht.
Hankas Produkte zeichneten sich dadurch aus, dass sie echt und natürlich waren, eingekocht zu Hause in der geräumigen Kellerküche. Nach den alten sorbischen Rezepten ihrer Mutter. In die Gläser kam nur das, was der Garten hinter dem Haus und die Obstbäume auf der gepachteten Wiese hergaben. Sie kaufte kein importiertes Obst und Gemüse ein, um es zu verarbeiten. Sie warb mit Echtheit, Ehrlichkeit und Natürlichkeit – keine Chemie, keine industrielle Massenware. Und es steckte ein Stück Erinnerung in jedem einzelnen Glas, Erinnerung an die gute alte DDR-Zeit, die bei Licht betrachtet alles andere als gut gewesen war – zumindest für sie. Aber den Kunden gefiel es, sie mochten die Ostalgie, diese rosaroten Träume von einer untergegangenen Republik, die sie mit den Aufklebern auf ihren Produkten verkaufte – das Emblem mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz und darunter die Aufschrift „Natur im Glas – so schmeckt der Osten!“ Solche Sachen gingen weg wie warme Semmeln. Wurden gehandelt wie Andenken, standen für Bodenständigkeit und Zusammenhalt der kleinen Leute in der ehemaligen DDR. Auch jetzt noch, knapp drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall.
Zusammenhalt – oh ja! Gepaart mit der Angst vor Verrat. Misstrauen. Lügen. Wem konnte man glauben, wem nicht? Sie konnte ein Lied davon singen, hatte am eigenen Leib die Konsequenzen ihrer vermeintlichen Fehltritte erfahren, wusste nur zu gut, zu welchen niederträchtigen Schandtaten die Handlanger eines durch und durch verdorbenen Staatsapparates fähig gewesen waren. Und dennoch betrieb sie mit ihren Einmachgläsern diese absurde Schönfärberei. Eigentlich müsste sie sich vor sich selbst und vor allen, die ebenfalls Opfer des Systems geworden waren, in Grund und Boden schämen! Galle stieg in ihrer Speiseröhre auf. Bitterer Geschmack im Mund. Sie schluckte heftig. Nicht schon wieder. Nicht jetzt! Der Tag war so schön verlaufen. Warum ihn zum Schluss mit düsteren Gedanken verderben?
Der Edeka-Markt in Elbingerode war die letzte Station auf Hankas heutiger Harz-Tour. Sie hatte die Bestellung, Kirsch- und Erdbeermarmelade, Pflaumenmus, Mixed Pickles und Gurken nach Spreewälder Art, in der Warenannahme abgeliefert, jeweils zehn Gläser, von den Marmeladen die doppelte Anzahl. Danach hatte sie noch ein paar schnelle Worte mit dem Marktleiter, Dietmar Knoche, gewechselt, hinten, vor seinem Büro. Knoche war ein gutmütiger, kleiner Mann, Mitte vierzig, korpulent und mit schwammigem, rosafarbenem Gesicht. Um seine Glatze lag ein Kranz dünnen, hellblonden Haares. Seit Knoche den Supermarkt vor einem Jahr übernommen hatte, war sie schon öfter mit ihm zusammengetroffen. Für gewöhnlich hatte Knoche reichlich Zeit für sie übrig. Immer war er begierig, mit ihr über die alten Zeiten zu sprechen. Auch er war ein Kind der DDR und schien ein wohlbehütetes Zuhause gehabt zu haben. Obwohl die Wende ihn, nach allem, was sie von ihm wusste, nicht ins soziale Abseits gespült und er sich im kapitalistischen System durchaus seinen Platz erobert hatte, schien seine Sehnsucht nach der guten alten DDR-Zeit nicht abklingen zu wollen. In Hanka und ihren Einweck-Produkten fand er ein Stück dieser Zeit wieder.
Sie nahm ihm seine Schwärmereien nicht übel, hatte durchaus Verständnis. Auch sie kannte die Zeiten, als sie ein beschauliches, zufriedenes Leben geführt hatte. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Bis zu jenem Tag, an dem sich alles binnen weniger Minuten geändert hatte. Aber das konnte Dietmar Knoche nicht wissen und sie hatte nicht vor, es ihm jemals zu sagen. Deshalb ließ sie sich auf seine schwärmerischen Erinnerungen ein, plauderte nett mit ihm und hielt ihre wahren Empfindungen verborgen.
Heute hatte sie sich nicht verstellen müssen. Knoche hatte keine Zeit für alte Geschichten gehabt, hatte irgendwie unter Druck gestanden. Zumindest war es ihr so vorgekommen. Na ja, er war der Marktleiter, trug Verantwortung. Hatte vielleicht die Konzernleitung im Nacken. Wer wusste das schon?
Sie war nach vorn und durch den Haupteingang in den Verkaufsraum gegangen, um die Einkäufe für das bevorstehende Wochenende zu erledigen. Wenn sie schon hier war, konnte sie das eine gleich mit dem anderen verbinden.
Zielstrebig schob sie den Einkaufswagen durch die Gänge, sammelte alles ein, was sie an Lebensmitteln und anderen Haushaltswaren benötigte. Dann steuerte sie auf die Spirituosenabteilung zu. Sie gönnte sich nur selten einen guten Tropfen. Aber heute war ihr danach.
Unentschlossen ließ sie ihre Augen über die Reihen mit Hochprozentigem gleiten, griff sich hier und da eine Flasche, nur um sie nach kurzem Zögern wieder ins Regal zurückzustellen. Vielleicht sollte sie es mit einem der Weine versuchen, die ein Stück weiter rechts in unüberschaubarer Vielfalt aufgereiht waren. Eine Spätlese von der Mosel, gut temperiert, wäre nicht schlecht.
Sie machte einige energische, schnelle Schritte in die entsprechende Richtung, die Augen fest an die aufgereihten Flaschen geheftet, als sie mit dem Wagen gegen einen Mann prallte, der plötzlich wie aus dem Nichts vor dem Regal aufgetaucht war. Sie sah den Mann straucheln und dann zu Boden gehen. Reflexartig versuchte er, sich an einem kreisförmig aufgebauten Display mit einem Sonderangebot spanischer Weine festzuhalten. Der Griff ging ins Leere, seine Hand streifte lediglich ein paar der Flaschen, die ins Schwanken gerieten, aber nicht herunterfielen. Einen Moment lag der Mann da auf dem Rücken und starrte seine Unfallgegnerin mit weit aufgerissenen Augen an.
Hanka klammerte sich erschrocken mit einer Hand an den Griff des Wagens, fasste sich mit der anderen an ihr Herz.
„Mein Gott! Entschuldigen Sie bitte!“, rief sie aus. „Ich habe Sie gar nicht kommen sehen!“
Der Mann erwiderte nichts. Ein, zwei Sekunden hing sein Blick noch an Hanka, lange genug, um eine Erinnerung in ihr wachzurufen. Dann rappelte er sich umständlich auf, wobei er sich mit der rechten Hand am Boden abstützte – die Anomalie war für einen Augenblick deutlich zu erkennen. Er brummte etwas Unverständliches in seinen schwarzen Vollbart und drückte sich an ihr vorbei.
Hanka sah ihm nach, die Augen auf seine Strickmütze geheftet, unter der drahtige Haare hervorquollen, die, von einem Gummiband zusammengehalten, bis auf den Kragen seines hellgrauen Overalls reichten. Dann war der Mann hinter einer der Regalwände verschwunden.
Die Augen, dachte sie, diese hellen blauen Augen, die passten nicht. Sie standen in einem merkwürdigen, leuchtenden Kontrast zu den schwarzen Haaren, die sein Gesicht einrahmten und seinen Kopf bedeckten. Sie passten auch nicht zu den Augenbrauen, zwei dicken, dunklen Balken, die seinen ohnehin düsteren Gesichtsausdruck zusätzlich verstärkten. Die Augen des Mannes erinnerten sie vielmehr an den kleinen vierjährigen Jungen mit seinem strohblonden Schopf, dem von Geburt an der kleine Finger der rechten Hand fehlte. An ihren Sohn, den sie vor fast vier Jahrzehnten verloren hatte. Ihr kleiner Sascha, den alle Welt für tot hielt. Aber er lebte! Sie hatte es immer gewusst. Sie war seine Mutter! Sie hatte die Suche nie aufgegeben. Und jetzt dieser Mann. Seine Augen, der fehlende Finger. Sie hatte doch richtig gesehen? Der kleine Finger an seiner Hand hatte gefehlt, ganz sicher! Oder doch nicht? Es war alles so schnell gegangen.
Sie wendete ihren Einkaufswagen, schob ihn eilig vor sich her, blickte links und rechts in die Regalgänge, bog in einen der Gänge ab, rempelte Kunden an, die ihr im Weg standen, drückte sich mit einer flüchtigen Entschuldigung an ihnen vorbei. Den Mann mit den blauen Augen konnte sie nirgends entdecken.
Dann sah sie ihn doch. Vorn an einer der Kassen. Hinter ihm hatte sich eine beträchtliche Schlange gebildet, sodass sie ihn erst bemerkte, als er sich zur Kassiererin vorbeugte und mit ihr sprach. Er nahm etwas in Empfang, vermutlich Wechselgeld, und steuerte mit einem kleinen Stoffbeutel in der Hand auf den Ausgang zu.
Hanka wollte ihm hinterherrufen, seinen Namen – Sascha, ihn zum Warten bewegen. Im letzten Moment begriff sie, wie aussichtslos das war. Stattdessen ließ sie ihren Einkaufswagen einfach stehen, hetzte zur Kasse und drängelte sich, ohne Rücksicht zu nehmen, an den Kunden in der Schlange vorbei. Die verärgerten Proteste überhörte sie. Es interessierte sie nicht, was die Leute ihr zuriefen. Sie musste dem Mann hinterher, ihn aufhalten, mit ihm sprechen!
Vor dem Eingang stoppte sie ab, sah sich suchend um, ließ ihre Augen über den Parkplatz gleiten. Weg! Er war weg! Sie konnte ihn nirgends entdecken. Hinten links stieß ein klappriger silbergrauer Kastenwagen rückwärts aus der Reihe der parkenden Autos, der Vorwärtsgang wurde eingelegt und der Wagen rollte auf sie zu. Langsam fuhr er an ihr vorbei. Die tief stehende Sonne blendete sie und so erkannte sie die Person hinter dem Steuer erst im letzten Moment. Es war der Mann!
„Halt! Stopp!“, rief sie dem Kastenwagen hinterher, hob die Arme, winkte verzweifelt. Zwecklos. Der Fahrer machte keine Anstalten zu bremsen oder gar zu halten. Vielleicht hatte er sie nicht gesehen oder er wollte sich nicht von ihr aufhalten lassen. Der Wagen verließ den Parkplatz, bog in die Straße ein, beschleunigte und war wenige Sekunden später aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Hanka senkte den Kopf, drehte sich um und schlich enttäuscht in den Markt zurück. Nein, es war vermutlich eines ihrer Hirngespinste gewesen, gestand sie sich ein. Wieder einmal. Und dennoch – bei allem, was dagegen sprach, so eine starke innere Gewissheit hatte sie noch nie gehabt, in all den Jahren nicht, in denen sie nach Sascha suchte. Oder hatten diejenigen doch recht, die ihr eine massive psychische Instabilität bescheinigten und sie am liebsten aus dem Verkehr ziehen würden? Diejenigen, die ihr klarzumachen versuchten, dass sie mit ihrer Penetranz und ihrem neurotischen Verhalten eine Zumutung für ihre Mitmenschen war? Wurde sie langsam tatsächlich verrückt?