Jenseits der Wache im Spinning House hingen an einem mit Haken besetzten Brett die Schlüssel des Reviers. Brooke nahm einen kleinen Bund mit der Kennzeichnung WERKSTATT an sich und erkundigte sich nach dem Gefangenen Turl. Der Sergeant ging das Protokoll durch. »Ich habe zu jeder vollen Stunde nach ihm gesehen, Sir. Hat sein Abendessen um sechs gegessen. Tee hatte er auch, um acht. Der Arzt hat ihn heute Morgen untersucht. Anscheinend ist er physisch gesehen ein Prachtexemplar.«
Brooke dachte an die Geschwindigkeit, mit der er von dem Schauplatz am Castle Hill davongelaufen war und nickte. Mit einem Finger tippte er auf das Dienstbuch. »Irgendwelche Vorfälle, Sergeant?«
Das Wichtigste war schnell erzählt: ein Feuer in einem schmalen Durchgang in der Stadt, vermutlich vorsätzlich gelegt. Ein zerbrochenes Schaufenster an der Girton Road, aber es war nichts gestohlen worden. Und ein Schuss, den mehrere Leute an der Mill Road gehört hatten, früher am Abend, gegen Viertel nach sieben. Zwei Constables waren von Tür zu Tür gegangen, um die Leute zu befragen, hatten aber nichts in Erfahrung bringen können.
»Ich bin in zehn Minuten zurück und sehe nach dem Gefangenen, Sergeant«, sagte Brooke, ehe er zur Hintertür hinaus in den Hof des Reviers ging. Eine alte Wellblechgarage nahm eine Seite des viereckigen Hofs ein. Brooke öffnete das Vorhängeschloss mit dem passenden Schlüssel und rollte das Sektionaltor in seinen Metallschienen hoch. Das Licht der Leuchtstoffröhren fiel auf die drei Lastwagen vom Castle Hill.
Seine Begegnung mit den Nachtkletterern im St. Radegund hatte ihn frustriert und verärgert. Sollte er innerhalb von vierundzwanzig Stunden keinen Anruf erhalten, so würde er Maßnahmen ergreifen: Ein Besuch im College und eine Nacht in der Zelle mochten dazu beitragen, dass sich die jungen Leute mit den Konsequenzen befassten, die sie sich einhandelten, wenn sie sich weigerten, die Polizei bei ihren Nachforschungen zu unterstützen.
Inzwischen erwies sich das fortgesetzte Schweigen von Turl als unerträglich. Brooke war fest entschlossen, ihm die Zunge zu lösen.
Er stand an einer offenen Ladeklappe und bemühte sich, die Ausdünstungen des toten Fleischs nicht einzuatmen. Der sachkundige Konsens lautete, dass die Tiere innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden gestorben waren, die Schlachtkörper waren von guter bis ausgezeichneter Qualität und fachmännisch von einem geschulten Schlachter für den Versand vorbereitet worden.
Dass aus dem Krieg Profit geschlagen wurde, war eine hässliche Wahrheit. Schwarzmarkt sagte einfach alles: nebulös, böse, schändlich. Er dachte an seinen Sohn in Frankreich. Lukes letzter Brief hatte wehmütig geendet …
Wenn es losgeht, kann ich nicht schreiben. Wir werden ständig in Bewegung sein, und Geschwindigkeit ist alles. Sag Mum, sie soll sich keine Sorgen machen, ich bin hart im Nehmen. Es gibt Gerüchte über einen Urlaub zu Weihnachten.
Er sammelte eine Werkstattlampe vom Rand der Grube unter einem der Laster auf und schlang sich das sechs Meter lange Elektrokabel über den Arm.
Am Kopf der steinernen Wendeltreppe zu den Zellen trat er sich die Schuhe mit den verräterischen Blakeys von den Füßen und tappte dann geräuschlos die einundzwanzig Stufen hinunter. Ein schwacher Lichtschein aus dem Treppenhaus fiel in den kurzen Korridor zu den sechs verschlossenen Zellen. Nachdem er die Lampe in eine Steckdose in der faulenden Vertäfelung eingestöpselt hatte, näherte er sich Turls Zelle: Nummer fünf.
In den zwanzig Jahren seiner Dienstzeit im Spinning House hatte er die diversen Zellen tausendmal entriegelt. Jedes Schloss funktionierte ein wenig anders, aber ihre jeweiligen Eigenheiten waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen, sodass die Tür von Zelle fünf unter einer Drehung seines Handgelenks in nicht einmal einer Sekunde aufflog und gegen die Ziegelmauer im Inneren krachte.
Im selben Moment schaltete Brooke die Lampe an.
Turl stand wie erstarrt vor dem Hintergrund seines eigenen Schattens, während ein Betttuch im Begriff war, seinen Fingern zu entgleiten. Brooke ließ sich Zeit mit dem Reden. Er wusste, dass der Mann in diesem Moment keine Ahnung hatte, wer sich hinter dem Licht verbarg.
Der Gefangene rührte sich nicht. Später sollte Brooke sich fragen, ob er auf eine Kugel gewartet hatte oder auf ein Klappmesser in den Eingeweiden. Sein Gesicht offenbarte die ehrliche Überzeugung, dass sein Tod unmittelbar bevorstand.
»Immer locker bleiben«, sagte Brooke.
»Schlaft ihr Leute denn nie?«, fragte Turl. »Was ist das? Der dritte Grad?«
Brooke schnappte sich den Stuhl und stellte ihn auf die Schwelle, während Turl sich wieder auf seine Pritsche setzte. Sie waren knappe zwei Meter voneinander entfernt. Brooke steckte die Lampe in eine Wandhalterung, die einst eine Kerze enthalten hatte.
»Wir haben noch ein paar unbeantwortete Fragen«, sagte er.
Sie hatten Turls Tabak und seine Drehmaschine konfisziert, als sie ihn festgesetzt hatten, aber Brooke hatte sie aus der Kiste mit seinem Eigentum geholt.
Er drehte eine Zigarette, bot Turl aber keine an.
Der reckte eine Hand hoch, um sich vor dem hellen Lichtschein zu schützen. »Das ist nicht sehr höflich, Inspector. Hier gibt es eine Lampe …« Er deutete auf die einsame Glühbirne.
»Schmuggel von Schwarzmarktfleisch ist ein schäbiges Verbrechen«, sagte er. »Es ist unprofessionell, sich bei einer Ermittlung von persönlichen Belangen beeinflussen zu lassen, aber mein Sohn ist in deinem Alter, und er lagert derzeit draußen an der belgischen Grenze und wartet darauf, dass der Krieg losgeht.«
Er reichte Turl die frisch gedrehte Zigarette zusammen mit einer Packung Streichhölzer. »Ich dachte, wir unterhalten uns mal zwanzig Minuten lang. Danach kannst du schlafen. Und dann komme ich wieder. Vielleicht heute Nacht. Vielleicht morgen Nacht. Oder wir verkürzen diese Sitzung hier auf zehn Minuten. Wenn du mir eine Frage beantwortest. Dann kannst du dir von mir aus auch zehn Kippen drehen. Ein besseres Angebot wirst du nicht erhalten.«
»Sagen Sie mir, wie die Frage lautet, wenn Sie einen Handel mit mir schließen wollen.«
»Dein Vorname. Dein echter Vorname.«
Turl ließ die Hand sinken und kniff die Augen zusammen. »Jack.«
»Kurz für?«
»Für gar nichts. Er lautet Jack.«
»Also gut, ich glaube dir, Jack. Während du dir deine Zigaretten drehst, erzähle ich dir eine Geschichte. Im letzten Krieg geriet ich in Palästina in Gefangenschaft«, begann Brooke. »Es war meine eigene Schuld. Ich hatte einen Plan ausgeheckt, um die Türken zum Narren zu halten. Ganz im Stil von The Boy’s Own Paper. Wir würden Gaza von Westen aus angreifen, und wir wollten den Feind dazu bringen, einige seiner Leute zur Verteidigung der östlichen Flanke abzustellen. Wir bastelten ein paar verschlüsselte Dokumente und eine Karte, die auf einen Angriff von dort hindeuteten. Wir wussten, dass sie unsere Codes geknackt hatten, aber sie wussten nicht, dass wir das wussten.
Kurz und gut, mein Plan war es, diese Befehle in feindliche Hände fallen zu lassen und dann wie durch ein Wunder zu entkommen. Der erste Teil hat funktioniert. Ich wartete mit den kodierten Dokumenten in der Satteltasche an einer Oase, bis eine türkische Patrouille in Sicht kam. Ich ließ sie ein-, zweimal schießen und bin weggeritten. Ich hatte mir von unserem Arzt eine Flasche mit Blut geben lassen, also war es einfach, eine Wunde zu fingieren und die Satteltasche zu verlieren. Danach sollte ich mich am Pferd festklammern und zurück zu unseren Linien fliehen. Ich hab’s nicht geschafft.
Sechs Tage habe ich in der Wüste zugebracht und wurde Tag und Nacht verhört.«
Er legte eine Pause ein, richtete seine getönte Brille, während Turl sich eine Zigarette anzündete.
»Haben Sie denen die Wahrheit gesagt?«, fragte Turl, die Augen im hellen Lichtschein zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.
»Am Ende, nach sechs Tagen, habe ich ihnen eine Lüge erzählt.«
»Das war tapfer.«
»Es war wichtig. Wir haben am nächsten Tag im Westen angegriffen, die türkischen Linien brachen zusammen, und die Straße nach Jerusalem war frei. Der König hat mir einen Orden verliehen.«
Turl neigte den Kopf.
Brooke lachte. »Als ich in der Nacht von der Lampe angeleuchtet wurde, in einer Zelle wie dieser, war ich nicht allein. So habe ich überlebt. So habe ich es überstanden. Es war ein Geist an meiner Seite. Ein Mann, den ich geliebt und bewundert habe. Mein Vater. Er hat einmal Tausende von Leben gerettet, als ich noch ein Kind gewesen war, und ich sah dies als meine Chance an, es ihm gleichzutun. Zu ihm aufzuschließen.«
Turls Zigarettenrauch hing wie eine Wolke über seinem Kopf.
»Was haben die gemacht, als der Angriff losging und sie gemerkt haben, dass Sie sie belogen haben?«, fragte er.
»Sie haben mir ins Knie geschossen, um sicherzustellen, dass ich nicht zu meinem Bataillon zurückkonnte, und dann haben sie mich in der Wüste zum Sterben liegen lassen. Sie sagten, ich würde als Futter für Aasfresser enden, für Wildhunde und Schakale. Sie erklärten mir, dass die mich bei lebendigem Leibe auffressen würden. Oder ich würde verdursten.«
Brooke holte seinen Flachmann hervor und trank einen Schluck kühles Wasser.
»Fühlt sich gut an, was? Prahlen«, sagte Turl.
Brooke lächelte. »Ich erzähle dir das, weil ich nicht angefangen habe, meine Kerkermeister zu hassen. Und ich hoffe, du wirst mich ebenfalls nicht hassen. Wir waren einfach Feinde, und es war Krieg. Es gibt viele Arten des Krieges. Das hier ist auch ein Krieg, Jack. Du und ich. Das ist mein Krieg. Es ist nichts Persönliches, aber ich nehme das sehr ernst.«
Eine Sehne an Turls Kinn wölbte sich vor, als er Nikotin in seine Lunge saugte.
»Siehst du, es hat da noch eine Planänderung gegeben. Wenn ich nicht bald Antworten erhalte, dann, so habe ich beschlossen, werden wir, sobald wir deine Heimatstadt oder dein Heimatdorf gefunden haben, Anklage erheben, dich vor Gericht bringen und dann auf Kaution rauslassen. Und bist du erst frei und streifst dort durch die Straßen, so werden deine Freunde dich schon schnell genug finden.«
»Das können Sie nicht machen«, sagte Turl, ehe ihm aufging, dass er zu viel preisgegeben hatte, indem er seine Angst offenbarte.
Brooke lächelte. »Ich werde die Regeln für dich ein bisschen beugen, Jack. Ehe wir dich gehen lassen, werden wir deutlich machen, dass du sehr hilfreich für uns warst. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit. Dein Kamerad ›Nev‹, der hat diesen Gedanken nicht ertragen können. Wir haben ihn im Fluss gefunden, einen Mauerstein in jeder Tasche. Ich frage mich, ob du wohl in Versuchung geraten wirst, die gleiche Abkürzung zu nehmen. Eine Kaution von einem Fünfer dürfte dir die Freiheit erkaufen. Ich zahle, wenn es dazu kommt. Wir könnten auch eine Spendensammlung veranstalten. Ich dachte, es wäre nur fair, dich das wissen zu lassen, damit du Zeit hast, alles zu durchdenken. Das wird passieren, Jack. Es wird dir passieren, und zwar bald.«
Brooke stand auf und schaltete das Licht aus.
»Ich werde dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen«, sagte er und schloss die Tür.