KAPITEL SECHZEHN

Die Abenddämmerung senkte sich über den Mill Road Cemetery, als Chris Childe, der Kriegsdienstverweigerer, vor dem Grab seiner Eltern kniete. Es war mit einem flachen Stein abgedeckt, während sich rundherum ein gotischer Tumult aus kunstvoll gemeißelten Grabmalen voller Efeu und Statuen erhob. Eine Schwarzdrossel thronte auf dem Kopf eines Engels und sang ihr Lied. Die beiden doppelflügeligen Eisentore waren verschlossen, aber der Friedhof war seit dem letzten Krieg verwahrlost, und die Mauer war kein ernsthaftes Hindernis mehr für jemanden, der außerhalb der Öffnungszeiten die Verstorbenen besuchen wollte.

Er sah zur Uhr. Er war schon spät dran für das wöchentliche Treffen der Ortsgruppe der Partei, also stand er auf und strich sich das tote Laub von der Hose. Sie sollten ruhig ohne ihn anfangen und die eintönigen Formalitäten hinter sich bringen, ehe er einträfe, um für einen Moment seinen Platz im Rampenlicht einzunehmen. Vera hatte den Brief, und sie hatte versprochen, ihn nach London zu schicken, aber aus irgendeinem Grund hatte er festgestellt, dass er außerstande war, ihr voll und ganz zu vertrauen. Da war etwas an ihrer forschen, tüchtigen Art, das ihm das Gefühl vermittelt hatte, ein Narr zu sein, unbedeutend, und sogar benutzt zu werden.

Im Gegensatz dazu war das Urteil des Tribunals befreiend gewesen. Er war nun vorbehaltlos als Kriegsdienstverweigerer anerkannt und frei, sein Leben so zu führen, wie er es wünschte. Was bedeutete, er konnte das Nachrichtenblatt, dass sie der Peace News beizulegen planten, redigieren und drucken. Hunderte, womöglich Tausende von Kopien würden in der Stadt verteilt werden.

Die bloße Aussicht gab ihm neue Kraft und gebar eine berauschende Idee. Der Brief konnte nach London reisen; er hatte seine Pflicht gegenüber der Partei erfüllt. Aber heute Abend würde er den Inhalt vor seinen Parteigenossen offenbaren, und er würde noch weitergehen – er würde die Geschichte in dem Nachrichtenblatt drucken und dafür sorgen, dass auch die örtliche Zeitung sie brachte. Binnen Tagen, womöglich binnen Stunden, würde er sich einen Namen machen und sich eine Fußnote in der Geschichte des Landes sichern.

Er zwang sich, ein letztes Gebet zu sprechen, während er am Fuß des ebenen gravierten Steins stand. Er war mit dem Emblem des Machine Gun Corps dekoriert: zwei der bedrohlichen Waffen, die sich unter einer Krone kreuzten. Sein Vater George hatte während des Großen Krieges gedient, der Höhepunkt eines ansonsten trübsinnigen Lebens. Das einzige Symbol, das für seine Mutter stand, war ihr Name: Jennifer Maud McCulloch. Sie hatte, ganz nach schottischer Art, darauf bestanden, dass ihr Mädchenname für die Inschrift verwendet wurde – ein letzter, unbedeutender Sieg über einen gewalttätigen Mann, den sie gehasst haben musste.

Als Kind hatte er die blauen Flecke gesehen, doch nie die Schläge, bis zu jener Nacht, als er zehn Jahre alt gewesen war. Er hatte sie aus dem Spread Eagle die Gothic Street heraufkommen hören. Es war Sommer, das Fenster halb offen, also hatte er hinausgeschaut. Kein Wort wurde gesprochen. Sein Vater war vorausgegangen und stand nun unten auf der Straße, wartete auf seine Mutter, die sich beeilte, um aufzuschließen. Ein Streit im Pub, das, was er gern als »Aufbrausen« bezeichnete, hatte zweifellos dazu geführt, dass man ihn hinausgeworfen hatte.

Als seine Mutter die Tür erreicht hatte und nach dem Schlüssel suchte, schlug er von der Seite zu. Mit der flachen Hand und aller Kraft, sodass sie in die Gosse flog. Auf Knien suchte sie verzweifelt in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, während er wartete, sich an einen Laternenpfahl lehnte und »The Happy Clown« pfiff – die offizielle Marschmusik des Machine Gun Corps.

Childe trat zurück und dachte über Gewalt nach und darüber, dass sie nicht rückgängig gemacht werden konnte, dass sie Wogen des Hasses und des Bedauerns hervorbrachte. Gewalt war, was ihn veranlasst hatte, Stellung zu beziehen und für den Frieden einzutreten, und auch das hatte Auswirkungen, zog Kreise, erreichte andere Menschen.

Ein Schritt hinter ihm, ganz in seiner Nähe, jagte ihm eine Gänsehaut über den Leib. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch eine Gestalt aus dem Augenwinkel. Ein einzelner Schritt, der Arm angespannt, das ölige Klicken eines Abzugs; er hörte den Schuss, der ihn tötete, nicht einmal, und wenn da auch noch eine verweilende Ahnung von Bewusstsein war, sackte sein Körper doch zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten worden waren.

Ein Bild, das im Sinne einer Reihe von miteinander verbundenen elektrischen Signalen in seinem Gehirn existiert hatte, erlosch flackernd: Er hatte sich selbst gesehen, an der Druckerpresse, in der Hand das noch feuchte Nachrichtenblatt mit der Sensationsgeschichte auf der Titelseite.

Eine Hand glitt in seine Jacke, durchsuchte seine Taschen.

Gewiss, sein Sehvermögen war mit dem Tod seines Gehirns erloschen. Aber das letzte Bild spiegelte sich noch in seinen leeren Augen: sein eigenes Blut, ganz nah an seiner Wange, das sich ausbreitete und allmählich die Lettern im Namen seines Vaters füllte.