Chris Childe, der Kriegsdienstverweigerer, lag wach im morgendlichen Zwielicht über Romsey Town, verfolgt von den flackernden Bildern eines Albtraums, der gerade geendet hatte: Leichen und Skelette, die an Seilen einen steifen, gekünstelten Tanz des Todes aufführten, überwacht von vermummten Scharfrichtern. Schweißgebadet stützte er sich auf einen Ellbogen und fand Trost im Anblick der schlafenden Gesichter seiner Zwillingsmädchen und seiner Frau, die alle mit ihm in dem Doppelbett lagen. Die einzigen Lebenszeichen, die von draußen hereindrangen, waren das sonderbar metallische Rumpeln eines Güterwagons auf den Schienen und das ferne Gläserklirren eines Milchwagens, der von einem schwer schuftenden Pferd gezogen wurde.
Er ging hinunter ins Wohnzimmer, holte sich seine Schreibmaschine, trug sie in die Küche, schloss die Tür und tippte rasch eine knappe Erklärung zu dem Geschehen, dessen Zeuge er in der Nacht zuvor geworden war. Was hatte der Parteivorsitzende Henderson ihm gleich geraten?
»Wenn du es uns nicht erzählen willst, Chris, dann erzähl es London. Erzähl es der Partei. Schreib es auf, halte dich an die Fakten, und führ sie in der korrekten Reihenfolge auf. Dann gibst du Vera deinen Bericht – sie wird dafür sorgen, dass er ins Hauptquartier am Cadogan Square gelangt. Und fertige auch eine Kopie für dich an, aber bewahr sie sicher auf.«
Mit dem versiegelten Umschlag in der Tasche schloss er die Haustür hinter sich und machte sich auf den Weg. Er passierte die ärmlichen Reihenhäuser in seiner Straße und überquerte die Eisenbrücke, hinter der sich die alte Stadt ausbreitete. Nebelschwaden schwebten wie Flaggen um die College-Türme. Noch immer hing die feine Asche von dem verbrannten Sperrballon in der Luft, und die morgendliche Brise trug den beißenden Geruch des Feuers mit sich. Die Große Verdunkelung war einem nebligen Herbstmorgen gewichen, doch Childe konnte bereits einen Streifen blauen Himmels erkennen, der verhieß, dass der Altweibersommer vielleicht noch andauern würde. Auf der Regent Street schepperte ein früher Bus vorüber, während eine Reihe Soldaten Sandsäcke an der Ecke Parker’s Piece abluden.
Er bog in die Babylon Street ein und hielt inne. Diese kurze Sackgasse bildete das Zentrum des Rotlichtbezirks, ein kleines Viertel, das der Prostitution gewidmet war. Die Häuser waren fünf Stockwerke hoch, hatten tiefe Keller und hohe Mansarden. Sogar jetzt, um acht Uhr am Morgen, saßen zwei Männer rauchend auf den steinernen Stufen eines der Gebäude und ließen ihn nicht aus den Augen.
Childe ging zielstrebig zur Nummer zwölf und klopfte.
Während er an der Türschwelle wartete, versuchte er, sich den Moment ins Gedächtnis zu rufen, in dem er begriffen hatte, dass Vera Staunton, Schriftführerin des örtlichen Verbands der Partei, auch dem ältesten Gewerbe der Welt nachging. Wie hatte diese Erkenntnis zu einem Gemeinplatz werden können? In den Debatten während der wöchentlichen Treffen hatte sie sich stets für Frauen im ganzen Empire eingesetzt, die, »von Männern und Geld unterjocht«, gezwungen seien, ihre Körper zu verkaufen. Sie ging jedem direkten Zugeständnis aus dem Weg, doch niemand hatte irgendwelche Zweifel daran, dass sie die brutale Realität dieses Klassenkampfes aus erster Hand kennengelernt hatte. Eine Erfahrung, die in einem krassen Kontrast zu den theoretischen Träumereien der Akademiker in der Partei stand.
Durch das Buntglas in der Tür sah Childe eine Gestalt herbeischlurfen, die gleich darauf leicht gebückt mit dem Schloss kämpfte.
Dann tauchte das Gesicht einer alten Frau in der schmalen Ritze zwischen Tür und Rahmen auf, über die sich eine Kette aus Metall zog.
»Ich habe einen Brief für Vera Staunton, aber ich muss ihn ihr persönlich übergeben.«
Die Frau zuckte mit den Schultern, nahm die Kette ab und zog sich zu einer Tür am Ende des gefliesten Korridors zurück. Im letzten Moment drehte sie sich um und rief: »Gehen Sie rauf. Fünfter Stock, Vorderzimmer. Ihr Name steht an der Tür.«
Auf der Treppe begegnete Childe einem Mann auf dem Weg nach unten, möglicherweise einer von Veras Kunden, eingewickelt in einen Militärmantel, das Kinn gesenkt, einen eleganten Trilby fest auf den Kopf gerammt. Er trat zur Seite, und als Childe mit ihm auf einer Höhe war, versuchte er, sein Gesicht zu betrachten. Er hoffte, vielleicht so etwas wie Scham darin erkennen zu können oder auch einen flüchtigen Hinweis auf einen Treuebruch. Aber da war nichts, nur die unterdrückte Ungeduld eines Mannes in mittleren Jahren, der sich plötzlich zum Warten gezwungen sah, nachdem er ein Geschäft abgeschlossen und für eine Dienstleistung bezahlt hatte.
Staunton öffnete ihre Tür in einem dünnen Nachthemd mit chinesischem Muster. Als sie Childe erkannte, zog sie es bis zur Kehle fest zu. »Chris. Was gibt es? Was ist passiert?«
Childe reichte ihr den Umschlag.
»Das muss zum Vorsitzenden, zu Harry Pollitt am Cadogan Square«, sagte Childe und blieb förmlich auf der Schwelle kleben. »Heute noch, Vera. Entweder persönlich oder mit der Post. Ich habe etwas gesehen, das sie wissen sollten, etwas Bedeutsames. Ich weiß nicht, wie man so was macht, Vera – mit der Partei. Ist ein Brief in Ordnung? Sollte ich ihn per Einschreiben schicken? Oder bringst du die Papiere hin? Ich könnte auch selbst hingehen, wenn du meinst, dass das meine Pflicht ist.«
»Ganz ruhig, Chris«, sagte sie lächelnd. »Pollitt ist eh nicht mehr da, weil er den Krieg unterstützt. Irgendwo habe ich den Namen seines Nachfolgers …«
»Die müssen das gleich erfahren, Vera, so schnell wie möglich, und Henderson sagt, dem Telefon können wir nicht trau-«
Staunton unterbrach ihn mit erhobener Hand und legte dann einen Finger an die Lippen. Sie ergriff seine Hand, zog ihn hinein und schloss die Tür. Dann kehrte sie ihm den Rücken zu und fummelte an ihrem Plattenspieler herum, bis Jazzklänge die Luft erfüllten.
Als sie zu ihm zurückkehrte, stellte sie sich nur ein paar Zoll entfernt von ihm auf, und da drang er ihm in die Nase, der Geruch der Männer, die zuvor hier gewesen waren. Was hatte Childe erwartet? Schweiß, vielleicht, und schalen Zigarettenrauch. Aber dies war weniger verräterisch: Duftseife, Rasierwasser, Zigarre.
Die Musik brachte einen Singvogel in einem Käfig dazu, so kräftig mit den Flügeln zu schlagen, dass winzige Federn zu Boden schwebten, in denen sich das Licht fing, das zum Fenster hereinfiel.
»Was steht drin?«, fragte Vera. Sie hielt den Brief hoch, stellte fest, dass er versiegelt war, und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich kann es dir nicht sagen. Jetzt noch nicht. Wir waren uns alle einig, dass London zuerst informiert werden muss. Die müssen darüber entscheiden, die Führungskräfte auf der höchsten Ebene. Das ist keine Frage, über die wir befinden können.«
Sie wog den Umschlag in ihrer Hand.
»Hast du eine Kopie gemacht?«
Childe klopfte auf seine Jackentasche und lächelte.
»Ich kann heute nicht nach London gehen«, sagte er. »Sonst hätte ich ihn selbst hingebracht, wirklich. Aber ich muss heute Vormittag graben, am Nachmittag vor das Tribunal treten und danach zurück an die Arbeit …« Er warf einen Blick zur Uhr. »Davor kann ich mich nicht drücken. Ich muss vor dem Tribunal eine Erklärung abgeben. Aber es ist wichtig, dass die Partei so schnell wie möglich von dem erfährt, was in diesem Brief steht, Vera. Heute noch. Können wir die Post erwischen?«
»Du hast recht. Es ist das Beste, den Brief mit der Post zu schicken.« Sie nickte lächelnd. »Warte hier«, fügte sie hinzu und zog sich in einen kleinen Nebenraum zurück, in dem er ein Einzelbett, ein Waschbecken und einen Gaskocher sehen konnte. Er hörte, wie Schubladen geöffnet und geschlossen wurden. Licht flammte auf, und ein Stuhl knarrte.
»Einen Moment«, rief sie.
Den Hauptraum dominierte ein Doppelbett, auf dem haufenweise Kissen und ein Patchwork-Quilt lagen. Neben dem Tisch mit dem Plattenspieler befanden sich ein Barwagen und ein weiterer Tisch, auf dem drei Aschenbecher standen, alle leer. Ein Bücherregal war mit einer chaotischen Auswahl an Titeln gefüllt, und an den Wänden hingen namenlose Drucke.
Nichts davon lieferte einen Hinweis auf Stauntons persönliche Geschichte.
In jener ersten Nacht bei den wöchentlichen Treffen über dem Pub The Mitre, in der sie ihr gesagt hatten, sie müsse sich der Partei anschließen, da hatte Henderson ihr die Schlüsselfragen gestellt: Warum hatte sie für Peace News gearbeitet, warum war sie Pazifistin geworden?
Sie erzählte, dass ihr Ehemann, Corporal Harry Staunton, an der Somme gestorben war. Im Anschluss an ein Gemetzel im Schlamm war sein Leichnam in der Menge von Toten, die später in einem Massengrab verscharrt worden waren, nie identifiziert worden. Der Brief seines kommandierenden Offiziers, der sie über ihren Verlust informierte, hatte keine Einzelheiten seines Todes offenbart und keinerlei Trost gespendet. Seine Einheit hatte beim Klang einer Trillerpfeife überreagiert, und von zweiundvierzig Männern hatten nur siebzehn überlebt. Die dreißig Meter, die sie in der dem Signal folgenden Schlacht erobert hatten, waren am nächsten Tag schon wieder verloren.
»Ich glaube nicht an einen ruhmreichen Tod, Sie etwa?«, hatte sie abschließend gefragt. »Der Krieg hat mich als Witwe mit einem Sohn zurückgelassen und meinen Ehemann dermaßen zerfetzt, dass sie keinem der Toten mehr seinen Namen zuordnen konnten. Also wird er nun wohl in dieser Grube liegen, zusammen mit einem Haufen anderer. Dafür hatten sie dann aber noch die Frechheit, ihm einen Orden zu verleihen, als würde mir das helfen. Nein, ich bin für den Frieden. Frieden um jeden Preis.«
Staunton kam mit dem Umschlag zurück, der nun in säuberlicher Schrift an das Londoner Hauptquartier der Partei adressiert war.
»Ich schicke ihn weg, aber ich brauche Briefmarken. Auf Einschreiben dürfen wir nicht vertrauen, besonders nicht bei Briefen für Cadogan Square. Und die beobachten uns Tag und Nacht, also ziehe ich es vor, nicht persönlich dort zu erscheinen, so lange es nicht zwingend notwendig ist.« Sie warf einen Blick auf ihre filigrane Armbanduhr. »Ich muss mich sputen.«