KAPITEL DREIZEHN

Der Sitzkrieg stotterte weiter vor sich hin. Die Wehrmacht hatte einen Blitzüberfall in französisches Territorium geführt, was die versammelten alliierten Truppen in Aufruhr versetzt hatte. Stalin erklärte den Finnen, welchen Preis sie für Frieden zu zahlen hätten. Auf See hatten deutsche U-Boote ein britisches Handelsschiff versenkt, allerdings hatte die Clement – so besagten die Berichte – lediglich Ballast an Bord auf ihrem Weg nach Rotterdam, und die Crew war gerettet worden.

Brooke faltete den Daily Telegraph zusammen und legte ihn weg, als der Wolseley in eine Sackgasse am südlichen Stadtrand steuerte. An dem Wagen hatte Edison die größte Wonne – ein Vierzylinder-Wolseley-Wasp. Brooke nahm an, die Fahrleistungsvergütung und die Möglichkeit, den Wagen trotz der Kraftstoffrationierung zu fahren, gehörten zu den Vorzügen, die den ehemaligen Sergeant aus seinem Garten und zurück zur Polizei gelockt hatten.

Edison parkte den Wagen übertrieben vorsichtig auf dem mit Kirschbäumen bestandenen, grasbewachsenen Randstreifen.

»Ein einziger Schuss? Nur der eine?«, fragte Brooke und betrachtete die Straße.

»Das ist alles, Sir. Mehr hat er nicht gehört, der Mann, der angerufen hat. Nummer neunundzwanzig; da … Er glaubt, es ist ein Nazi-Fallschirmjäger, der sich in einer Gartenhütte versteckt hat.«

Brooke gefiel Edisons altmodische Genauigkeit. Es mochten mehr Schüsse gefallen sein, aber gehört worden war nur einer.

Die Straße war typisch Metroland. Doppelhäuser im Stil von Lutyens mit optischem Fachwerk standen ein Stück von der Straße entfernt hinter gepflegten Vorgärten, die alle aussahen wie Miniaturausgaben der ausgedehnten Prachtgärten von Madingley Hall.

Am hinteren Ende der Straße hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Ein Uniformierter hielt sie in Schach, während ein anderer, der vor dem Tor von Nummer neunundzwanzig Wache gehalten hatte, auf den Wasp zukam.

»Sir, die Familie hält sich zusammen mit den anderen am Ende der Straße auf, dort sind sie außer Gefahr«, sagte er. »Wir haben alle Häuser geräumt. Mister Reed – das ist der Mann, der ihn entdeckt hat – ist im Haus.«

Mr Reed war Kricketfan: In dem Schirmständer im Hausflur war ein Schläger, und auf der Fußmatte standen Kricketschuhe. Im Wohnzimmer hing ein großer Druck von einem Testspiel im Lord’s über einem offenen Kamin. Reed selbst saß auf einem Esszimmerstuhl vor der Verandatür und hielt ein Gewehr im Schoß.

»Ich hab ihn im Auge behalten«, sagte er und strich sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. »Der Constable hat gesagt, es gäbe Berichte über Fallschirmjäger auf einem Kommandounternehmen letzte Nacht. Schätze, ich habe einen erwischt. Vielleicht hat er seinen Fallschirm ja auch da drin.«

Mit einem Nicken deutete er auf den Garten, der sich über gute fünfunddreißig Meter erstreckte und von einem makellosen Rasen beherrscht wurde, der in Längsstreifen gemäht worden war. Ganz hinten befand sich eine Hütte gleich neben einem Luftschutzkeller, der so tief im Boden verborgen war, dass nur noch das gewölbte und mit Gras bewachsene Dach zu sehen war. Vor dem Luftschutzraum stand eine große Rasenwalze, die den Blick auf die Tür verstellte. Der Griff in Form eines großen T ragte aufrecht empor.

»Meine Jüngste hat ihn gehört, als sie mit dem Hund spazieren gegangen ist. Er steckt im Bunker, nicht in der Hütte.«

»Wann war das?«, fragte Brooke.

»Spät. Nach dem Angriff haben wir alle ein bisschen länger geschlafen. Gegen acht Uhr dreißig, schätze ich. Ich bin rübergeschlichen und hab gelauscht«, berichtete Reed. »Der Mistkerl hat fest geschlafen, also habe ich die Walze über den Rasen geschoben. Die ist gut geölt, weil ich sie für den Club brauche, und wir sind hier nahe an der Hauptbahnlinie, also habe ich sie jedes Mal, wenn ein Zug vorbeigekommen ist, zwanzig Fuß weitergeschoben. Zum Schluss habe ich sie in die Tür gerammt und einen Ziegelstein druntergeklemmt. Der geht nirgendwohin.«

Brooke dachte über die stille vorstädtische Szenerie nach. Späte Rosen blühten zu beiden Seiten des Rasens, während eine Reihe Platanen ihr herbstliches Laub fallen ließ. Wenn das ein deutscher Fallschirmjäger war, dann sollte er den Schauplatz sichern und Madingley Hall informieren. Das Militär hatte Notverordnungen ausgegeben, die exakt diese Situation betrafen.

Brooke jedoch fand die Chance, dem Feind Auge in Auge gegenüberzutreten, reizvoll.

»Erzählen Sie mir von dem Schuss«, sagte er.

»Nun ja, zuerst hat er gebrüllt. Hat gesagt, er will raus und ich hätte nichts zu befürchten. Ich habe gesagt, ich würde die Polizei rufen. Dann hat er mir Geld angeboten, fünf Pfund, damit ich ihn laufen lasse. Er hat gesagt, das wäre alles nur ein großer Irrtum. Er hat viel erzählt, also habe ich ihn ignoriert.«

»Dann hat er also Englisch gesprochen?«

Mr Reed nickte. »Wenn er ein Spion ist, muss er das wohl.«

Edison kehrte von einem Erkundungsgang zurück. »Alles klar, Sir. In der Hintergasse hält ein Constable Wache, und dann ist da gleich die Bahnlinie, vor der ein zwei Meter hoher Drahtzaun steht.«

»Und dann hat er die Waffe abgefeuert, richtig, Mister Reed?«, hakte Brooke nach.

»Völlig richtig. Da ist eine Lücke in der Türfüllung, um Luft reinzulassen, und ich schätze, er hat sich gedacht, so eine Attacke könnte hilfreich sein. Ist an der Hausrückseite abgeprallt. Er hat gesagt, ich soll ihn rauslassen, oder er würde sich befreien und schießen. Dummes Zeug, der geht nirgendwohin. Allerdings wird er wohl mehr als eine Kugel haben, darum bleibe ich hier.«

Brooke nahm Reed das Gewehr ab, gab es Edison und ging zur Verandatür hinaus. Die Sonne brach durch die dahintreibenden Wolken, und ihr Licht malte den Garten in prächtigen Farben.

Brookes Schritte waren auf dem Rasen kaum zu hören. Als er die Walze erreicht hatte, setzte er sich mit dem Rücken zu ihr ins Gras. Die Metalltrommel wärmte sich bereits in der Sonne auf. Wer immer in dem Bunker steckte, er war keine zwei Meter entfernt, also musste er die Stimme nicht erheben.

»Hier ist Detective Inspector Brooke«, sagte er und hörte, wie jemand sein Gewicht verlagerte. »Borough Police. Ich bin kein Experte, aber ich würde sagen, es gibt keinen anderen Weg aus dem Bunker raus als den durch diese Tür, und vor der liegt eine Tonne Eisen, die Ihnen den Weg versperrt. Wir haben zwanzig Officers auf der Straße und in der Hintergasse auch, außerdem ein Platoon bewaffneter Soldaten. Ich kann das Ding nicht wegrollen, ehe Sie die Waffe rauswerfen. Wenn Sie sie also durch die Lücke schieben?«

Lange herrschte Schweigen. Eine Katze lief über den Rasen und fing an, eine der Beetpflanzen zu fressen. Ein Güterzug rumpelte auf den Schienen vorüber.

Die silberne Kugel fing Brookes Blick ein, als sie in das Gras fiel, gleich gefolgt von vier weiteren.

»Ich kann die Waffe nicht rauswerfen. Das ist alles, was ich an Munition habe.«

Die Stimme klang schrill, als würde ein Sterbender um Wasser bitten. Was, wenn er log? Ein Anruf in Madingley Hall würde ihm ein Platoon Soldaten liefern, die den Bunker umstellen könnten.

Er stand auf, trat den Ziegel weg und zog die Walze einen Meter zurück.

Kaum öffnete er, da sah er sich auch schon einer undurchdringlichen Dunkelheit gegenüber. Er nahm die Brille ab, und für einen Moment haderte er mit seiner Entscheidung, als er das Licht sah, das sich in einem Waffenlauf spiegelte. Dann hörte er das unverkennbare metallische Klicken einer Kammer, die weitergedreht wurde. Angespannt wich er zurück und hörte, wie der Hahn gespannt wurde.

Ein Gesicht tauchte im Licht auf. Es war Turl, der Lastwagenfahrer aus der vergangenen Nacht. Er zeigte Brooke die Waffe: Es war ein Revolver, und die Kammern waren leer.

Dann öffnete er seine andere Hand, in der eine Kugel lag.

»Alter Trick. Man muss immer eine in Reserve haben. Sie haben Glück. Ich habe keine Lust, für den Mord an einem Polypen zu baumeln. Aber ich hab drüber nachgedacht …«