Blenheim House war eine imposante Vorstadtvilla aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer Veranda, deren Dach auf zwei Säulen ruhte, und einer riesigen Glyzinie, die sich so über die Fassade ausbreitete, dass die Fenster freigeschnitten werden mussten. Major Joelyn Stone hatte das Haus vor sechs Wochen auf den ersten Blick gefallen. Zwar waren in Madingley Hall Offiziersquartiere bereitgestellt worden, aber seine Frau hatte ihm ihren Beschluss kundgetan, dass sie gedenke, sich während des Krieges vor Ort häuslich niederzulassen. Stone selbst hatte das Gefühl, das Haus würde ihre gesellschaftliche Position um eine ebenso elegante wie selbstbewusste Aura bereichern, was es zu einer passenden Residenz für den stellvertretenden Kommandanten machte. (Swift-Lane, sein Vorgesetzter, stammte aus Cambridge und lebte mit seiner Familie in einer Villa ganz in der Nähe.) Besonders die Fassade hatte Stone als reizvoll empfunden, doch sein gut entwickelter Sinn für Selbsterkenntnis hatte ihn bewogen, sich rasch den anderen Attributen des Hauses zuzuwenden: Da gab es einen schönen Speiseraum, eine renovierte Küche und Waschküche sowie einen elektrischen Fahrstuhl, der groß genug für die Mutter seiner Frau und ihren Rollstuhl war.
Der Bataillonsfahrer steuerte den Dienstwagen in einem weiten Bogen über den Kies. Mit rasch auf und nieder schnellenden Knien rannte Stone die halbrunden Stufen zur Tür fast hinauf. Die Tür stand offen in der Herbsthitze, und die Eingangshalle war erfüllt von dem Geräusch tickender Uhren.
Zwei Schritte auf einmal nehmend hastete er die Treppe ins Obergeschoss hinauf.
Auch die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau war offen, und er hörte Stuhlbeine über den Boden raspeln, als sie sich von ihrem Schreibtisch wegdrückte.
»Bleib ruhig sitzen«, sagte er. »Der Wagen wartet. Ich muss zum Tribunal und darf mich nicht verspäten.«
Zwei Ersatzuniformen hingen in seinem Ankleideraum.
Einundzwanzig Jahre war es her, seit er die beiden Finger an seiner rechten Hand verloren hatte. Sein Mittelfinger war bei dem Schuss auch schlimm verletzt worden, aber den hatte der Militärchirurg retten können, allerdings war die Narbe hässlich, weshalb er stets eine Fingerhülse trug. Ursprünglich war es nur eine Leinenhülle gewesen, aber er hatte einen Juwelier beauftragt, ihm eine Messinghülse mit einer dezenten Gravur des Regimentsabzeichens anzufertigen.
Eine Uniformjacke mit einer Hand zuzuknöpfen gehörte zu den vielen Fertigkeiten, die er über die Jahre erlernt und stets verfeinert hatte. Hätte er die Zeit gehabt, so hätte er ein Bad genommen und sich den Schmutz und Staub des Tages vom Leib gewaschen. Aber das Gericht tagte um eins, und er war stets pünktlich.
Er betrachtete sich in dem mannshohen Spiegel.
Stellte Brooke, der Detective vom Borough, eine Bedrohung dar? Stone war mit seinen Plänen an einem Punkt angelangt, an dem er keine Komplikationen brauchen konnte. Ein toter Zivilist war misslich, aber das Kriegsministerium schien geneigt, das beiseitezuschieben. Für den Moment konnte er weiter nichts tun, als sicherzustellen, dass die notwendigen Papiere im Eiltempo zusammengestellt wurden. Der Bericht für das Ministerium, die Stellungnahme des Untersuchungsrichters, sein Protokoll für den CO: Alles lag bereits vor.
Das Problem war, dass Brooke ihm seltsam beharrlich erschien. Das Getue mit den getönten Gläsern passte ihm überhaupt nicht. Obwohl er nur ein Provinzpolizist ohne erkennbaren Verstand war, verströmte er Hochmut und Ungeduld. Hätte er Uniform getragen, hätte Stone unterdrückte Insubordination vermutet.
In seiner frisch gewaschenen Uniform ging Stone die Treppe hinunter, an deren Fuß er auf Margaret traf, die genau da stand, wo sie so häufig stand, unter dem lebensgroßen Gemälde ihres Vaters. Stone war dem General nie begegnet, aber die liebevoll gemalten Insignien und Orden auf dem Bild erzählten die Geschichte seines Schwiegervaters in beispielhafter Deutlichkeit. Bei einem längst vergessenen Scharmützel in Indien war er in Artilleriefeuer geraten und zu einem toten Helden geworden. Die letzte Ehre, der Starburst-Orden in Silber und Gold, war ihm posthum verliehen worden, dennoch hatte der Künstler ihn auf des Generals imposanter Brust abgebildet.
»Vergiss die Atkinsons nicht, Joelyn. Heute Abend um sieben. Es gibt Lammschulter, dein Lieblingsessen.«
Ohne weiter auf sie zu achten trat er vor einen schmalen Spiegel und richtete seine Krawatte. Irgendwo im Gebäude war der Fahrstuhl unterwegs, denn sie konnten hören, wie sich die Ketten im Schacht bewegten.
»Mutter möchte ausgehen«, sagte seine Frau, was irgendwie zu implizieren schien, dass er sich vor einer Pflicht gedrückt hatte. Die Ehe mit Margaret hatte ihm ein Vermögen eingebracht und dazu den unbezahlbaren Vorzug, der damit verbunden war, Teil einer berühmten Militärfamilie zu sein. Bis jetzt hatte Stone es allerdings versäumt, diese Privilegien auszunutzen.
»Dann also gegen sechs, sechs Uhr dreißig«, sagte sie.
Eine fünfminütige Fahrt über laubbedeckte Wege brachte Stone in die Stadt, vorbei an einer Straßensperre, die den Zivilverkehr von der Station Road fernhielt. Dahinter konnte er eine Reihe Feuerlöschfahrzeuge und eine Wolke grauen Rauchs sehen, der über Kew’s Mill in der Luft hing, dort, wo der brennende Ballon heruntergekommen war.
Ein paar glänzende Militärkarrieren waren auf Tapferkeit, Initiative oder Intelligenz aufgebaut, die meisten jedoch auf der Befähigung, sich bedeckt zu halten. Die drei verirrten Sperrballons stellten einen schweren Schlag für Stones Reputation dar, die eigentlich besagte, dass er seinen Dienst so gewissenhaft wie unauffällig verrichtete. Andererseits gehörte Schadensbegrenzung an sich auch zu den militärischen Tugenden.
Der Wagen glitt auf den Hinterhof des Schwurgerichts. Die hohen, mit Dornen besetzten Mauern strahlten die Herbsthitze ab, die den ganzen Tag über zugenommen hatte, sodass Stone sich beim Aussteigen dazu verführen ließ, einen Finger der linken Hand unter seinen gestärkten Kragen zu schieben.
Das Mittagessen war eine Vergünstigung, die zusammen mit Sherry und Wein im alten Judge’s Lodgings serviert wurde. Kalter Schinken, ein grüner Salat und mehlige Moorkartoffeln, angerichtet auf einer silbernen Platte, erwarteten ihn auf einem edlen Tisch in dem von Bücherregalen gesäumten Raum. Stones Knöpfe spiegelten sich in der polierten Oberfläche. Die beiden anderen »Richter« des Tribunals waren ein Labour-Ratsherr und eine Frau vom WVS, dem Freiwilligendienst für Frauen, die im Großen Krieg einen Krankenwagen gefahren hatte. Die Unterhaltung war bieder, inspiriert von den Morgennachrichten im Radio, in denen ein vorläufiger Zeitplan für die Einführung der Rationierung bekannt gegeben worden war.
Der Gerichtsschreiber klopfte dreimal, und sie nahmen sich einen Moment Zeit, um sich zu sammeln. Die Frau sprach ein Gebet, was Stone als Zumutung empfand, dennoch senkte er sein Kinn auf die Brust. Jenseits der Tür lag ein feuchter holzverkleideter Korridor, dessen Biegung sie im Halbkreis zu einem steinernen Bogen und einer mit grünem Stoff bezogenen Tür führte. Ein Saaldiener erschien und schaltete unterwegs das Licht an. Sie folgten ihm – die Dame zuerst – als von drinnen »Erheben Sie sich!« erklang.
Die Verfahrensliste war auf jeder Schreibunterlage ausgelegt worden: die zehn Namen von Männern, die sich als Kriegsdienstverweigerer registrieren lassen wollten. Es war Stones Aufgabe – ein temporärer Posten, den er einer Erkrankung verdankte – zusammen mit seinen beiden Beisitzern jeden der zehn Antragsteller einer von vier Kategorien zuzuordnen:
Bewaffnete Streitkräfte
Nichtkombattanten der bewaffneten Streitkräfte
Registrierter Kriegsdienstverweigerer unter Vorbehalt
Registrierter Kriegsdienstverweigerer ohne Vorbehalt
Stone studierte die Namen und blickte auf, als der erste Mann hereingerufen wurde. Sie kamen und gingen, ein jeder erhielt seine Einstufung und musste sich zur weiteren Bearbeitung den Schreibern vorstellen, die in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes saßen. Alles in allem erschienen sie ihm in ihrer Überzeugung, dass Krieg amoralisch sei, aufrichtig zu sein. Seine eigene Erfahrung an der Westfront hatte ihn gelehrt, dass es nicht viel Courage erforderte, ein Gewehr zu halten und in einem Schützengraben zu hocken. Furcht hatte eine lähmende Wirkung auf die menschliche Psyche. Was ihn geängstigt hatte, das war die schreckliche Verantwortung, die damit einherging, seine Männer anzuführen. Den Feind anzugreifen, als Erster aus der Deckung zu kommen, das erforderte ein seltenes Maß an Tapferkeit. In einer gewissen Weise waren die vor ihm stehenden Männer, die von vielen als Feiglinge eingestuft wurden, ebenfalls Anführer, die sich aus der Sicherheit der Masse hervorwagten.
Eine Stunde später wurde der letzte Name aufgerufen.
»John Christopher Childe.«
Die Besuchertribüne war voll besetzt, und Stone fielen mehrere Frauen und zwei kleine Kinder auf. Childe saß auf der Anklagebank und blickte nervös zur Richterbank empor. Stones Herz setzte einen Schlag aus; er erkannte den Mann auf Anhieb. Er war ihm erst an diesem Morgen auf der Treppe begegnet, als er Veras Haus verlassen hatte.