Brooke saß allein im Vernehmungsraum des Spinning House und wartete darauf, dass Turl, der Lastwagenfahrer, der vom Castle Hill geflüchtet war, aus der Zelle hergebracht wurde. Die Möblierung war auf eine schon brutale Weise utilitaristisch. Sie bestand aus einem Tisch, an dem auf einer Seite zwei Stühle für die Officers standen, die die Befragung durchführten, und auf der anderen ein dritter für den Gefangenen. In der Ecke befand sich ein weiterer Stuhl für den Pflichtverteidiger. Eine einzelne kahle Birne hing über dem Tisch, und durch ein schmales Lanzettenfenster fiel ein wenig Tageslicht von Norden ein. An der südlichen Wand klebte ein großer Stadtplan, der enthüllte, wie der in den Bergen im Süden entspringende Fluss die Innenstadt wie mit einer Schlaufe umfing, ehe er nordwärts schwenkte und seinen Weg zu den Fens und zum Meer fortsetzte.
Zwanzig Jahre waren verstrichen, seit er in der Wüste in Gefangenschaft geraten war, aber in Räumen wie diesem bekam Brooke noch immer feuchte Hände.
Die Luft war durchsetzt von der spröden Ahnung vergangener Spannungen. Für Brooke waren die Regeln, die seine Peiniger aufgestellt hatten, zum Albtraum geworden. Sie besagten, dass er Antworten zu liefern hatte, es ihm jedoch nicht freistand, selbst Fragen zu stellen. Bei Tag hatten sie ihn an ein altes Wagenrad gefesselt und es in den Sand gelegt, sodass er zum Himmel hinaufsehen musste. Bei Nacht hatten sie ihn in eine Zelle ohne Licht gesteckt und zu unvorhersehbaren Zeiten herausgeholt und über einen kurzen Korridor in einen Raum gezerrt, der sich, von dem Fenster abgesehen, kaum von diesem unterschied. Was ihn heimsuchte, wenn er doch einmal schlief, war das lebhafte Gefühl, er befände sich in diesem Raum und nähme den üblen, erdigen Geruch seines eigenen Körpers war, angefüllt mit dem elektrischen Prickeln der Furcht.
Man hatte ihn in der Ruine einer alten Telegrafenstation neben einer aufgegebenen Bahnlinie festgehalten. Die Verhöre wurden in einem Keller am Ende einer kurzen Treppe mit steinernen Stufen durchgeführt. Die grelle Lampe mit dem spiegelnden silbernen Schirm befand sich hinter den Befragern; die Männer, die ihn verhörten, wechselten häufig, aber das Licht war eine Konstante, und so bekam er nie ihre Gesichter zu sehen. Gegen Ende seiner Gefangenschaft war die elektrische Lampe für ihn mit der Sonne verschmolzen, sodass er das eine vom anderen nicht mehr zu unterscheiden wusste. Das Licht beider Quellen bohrte sich gleichermaßen in seine Augen, passierte die glasige Hornhaut und die schmerzende Netzhaut und drang tief in sein Gehirn.
Aus der Ferne riss ihn das Geräusch marschierender Soldaten auf der Regent Street aus seinen Gedanken. Er atmete tief durch und schlug den Bericht auf, der vor ihm auf dem Tisch lag. Edison hatte die Fortschritte hinsichtlich der drei beschlagnahmten Lastwagen vom Castle Hill zusammengefasst. Der prosaische Stil des Sergeants war recht langweilig, aber akkurat: Die Kennzeichen waren falsch, die Firma – Turl’s of York – ein Schwindel, ebenso sämtliche Dokumente der Fahrer, die sie in den Kabinen gefunden hatten. Die relevanten Papiere waren dem Verkehrsministerium zugeschickt worden, um prüfen zu lassen, ob noch an anderen Orten des Landes Fälschungen ähnlicher Art aufgetaucht waren. Die Motoren aller drei Laster waren in erstklassigem Zustand und regelmäßig aufwendig gewartet worden. Einer der Laster hatte einen Tank, den man mit einem Stück Altmetall geflickt hatte, in das eine Seriennummer und der Schriftzug LOXLEY GARAGE gestanzt worden waren.
Die Verwaltung im Spinning House bestand aus drei jungen Damen, die sich die Büroarbeit teilten. Sie waren angewiesen worden, den Polizeidienststellen in Manchester, Liverpool, Leeds, York und Nottingham telegrafisch eine Zusammenfassung der Fallakte zu schicken. Edison hatte eine Anfrage mit Dringlichkeitsvermerk hinzugefügt, in der die einzelnen Dienststellen gebeten wurden, in den örtlichen Adressverzeichnissen nach »Loxley Garage« zu suchen. Außerdem hatte er einen Fotografen kommen lassen, der ein Porträtfoto des Gefangenen Turl anfertigen sollte, das anschließend per Post weitergeleitet würde.
Chief Inspector Carnegie-Brown, Brookes Vorgesetzte, hatte hilfreicherweise ein weiteres Dokument zu seiner persönlichen Erwägung über die interne Post geschickt. Jean Carnegie-Brown war eine Rarität – eine in der Hierarchie hochstehende Frau, die zum Borough versetzt worden war, um dort den Posten des Chief Inspectors zu übernehmen, nachdem sie zwanzig Jahre lang in Glasgow in Uniform gedient hatte. Im Großen Krieg hatte ihr akademischer Grad aus Edinburgh – im Fach Germanistik – sie dazu befähigt, als Übersetzerin zu arbeiten und Kriegsgefangene zu verhören. Dieser Widerhall von Brookes Leidenszeit im Krieg sorgte dafür, dass ihre seltenen Begegnungen stets von einer nervösen Anspannung begleitet waren.
Carnegie-Brown war eine tüchtige Bürokratin, und Memos waren ihre Lieblingswaffen. Das Dokument, das sie in Brookes Eingangskorb geleitet hatte, trug die Signatur des Innenministers und appellierte an alle Polizeikräfte, auf das Entstehen eines Schwarzmarkts unter dem Einfluss des organisierten Verbrechens zu achten. Angesichts der Rationalisierungspläne von Whitehall sollten sie Zwischenfällen im Zusammenhang mit Kraftstoff, Zucker, Eiern oder Frischfleisch besondere Beachtung zukommen lassen.
Carnegie-Brown hatte in ihrer typischen, gestochen scharfen Schrift oben auf der Seite einige Zeilen eingefügt:
Innenministerium über drei Laster von Castle Hill informiert. Erwarten täglichen Fortschrittsbericht. Höchste Priorität erforderlich im Sinne der nationalen Sicherheit. Kopien an Sir Philip Game.
Brooke streckte die langen Beine aus und schloss die Augen. Sir Philip war der Commissioner der Metropolitan Police, und Brookes Erfahrung nach war es nicht förderlich, bei irgendeiner Untersuchung die Aufmerksamkeit von Scotland Yard zu erregen.
Eine Minute später saß ihm Turl, der Lastwagenfahrer, gegenüber. Er fläzte sich auf seinen Stuhl, während Edison die Routinefragen stellte: Name, Anschrift, Identität der anderen Fahrer, die Namen derjenigen, die den Wagenzug organisiert hatten. Denn genau das war es, eine Kolonne mit Schwarzmarktfleisch.
Turl machte den Mund nicht auf. Nun konnten sie verstehen, warum er auf sein Recht verzichtet hatte, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen.
Sie bohrten weiter. Bestimmungsort? Vergütung? Soweit es darum ging, die Triebfeder für das Verbrechen auszumachen, standen sie vollends auf verlorenem Posten. Gab es noch andere Fahrzeugkolonnen? Wo sollte das Fleisch gelagert werden? Das war der Trick dabei, es ging nicht darum, jetzt den Markt damit zu fluten, sondern darum, den richtigen Krieg abzuwarten und den Beginn der Fleischrationierung. Großtechnische Kühlanlagen waren selten. Gefrieranlagen sogar noch seltener. Die Nacht war kalt gewesen und die Laster gut isoliert, trotzdem konnte ihr Bestimmungsort nicht mehr als eine Nachtfahrt entfernt sein.
Turl beobachtete sie aus klugen Augen. Die Rolle, die er auf Castle Hill gespielt hatte, als er mit beiden Händen einen öligen Lumpen geknetet hatte, war etwas gewichen, das weitaus vielschichtiger war: In seinen ruhelosen Augen spiegelte sich eine lebhafte Intelligenz, die sehnigen Hände sprachen von tödlicher Präzision, auch wenn die derzeit nur zum Drehen einer Zigarette diente.
Brooke und Edison stellten ihm in einem Zeitraum von fünfzehn Minuten mehr als hundert Fragen, ohne eine einzige Antwort hervorzulocken.
Endlich stellte er selbst eine Frage.
»Wozu ist die Brille?« Mit einem Nicken deutete er auf Brooke, der sich in dem sanften Licht, das durch das Lanzettenfenster hereinfiel, für die leicht getönten ockerfarbenen Gläser entschieden hatte.
Brooke nahm sie ab. Seine Augen waren so fahl, sie sahen aus wie Eis. Turl senkte den Blick und tat, als würde er sich auf das Zigarettendrehen konzentrieren.
»Dazu, in die Seelen von Parasiten wie dir zu schauen«, sagte Brooke. »Ich würde an deiner Stelle so viel wie möglich aus dieser Kippe rausholen. Wenn wir nicht bald Antworten bekommen, ist das deine letzte.«
Edison, der gerade an seinem Tee nippte, nickte zustimmend.
»Haben Sie die anderen geschnappt?«, fragte Turl, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und kippelte auf den hinteren Stuhlbeinen. »Wenn die stillgehalten hätten, wären wir vielleicht davongekommen. Aber Ginger ist getürmt. Nev ist direkt hinterher, was? Haben es beide nicht geschafft, unter Druck die Nerven zu behalten. Dafür werden sie bezahlen.« Dieser Gedanke lockte ein Lächeln hervor. »Falls – nein, wenn Sie sie finden, dann sind nur noch verkohlte Leichen übrig, das kann ich Ihnen sagen. Verbrannt. Aber Sie werden sie noch identifizieren können, das ist schon klar. Anderenfalls hätte es ja keinen Sinn, nicht wahr? Das ist unsere Spezialität. Wie nennt man das noch? Unser Markenzeichen. Tod durch Feuer.«
Es war stets eine Offenbarung, jenes Ausmaß, bis zu dem Gefangene glaubten, sie könnten reden, ohne wesentliche Informationen zu offenbaren. Sie begriffen einfach nicht, dass diese Art von Fang-mich-wenn-du-kannst-Spielchen schlicht die dem Verbrechen zugrunde liegenden Strukturen aufdeckte. Nun war klar, dass die Fahrer, die geflohen waren, die Bande verraten hatten, weil sie die Nerven verloren hatten. Turl selbst sah sich hingegen als das standhafte Opfer ihres Verrats.
»Ist es das, was dich erwartet?«, fragte Brooke. »Eine Exekution?«
Turl schüttelte den Kopf. »Mich nicht, Chef.«
Er grinste Edison an. »Wie alt ist der Opa?«, fragte er.
»Wie dumm bist du eigentlich?«, sagte Brooke und sah für eine halbe Sekunde Ärger in den Augen des Mannes aufblitzen. »Ich glaube, du bist sehr dumm. Du bist ein Lakai. Was ist das schon?«
Turls Gesicht war nun völlig unbewegt. »Ein Gefolgsmann eines mächtigen Mannes«, antwortete er.
Brooke setzte die Brille wieder auf. »Ein unterwürfiger Gefolgsmann. Ich glaube, du hast deinen Platz in der Welt aus den Augen verloren. Du bist nur ein kleines Rädchen in einer großen Maschine. Ich bin nicht überzeugt, dass die Tatsache, dass du den Kopf nicht verloren hast, als alle um dich herum es getan haben, schwer genug wiegt, wenn am Ende abgerechnet wird.«
Edisons Füller kratzte über das Papier, als er etwas notierte.
»Schreibt der das alles auf?«, wollte Turl wissen.
»Alles bis auf das Folgende.«
Edison legte den Stift weg.
»Du hast mich auf eine Idee gebracht«, sagte Brooke.
Turl versuchte sich an einem Lächeln und zupfte einen Tabakfaden von seiner Lippe.
»Wir werden erst noch ein bisschen mehr herausfinden. Dieses Foto von dir macht bereits die Runde. Leeds, was? Bradford? Manchester? Wie auch immer. Wir werden Glück haben. Und dann verbreiten wir, dass du uns mit einigen Namen und Adressen geholfen hast. Und wenn wir dann tatsächlich Namen herausfinden, dann werden wir sicherstellen, dass man dir das Verdienst daran zuschreibt. Dann können die sich überlegen, was sie mit dir machen, wenn du rauskommst. Das wird in fünf Jahren sein, vielleicht auch schon früher. Darauf kannst du dich freuen, wenn du nachts auf deiner Pritsche liegst. Das wird ein Dilemma: Willst du fünf Jahre lang deine Zeit absitzen und dir wünschen, sie wäre endlich vorbei, damit du rauskommst? Oder willst du fünf Jahre lang hoffen, sie würde nie vorbeigehen, wegen dem, was dich draußen erwartet? Wenn du dann endlich zum Gefängnistor hinausgehst, wird da ein Wagen warten, eine Packung Zigaretten, eine Flasche Whiskey, eine langbeinige Blondine auf dem Rücksitz. Aber sie werden dich nicht nach Hause fahren. Wo werden sie es wohl machen? In einer Werkstatt vielleicht, und dann was? Ein Hieb mit dem Schraubenschlüssel auf den Kopf und dann das Feuer, oder verbrennen sie euch bei lebendigem Leib? Wie sieht ihr Modus Operandi aus?«
Turl zog an seiner Selbstgedrehten und blinzelte nicht einmal, als ihm der Rauch in die Augen stieg.