Doric reichte Brooke ein Glas Rotwein aus dem Weinkeller und dazu eine Scheibe Blue Stilton. Der Portier führte im Kerzenlicht seine Inventur der Schlüssel durch; ein alltäglicher organisatorischer Vorgang, den er jedoch irgendwie mit der geheimnisvollen Aura einer uralten Zeremonie zu tränken verstand. Michaelhouse war georgianisch mit einigen hässlichen viktorianischen Ergänzungen, aber Dorics Gefühle erstreckten sich in eine mythische Vergangenheit. Er würde nie zulassen, dass sich die Geschichte seiner Liebe zu dem College in den Weg stellte.
Alle paar Minuten unterbrach er die Dokumentation der Schlüssel, um einen Zug auf dem Schachbrett zu machen.
»Irgendwas Neues über die Londoner, die unten am Fluss Gruben ausgehoben haben?«, fragte Brooke, bemüht, für einen Moment das Rätsel um Ernst Lux’ Tod und die Identität des Mannes, den sie aus Byron’s Pool gefischt hatten, beiseitezuschieben.
»Duke of Cambridge’s Own, jetzt nennen sie sich das Middlesex Regiment.«
»Ja, ich weiß, Doric. Aber was haben die gemacht?«
»Langfristige Flugabwehrmaßnahmen. Haben gerade nix zu tun, also geben sie sich jetzt alle der Erschöpfung hin. Ist auch nicht das erste Mal. Und sie können es nicht leiden. Jenner, der Portier vom Trinity, geht in The Duke. Der Wirt da ist ein Cockney, ich schätze, darum fühlen sich die Soldaten da wie zu Hause. Jenner sagt, die beklagen sich ständig. Die, die daran schuld sind, das sind die hohen Tiere oben auf Madingley. In deren Auftrag melden sich die Jungs ständig als Freiwillige für irgendwelche Extrapflichten. Vierzehn Tage lang haben sie Gräben in Parker’s Piece ausgehoben, und jetzt buddeln sie ein verdammt großes Loch für die Fundamente eines Bofors-Geschützes an der London Road. Die ganze Nacht sind die zugange. Alle paar Wochen kommen sie dann wieder zu dem Ufer, das Sie meinen. Immer bereit, sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen, aber das wird wohl alles nur Gerede sein.«
Brooke zog seinen Läufer. »Ich weiß, dass sie Löcher buddeln, Doric. Ich möchte wissen, was die da reinpacken.«
»Jenner hat gesagt, sie würden den Mund nicht aufmachen, wenn man ihnen Fragen stellt. Zuhören ist eine Sache, fragen eine andere. Er hält die Ohren offen, aber versprechen kann er nichts«, erklärte Doric und pfiff durch die Zähne.
Schweigend spielten sie noch weitere zwanzig Minuten, doch Brooke war in Gedanken nicht bei dem Spiel. Das Rätsel um Dr. Lux’ Schuhe und Socken überlagerte die Komplexität der Vorgänge auf dem Schachbrett.
»Irgendwas Neues wegen Ihrer Situation?«, fragte er und zwang sich, einen Zug zu tun, schob einen Turm hinüber in feindliches Territorium.
Die Reorganisation der Aufgabenbereiche des Colleges ragte so bedeutend über Dorics Leben auf wie das Gebäude selbst.
»Morgen treffen sich die Kollegen. Drei von der Tagesschicht sind schon rausgeflogen, also könnte mir das auch passieren. Oder sie schaffen nur Platz, und ich ende selbst im Tagdienst …« Unverbesserlicher Fatalist, der er war, zuckte er mit den Schultern.
Brooke hatte ihn nie gefragt, gegenüber welchem speziellen Aspekt des Konzepts Tag er solch eine Aversion hegte. Während seiner Armeezeit war Doric Sergeant Major seines Regiments gewesen. Ein Alphatier. Bei Nacht war er wieder sein eigener Herr, also war ihm vielleicht einfach der Gedanke unerträglich, von Leuten wie dem Oberpförtner herumkommandiert zu werden.
Brooke musterte das Schachbrett, kam zu dem Schluss, dass seine Lage hoffnungslos war, kippte den König um, schnappte sich seinen Hut vom Garderobenständer und wünschte Doric eine gute Nacht.
Noch hatte es keinen Fliegeralarm gegeben, folglich herrschte auf den Straßen geschäftiges Treiben. Autos, die aus ihren Schlitzaugen lugten, fuhren vorüber, ständig auf der Suche nach der weißen Linie am Randstein. Drei Fahrräder, unbeleuchtet, aber klingelnd, rasten vorbei, als würde er überhaupt nicht existieren. An der Ecke bei der Round Church sah er Jo Ashmore oben auf ihrem Beobachtungsposten, wie sie mit dem Feldstecher den Westrand der Stadt beäugte.
Brooke beeilte sich, erpicht darauf, den Teestand auf dem Platz zu erreichen, ehe sich irgendwer irgendwo einbildete, er hätte feindliche Flugzeuge gesehen, und das ganze Durcheinander der vergangenen Nacht von vorn losginge. Wenn die Bomben irgendwann wirklich fallen, dachte er, als er gerade Market Hill betrat, sind wir abgehärtet gegen die Vorstellung, in Trümmern zu sterben. Dann gehen die Sirenen los, und niemanden kümmert es noch.
Rose King stand hinter ihrer Theke, und ein Rudel Soldaten scharte sich in dem Lichtschein, der auf die Steinplatten des Platzes hinausdrang. Krieg war Roses Metier. Er erlaubte es ihr, ihre Genialität, wenn es darum ging, kurzfristig massenhaft Leute zu bewirten, unter Beweis zu stellen. Konfrontiert mit fünfunddreißig Soldaten, die eines Tees bedurften, stellte sie die Becher in einer Reihe auf, schüttete Milch hinein und zog dann die emaillierte Kanne über die ganze Reihe. Sie hielt über jedem Becher inne, richtete sie aber nie so weit auf, dass das dunkle Tannin versiegte. Der Tee schwappte nur so, aber auf geschickte Weise.
Auf einem Grillteller hatte sie das ganze Angebot an frittierten Speisen zusammen mit den stärkenden Standardzutaten für ein gutes englisches Frühstück arrangiert: Würstchen, Schinken, Röstbrot, Pilze, halbe Tomaten. Eier, die schon recht schwer zu bekommen waren, lagen in ihren Kartons und warteten auf eine ausdrückliche Bestellung. Aber die Soldaten, die zweifellos knapp bei Kasse waren, wollten sich über den Tee hinaus nicht verleiten lassen, und zogen stattdessen weiter zu den Bänken im Kirchhof von Great St. Mary’s.
»Da ist er ja«, sagte Rose, als sie Brooke sah, »der Held der Nacht. Was zu essen?«
»Ein Schinkenbrot, Rose. Und Tee.«
Mitte fünfzig und von einem arbeitsreichen Leben auf ihren zwei Füßen ermattet, erweckte Rose dennoch ständig den Eindruck, eine besondere Vorstellung abzuliefern, ganz so, als wäre die offene, rechteckige Klapptür ihres Standes ihre eigene Bühne. Ein buntes Kopftuch bändigte das graue Haar, von dem sie eine Strähne zurücksteckte, als sie Brookes Tee einschenkte.
»Setzen Sie sich, ich bringe es Ihnen raus. Ich könnte auch eine kleine Pause vertragen«, sagte sie mit einer unangezündeten Zigarette im Mundwinkel.
Vor dem Teestand war ein halbes Dutzend runder aus einem Pub geborgener Metalltische aufgebaut worden, die von passenden schmiedeeisernen Stühlen komplettiert wurden.
Rose brachte ihm das Sandwich auf einem Teller und setzte sich zu ihm. Sie streckte die Beine aus und benutzte den rechten Schuh, um sich den linken vom Fuß zu hebeln und die zappelnden Zehen in ihrem Strumpf zu befreien. Dann zündete sie sich die Zigarette an und balancierte sie auf der Unterlippe.
Da sah Brooke, was sie in der Hand hielt: eine große Porzellantasse, die sie mit geradezu religiöser Hingabe schwenkte, ganz so, wie ein Priester den Kelch säubern mochte, ehe er den letzten Wein vom Abendmahl trank. Den größten Teil der Flüssigkeit schüttete sie in den breiten Rinnstein, ehe sie die Tasse so kippte, dass das Licht aus ihrem Stand hineinfiel.
Nun folgte der übliche Hokuspokus, und Brooke hörte so gutmütig zu, wie er nur konnte. Wie es schien, zeichnete sich eine Schlange in den Teeblättern ab. Oder war es im Weiß zwischen den Teeblättern? Wie dem auch sei, eine Schlange verwies auf Falschheit. Ein Haus von nicht spezifizierter Bauart deutete auf Tod hin.
Roses Schuhe, kraftvoll von den Füßen getreten, lagen auf dem Pflaster. Einer war auf Sohle und Absatz gelandet und zeigte direkt auf sie, während der Zweite auf der Seite lag und in die andere Richtung wies. Pumps, abgetragen bis an den Punkt vollständiger Vernichtung, weshalb sie ein wenig aufklafften.
Getrennt von den Füßen ihrer Eignerin und voneinander gewannen sie auf sonderbare Art an Bedeutung.
Brooke nippte an seinem Tee. Als er damit fertig war, wusste er, wie Ernst Lux gestorben war. Die Frage war nur, wo.