KAPITEL ZEHN

Zum Frühstück besuchte Brooke die Masonic Hall, hundert Meter vom Spinning House entfernt, die vom Ernährungsministerium damit beauftragt war, billige Mahlzeiten in großer Menge für Arbeiter und Soldaten bereitzustellen. Die Fenster dessen, was einmal als das British Restaurant bekannt gewesen war, waren beschlagen. Eine Handvoll Soldaten und einige Arbeiter, die früh anfangen mussten, saßen an einfachen Biertischen.

Brooke wählte ein Ei, das auf einer Warmhalteplatte förmlich in Schmalz schwamm, eine Scheibe Speck und zwei Scheiben Toast und steckte das Wechselgeld ein. Der Tee hatte zu lange gezogen, war übertrieben stark und nur noch lauwarm. Er trank ihn mit einem ganzen Haufen Zucker. An der Decke über ihm prangten Stuckverzierungen in Form von kunstvollen Symbolen des Freimaurerordens: Zirkel und Kelle und ein nervenzermürbendes einzelnes Auge in einem rituellen Dreieck. Er rauchte eine Zigarette und sog das Nikotin tief in die Lunge.

Er wäre nach Hause gegangen, um sich umzuziehen und zu rasieren, aber Claire war immer noch in der Klinik, und der Gedanke an das leere Haus war entmutigend. Ein Satz Kleidung und ein Rasierer lagen stets in seinem Büro im Spinning House bereit, zusammen mit einem Ersatzhandtuch und einer kurzen Hose für seine heimlichen Schwimmausflüge. Folglich saß er um acht an seinem Schreibtisch und kümmerte sich um liegen gebliebenen Papierkram. Darunter war auch eine Nachricht von PC Woods, die besagte, dass am Flussufer keine Spur von einer Grube oder sonst etwas in der Richtung zu finden gewesen sei.

Brookes Büro trumpfte mit zwei Dingen auf, die nicht zur üblichen Ausrüstung im Borough gehörten: hölzerne Jalousien und eine Liege, die er vor dem Wüstenfeldzug am Hafen von Suez erworben hatte, seinerzeit vor goldenem Hintergrund mit weißen Kranichen und grünen Rohrkolben neben einem blauen Nil verziert.

Auf den Schlag um acht Uhr fünfzehn griff er zu seinem Telefon und wählte die Null.

»Mister Brooke, guten Morgen, Sir.«

»Geben Sie mir bitte ein Amt«, sagte er und nippte an seinem Wasser. »Ach ja, Ihnen auch einen guten Morgen«, fügte er hinzu.

Eine Nummer in Cambridge wurde angewählt. Es klingelte nur einmal, ehe abgenommen wurde.

»Captain Kerridge.«

»Rühren!«, sagte Brooke und stellte sich vor, wie sein alter Freund steif und starr an seinem Schreibtisch stand. Captain »Rich« Kerridge war sein Pendant im Hauptquartier in Kairo gewesen, der Kontaktstelle zwischen seinem eigenen Bataillon und den Leuten von General Allenby. Ihre Freundschaft hatten sie auf der Bereitschaft aufgebaut, gegen Vorschriften zu verstoßen, die Uniformen abzulegen und mit dem Wagen hinaus in die Wüste zu fahren. Kerridge, der in Oxford Geschichte studiert hatte, war damals auf der Suche nach alten Ruinen gewesen, um seine heiß geliebten Hieroglyphen aufzuzeichnen. Brooke, der Naturwissenschaftler, hatte Ausschau gehalten nach dem berühmten nubischen Löwen und Krokodilen, die sich am Ufer des Nils sonnten.

Kerridge war Berufssoldat und nun als Adjutant des kommandierenden Offiziers in Madingley stationiert. Seine Stimme klang kultiviert und ruhig. »Du schleichst also zu dieser Stunde schon in deinem schäbigen Büro herum, Brooke. Die letzte Nacht muss ein Segen gewesen sein. All diese Dunkelheit im Staatsauftrag.«

»Dunkelheit, in der ihr es geschafft habt, ein paar Sperrballons zu verlieren«, erwiderte Brooke. »Das ist leichtsinnig. Der, den ich gesehen habe, war so groß wie ein Bus. Und ich fürchte, es gibt noch mehr schlechte Neuigkeiten, Rich. Sehr schlechte Neuigkeiten.«

»Jesus, wirklich?«, fragte Kerridge. »Die sprichwörtliche Kacke dampft schon seit der Morgendämmerung. Diese Dinger sollten die Eckpfeiler unserer Verteidigung darstellen, Brooke, unseren Schutz vor den Hunnen. Und was ist? Wir lassen sie über eine Stadt treiben, die bis obenhin voll ist mit Militärpersonal und Staatsbediensteten, von den Evakuierten ganz zu schweigen. Eines der Scheißdinger ist immer noch in der Luft. Es hat die Kathedrale von Ely um dreihundert Meter verfehlt und steigt weiter. Der König ist oben auf Sandringham. Wenn der das Ding sieht, bricht die Hölle los. Also, was ist passiert?«

Dann hörte Brooke Kerridges gedämpfte Stimme, und gleich darauf wurde eine Tür zugeknallt.

»Tut mir leid, Brooke. Der kommandierende Offizier beruft eine Lagebesprechung ein. Erzähl mir das Schlimmste, und mach schnell.«

Bildete Brooke sich die Geräusche nur ein? Das metallische Quietschen des Verschlusses einer Feldflasche, der abgeschraubt wurde? Das kaum wahrnehmbare Schmatzen trockener Lippen? Kerridge begann die meisten Tage mit einer kleinen medizinischen »Stärkung«.

Der Bericht auf Brookes Schreibtisch, den er nun für Kerridge zusammenfasste, beinhaltete keine der forensischen Einzelheiten, die sie beide hätten haben wollen, aber die grundlegenden Ereignisse waren mit brutaler Klarheit festgehalten worden.

Ein Amerikaner namens Lux, ein Forschungsstipendiat im Michaelhouse, hatte zusammen mit einigen Kameraden nach einer Vorlesung im Galen Anatomy Building in der Gaststätte Eagle einen Drink genossen. Er war wenige Minuten vor neun aufgebrochen und hatte erklärt, er ginge zurück in seine Räumlichkeiten. Ein Constable, der zu der Zeit Dienst hatte, meldete, dass er einen Mann, auf den Lux’ Beschreibung passte – klein, kräftig gebaut, Mitte zwanzig –, um kurz nach neun am Senate House habe vorbeigehen sehen, zweifellos auf dem Weg zu seinem College. Aber wie Doric, der Nachtportier, berichtet hatte, war er zwar mit drei anderen Wissenschaftlern gegangen, jedoch nicht zurückgekehrt, bis die Tore geschlossen worden waren.

Es gab Hinweise darauf, dass Lux auf der Senate House Passage mit einem der treibenden Ballons zusammengestoßen war, genauer, mit seinen Gurten und den herabhängenden Tauen. Geborstene Dachziegel sprenkelten den Durchgang, ein Schornstein am Außenküchenherd des nächsten Colleges war beschädigt worden, und ein Stück Seil hatte sich in der Dachrinne verfangen. Mehrere Studenten berichteten, sie hätten kurze Zeit nach neun Uhr abends Dachziegel fallen gehört.

Lux’ Leichnam war kurz nach halb sieben am Morgen eine halbe Meile vom Senate House entfernt am Flussufer von einer Frau entdeckt worden, die ihren Hund spazieren führte. Sie war nur teilweise bekleidet und hatte mehrere schwere Verletzungen aufgewiesen. Der Satz, den der Constable gebraucht hatte, um die Szene zu beschreiben, war aufschlussreich: Er ist in Stücke gerissen worden. Die Frau hatte ein Sedativum erhalten und war in einem Polizeiwagen heimgefahren worden.

»Erspar mir bitte die grausamen Einzelheiten«, sagte Kerridge.

In Kairo hatte sich Kerridge auf Logistik und Kommunikation spezialisiert. Vor dem großen Vorstoß Richtung Jerusalem hatte er freie Stunden mit einer anderen Pflicht ausgefüllt und die Anfragen von Feldkommandeuren aus dem Nahen Osten überprüft, die darum ersuchten, besondere Heldentaten durch Orden und Belobigungen auszuzeichnen. Brooke hatte ihn dafür bewundert, dass er imstande war, das Ironische an der Situation zu erkennen: ein Mann, der seinen Krieg im Grunde nur auf Papier auskämpfte, war offiziell damit betraut worden, Heroismus zu bewerten. Kerridge hatte ein Händchen für Bürokratie, verstand sich hervorragend auf intelligente Verwaltung und hegte eine Aversion gegen den Anblick von Blut.

Brooke hatte Lux’ Brieftasche, die auch seinen College-Ausweis enthielt, auf seinem Schreibtisch, zusammen mit dem Gürtel des Amerikaners, dessen Schnalle die Golden Gate Bridge am Eingang der Bucht von San Francisco abbildete. Ein Fetzen eines noch nicht genau bestimmten Materials hatte sich an dem Gürtel verfangen.

»Ich bin kein Experte«, sagte Brooke. »Aber es sieht nach Kautschuk aus, leicht und dehnbar.«

»Farbe?«

»Silber. Ich sehe auch ein Stück Naht. Ich glaube nicht, dass es noch Zweifel geben kann, Rich. Er hatte ein Zusammentreffen mit einem Sperrballon. Ein tödliches Zusammentreffen.«

»Schön, dann hisst die verdammte Flagge. Nicht nur, dass wir drei Sperrballons verloren haben, wir haben es auch noch geschafft, einen Wissenschaftler umzubringen, einen Yankee-Juden, wenn ich raten darf. Erfolgreiche Nacht. Du weißt, was das bedeutet. Whitehall und was sonst noch an den Schaltstellen der Macht kreucht …«

Brooke versuchte, sich den Moment des Todes vorzustellen: den treibenden Ballon, der Lux mit seinen Tauen einfängt, ihn in die Luft hebt, gegen steinerne Wände schlägt und ihn über Dächer schleift, hoffentlich in bewusstlosem Zustand, ehe er ihn der Erde zurückgibt. Wenigstens war es die feuchte Erde des süßlich riechenden Ufers.

»Kann so was wirklich einfach so passieren?«, fragte er.

»Ist nicht das erste Mal«, antwortete Kerridge. »Ich glaube, in diesem Fall liegt es nicht an der Vertäuung, sondern an dem Netz. Stell dir ein Fußballtor ohne Pfosten vor, das über eine Straße geschleift wird. Wenn man sich einmal drin verheddert, kommt man erst wieder frei, wenn irgendwas reißt.«

Brooke nahm die Einnahme eines weiteren Schnäpschens am anderen Ende der Leitung wahr.

»Musst du dich da einmischen, Brooke?«

Brooke war in Versuchung, es dem Militär zu überlassen, sich mit diesem Todesfall zu befassen. Der Krieg hatte die Polizeikräfte schwer dezimiert. Die Lahmen und Kranken und die längst Pensionierten waren zurückgeholt worden, um die Lücken zu füllen. Das CID – Criminal Investigation Department – im eigentlichen Sinne bestand aus gerade zwei Detective Inspectors, von denen einer im Begriff war, sich freiwillig bei der Royal Air Force zu melden, und vier Detective Sergeants. In einem realistischeren Sinne war Brooke das CID, denn über ihm gab es nur einen einzelnen Chief Inspector, der schwer mit administrativen Tätigkeiten beladen war, und einen Chief Constable, der seine Rolle als vornehmlich zeremoniell verstand. Ein Revierkampf mit dem Militär war das Letzte, was Brooke brauchen konnte.

Aber Lux’ geschundener Leichnam war an einer öffentlichen Straße gefunden worden, eine halbe Welt vom Kriegsgeschehen entfernt. Ehe er zu einem Punkt in einer militärischen Statistik verkam, hatte der Mann, so empfand es Brooke, zumindest ein gewisses Maß an zivilrechtlicher Aufmerksamkeit verdient.

»Die Räder drehen sich bereits«, sagte Brooke. »Der Untersuchungsrichter wurde informiert. Du weißt ja, wie das läuft. Ich werde eine Aussage von dem Offizier benötigen, der für die Speerballons zuständig ist«, erklärte Brooke.

»Swift-Lane ist der CO«, entgegnete Kerridge. »Aber, um ganz offen zu sein, Brooke, der steht ein Stück weit über deiner Gehaltsstufe. Und über meiner. Dein Mann ist der stellvertretende Kommandant – Major Joelyn Stone. Er war für die Planung der Verdunkelung zuständig, also fällt das auch in seine Verantwortung. Die Ballons gehören zum Aufgabenbereich der RAF, aber von denen ist kein Ranghöherer hier, und wir sollen eigentlich als Verbindungsstelle zwischen den Streitkräften dienen. Ich kümmere mich darum. Ich sollte sowieso besser dabei sein … Bleib dran …«

Die Leitung war nicht tot, aber es kam ihm vor, als wäre der Hörer in eine Art elektronischen Kasten gelegt worden. Die schwachen Echos von Stimmen waren vor einem monotonen Brummen hörbar.

Es knisterte in der Leitung. »Brooke? Ich muss los. Wir sehen uns in einer Stunde hier.«