KAPITEL ZWANZIG

In dem Jahr, das Brooke als Student zugebracht hatte, ehe er sich mit einer Ausgabe der Ilias in der hinteren Tasche auf den Weg zum Rekrutierungsbüro begeben hatte, hatte er sich die Räume im College mit einem anderen Studenten der Naturwissenschaften namens Peter Aldiss geteilt. Intelligenz ist eine Eigenschaft, die viele Leute abstrahlen wie Funkwellen. Aldiss war ein Beispiel für das Gegenteil. Jeder, der ihn nur flüchtig kannte, würde vermuten, dass er die Weisheit nicht gerade mit Löffeln gefressen hatte. Eine gewisse generelle Behäbigkeit in Wort und Glied schien anzudeuten, dass sich auch seine mentalen Prozesse extrem langsam vollzogen. Er brauchte lange, um irgendetwas zu sagen, und oft war das, was dann herauskam, recht profan. Aber er war ein unerbittlicher Logiker und ein Füllhorn an brillanten Ideen, wenn es um akribisch betriebene Experimentalforschung ging.

Folglich war es ein Schock für Brooke gewesen, eines Sommerabends im Jahr 1913 festzustellen, dass Aldiss ein verwegenes Geheimnis wahrte.

Es hatte Hinweise gegeben: die nächtliche Abwesenheit, das plötzliche Wiederauftauchen am frühen Morgen, die Gruppe ziemlich blasierter Freunde mit den kalten Augen, die stets jegliches Gespräch abrupt beendeten, wenn Brooke ihnen in einer Bar über den Weg lief. Verraten hatten ihn jedoch seine Schuhe; ein Paar markanter Turnschuhe, die Brooke eines Nachts am Fuß eines der steinernen Pfeiler des Colleges entdeckt hatte, abgelegt hinter einer gestutzten Hecke, die Socken im Inneren verstaut.

Schließlich hatte er seinen Freund darauf angesprochen. Es geschah während eines trinkfreudigen Mittagessens in einem Wirtshaus auf dem Lande, eine Woche, bevor beide in den Auslandseinsatz aufbrechen sollten. Brooke würde nach Kairo gehen, Aldiss nach Westafrika. Der Wissenschaftler, deutete Brooke an, gehörte einer geheimen Bruderschaft an, deren Mitglieder man in mondbeschienenen Nächten vor der dunklen Silhouette des Colleges sehen konnte, wie sie verbotenerweise Pinakel, Kapellen und Türme erklommen. Heimlich, denn bei solchem Tun erwischt zu werden barg das Risiko eines Verweises von der Universität, kombinierte derartiges Verhalten doch zwei inhumane Tugenden: eine eisige Ruhe im Angesicht des Todes und Hände und Füße, so kraftvoll wie Schraubstöcke.

Die »Nachtkletterer« hausten in einer beinahe legendären Dimension und gehörten einem elitären Club von begabten Abenteurern an, die den Tod nicht fürchteten. Brooke hatte Menschen dieses Schlages von jeher gering geschätzt in Anbetracht der Tatsache, dass ihre Leidenschaft eine mangelnde Anerkennung des Werts ihrer eigenen Menschlichkeit offenbarte. Sich nicht um den Tod zu scheren, hatte etwas extrem Arrogantes an sich.

Brooke hatte auch nach dem Krieg noch Kontakt gehalten, und vor Kurzem hatte Aldiss mit einer Reihe nächtlicher Experimente begonnen – oder, genauer, mit einem fortlaufenden Experiment auf einer rollierenden Vierundzwanzig-Stunden-Basis. Für dessen Durchführung musste er – bildlich gesprochen – sein Zelt im Labor aufschlagen. Der Wissenschaftler erforschte die Mysterien des zirkadianen Rhythmus, der eingebauten inneren Uhr, sei es die eines Menschen oder die einer Fruchtfliege. Das war eine Arbeit, die erst kürzlich die Aufmerksamkeit von Whitehall geweckt hatte, wo man darum kämpfte, aus Arbeitern – und Soldaten –, die sich vier Tage ohne Pause abrackern mussten, ein Maximum an Effizienz herauszuholen. Brooke hatte Aldiss schlicht auf die Liste seiner Nachteulen gesetzt und besuchte ihn, wann immer er konnte. Dabei machte er sich die Tatsache zunutze, dass der Forscher die neuesten Wissenschaftsmagazine für seine Studenten ausgelegt hatte. Und Brooke mochte zwar seine formalen Studien hinter sich gelassen haben, dennoch war er in vielerlei Hinsicht noch immer ein eifriger Student.

In manchen Nächten, wenn Brooke sich meldete, brachte Aldiss ihn in den bleiverkleideten Raum mit den Lampyridae, den Leuchtkäfern. Dort standen sie dann gemeinsam im Dunkeln, umkreist von den leise summenden grünen Lichtern, bis Aldiss die Sonnenlampe einschaltete. Jedes Mal musste Brooke, obwohl er sich die Augen abschirmte, für einen Moment das unfassbar grelle goldene Sonnenlicht verkraften.

Derzeit stand Aldiss mit einem Becher Tee in Händen da und nickte mit dem plumpen Kopf, der seit ihrer gemeinsamen Studentenzeit sämtliches Haar verloren hatte.

Aber er hatte Brookes Frage nicht beantwortet, also wiederholte der sie.

»Ich sagte, triffst du dich manchmal noch mit Dollis, dem Chemiker, der Heroin genommen hat?«, fragte er erneut, während er in der Oktoberausgabe von Science blätterte.

Dollis hatte Aldiss’ geheime Leidenschaft geteilt: Sie waren beide Nachtkletterer gewesen.

Aldiss blinzelte träge. »Glasgow, denke ich, arbeitet an Patronenhülsen.«

»Ah, da gibt es viel zu klettern. Die Highlands sind nur ein Stück die Straße hinauf«, bemerkte Brooke. »Wie steht es mit dir? Oder haben dir die Jahre die Waghalsigkeit ausgetrieben?«

»Von Großtaten dieser Art habe ich schon vor langer Zeit Abstand genommen, Brooke. Außerdem gab es nach Polen Gerede. Männer starben – und bald würden unsere Männer sterben. Junge Männer sollten kämpfen oder ihre Studien fortsetzen, solange diese dem nationalen Interesse dienten. Es war nicht in Ordnung, dass sie ihr Leben bei etwas aufs Spiel setzten, das die Obrigkeit als Dummejungenstreich betrachtet.« Er nippte an seinem Tee. »Das Verbot ist eindeutig: Jeder Student, der auf einem Dach erwischt wird, ist draußen. Für immer. Nicht mehr dieser Unsinn mit der Suspendierung für ein Semester.«

Draußen regnete es, und das Gurgeln der Bleirohre hatte eine der bekanntesten Hintergrundmelodien von Cambridge wieder zum Leben erweckt.

»Mein Problem«, sagte Brooke, »ist, dass ich einen jungen Mann in der Leichenhalle des Galen habe, und ich glaube, er könnte nach einem schlimmen Sturz gestorben sein. Er ist barfuß gestorben, Peter. Ein junger Mann, den du vielleicht sogar kennen könntest: Ernst Lux.«

»Der Amerikaner. Guter Gott – tot?«

»Ja.«

Aldiss zeigte geradewegs in die Luft hinauf. »Doktor Franks Laborant. Fünfte Etage, bei den Biochemikern. Er hatte Interesse an meinen Glühwürmchen und ist runtergekommen, um sie sich anzusehen. Seine Arbeit war für die Regierung ebenfalls von gewissem Interesse, anderenfalls wäre er inzwischen längst wieder zu Hause. Heutzutage hat man nicht viel Geduld mit Dingen, die keinen Beitrag leisten …«

Brooke nickte. »Wenn du kannst, würdest du da mal nachhaken? Die genaue Art dieses Beitrags könnte hilfreich sein.«

»Ich werde es versuchen, aber eines der vielen Probleme mit dem Krieg ist, wie du wissen wirst, dass Fragen zu stellen als unpatriotisch gilt. Wir sollen Befehle befolgen. Bist du sicher, dass er geklettert ist? Ich habe Gerüchte gehört, denen zufolge es eine kleine Gruppe von Kletterbegeisterten geben soll … aber ich dachte, das wäre nur Tresengeschwätz.«

»Ich bin ziemlich sicher. Du bist damals barfuß geklettert; ist das die bevorzugte Methode?«

Aldiss nickte. »Ja, ein paar von uns haben Schuhe getragen, aber ohne ist es viel sicherer.«

»Lux’ Schuhe waren am falschen Fuß, und die Socken hat ihm auch jemand anderes angezogen. Sein Leichnam wurde am Flussufer gefunden, an einer Stelle, die um die dreihundertfünfzig Yard vom nächsten Gebäude entfernt sein muss. Da dürfte also mehr dahinterstecken, meinst du nicht? Ein Sturz, eine Gruppe Kletterer und der Versuch, die ganze Sache zu vertuschen. Ich weiß von den drakonischen Strafen. Aber was, wenn ein paar beschlossen haben, sich der Herausforderung trotzdem zu stellen? Immerhin macht doch das Risiko den Reiz an der Sache aus. Welche größere Gefahr, abgesehen davon, sein Leben zu verlieren, könnte es geben, als den Verlust deines Platzes in dieser Elfenbeinwelt mit all ihren schillernden Vorzügen?«, sagte Brooke und fuhr fort: »Bleibt noch eine Frage: Wo finde ich diese neuen Kletterbegeisterten?«