Ein einzelnes Fenster gestattete einen begrenzten Blick auf ein Labyrinth aus Formschnitthecken und eine Statue von Neptun, die in einem moosbewachsenen steinernen Brunnen im Licht der Morgensonne badete. Die Gärten von Madingley Hall lagen gleich dahinter, zogen sich in eine blaue Ferne, und ein paar Spitztürme erhoben sich aus dem Dunst der Stadt.
Brooke saß auf einem von einem Dutzend Stühlen in einem Korridor, der zu einer polierten Tür führte. Eine halbe Stunde zuvor hatte er noch auf dem elften Platz im Gang gesessen und darauf gewartet, dass er an der Reihe wäre, nachdem ihn zu Hause ein Fahrer des Militärs in einem schwarzen Wagen abgeholt hatte. Der Mann hatte um sieben an seine Tür geklopft und ihm nahegelegt, dass er ein bisschen Zeit mitbringen sollte, um den kommandierenden Offizier oben in Madingley Hall über eine Angelegenheit zu »unterrichten«, die für die Polizeitruppe des Borough von Relevanz sei. Nun, eine Stunde später, saß er auf dem ersten Stuhl.
Einer der erhellenden Aspekte des Krieges war, dass er so manche Wahrheit über bestehende Machtgefüge offenbarte. Er war gerufen worden, und er hatte gehorcht.
»Brooke?« Captain Kerridge tauchte in der Tür auf. »Sie sind dran«, sagte er und fügte flüsternd hinzu: »Wir kennen uns nicht, Eden.«
Der Raum des kommandierenden Offiziers war groß, womöglich ein Speisesaal aus den Tagen mittelalterlicher Pracht. Nun jedoch stand nur ein Tisch vor einem Erkerfenster, das einen atemberaubenden Blick über die Stadt ermöglichte. Der Kontrast zu Major Stones stickigem Büro war enorm. Die Army war eine Organisation, die Macht exakt in die Hände jener legte, die ein Amt innehatten. Stellvertreter waren nur für den Notfall gedacht und dienten darüber hinaus dazu, Anweisungen innerhalb der Befehlskette weiter nach unten zu reichen und sich emsig durch den Papierkram zu arbeiten. Dies hier war das Büro eines allsehenden Befehlshabers.
Ein kleiner sehniger Mann in einer makellosen Uniform schüttelte Brooke die Hand, setzte sich auf einen Stuhl und bot seinem Gast ebenfalls Platz an. Die entwaffnende Formlosigkeit sorgte dafür, dass der Inspector erst recht auf der Hut war. Kerridge zog sich diskret ein Stück weit zurück und begann, an einem Beistelltisch einige Papiere durchzugehen.
»George Swift-Lane«, stellte der CO sich vor und ließ, wie Brooke nicht entging, wohlbedacht seinen Titel aus, um dem Detective das Gefühl zu geben, es gäbe keinerlei Grund zur Nervosität. Das frisch rasierte Gesicht mit den rosigen Wangen wurde von Augen aufgewogen, die erste Zeichen der rheumatischen Trübung fortgeschrittenen Alters aufwiesen. Swift-Lane hatte sich beim Rasieren geschnitten, und drei Baumwolltupfer zeugten von seinen Bemühungen, die Blutung zu stoppen. Der Mann verströmte eine jungenhafte Energie, die gut zu seinem schlanken Körperbau passte, wirkte aber auch ein wenig zappelig. Die Farbe seines Haars war irrelevant infolge des aufgetragenen Öls, das alles, was da war, fest an den schmalen Schädel klatschte.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er; sofort bekam Brooke ein ungutes Gefühl. Höflichkeit als Vorspiel von autoritärer Rohheit war eine englische Spezialität. Der Kontrast zwischen diesem geschäftigen, schelmischen Offizier und Major Stone, seinem schwerfälligen, bürokratischen Stellvertreter, war bemerkenswert.
Brooke neigte den Kopf zur Seite. »Swift-Lane, der Name kommt mir bekannt vor.«
Die Wirkung, die seine Worte auf das Gesicht des Colonels erzielten, war erschreckend. Sofort zeigte sich ein Ausdruck tiefen Hasses in seinen Augen, und die Farbe wich aus den Schuljungenwangen.
»Ein Bruder im Kabinett, der andere ist Admiral oder so was. Jungs spielen eben gern mit Booten. Ich selbst habe nach dem letzten Krieg ein paar Amateurforschungen betrieben, vorwiegend in der Arktis. Das ist in die Zeitungen gelangt. Ich trage eben einen dieser Namen … Aber kommen wir zur Sache.« Swift-Lane blickte auf eines der drei Telefone auf seinem Schreibtisch. »Ich habe den Chief Constable angerufen und möchte nicht, dass irgendjemand denkt, es wäre meine übliche Vorgehensweise, Leute zu übergehen. Aber dies ist eine äußerst heikle Angelegenheit.«
Der Colonel kniff die Augen zusammen, vielleicht aufgrund von Brookes souveräner Weigerung, die Stille zu füllen, die nach seiner Erklärung eingetreten war. Im Vorzimmer tippte jemand mit der stetigen Geschwindigkeit von Maschinengewehrfeuer.
»Sie werden schon ahnen, womit wir es hier zu tun haben. Die Idee ist einfach. Whitehall-Ministerien, die in der Hauptstadt in Gefahr sind, einem Angriff ausgesetzt zu sein, werden nach Cambridge verlagert. Wir versuchen, die verschiedenen Streitkräfte zusammenzubringen. Das Land ist in Regionen zerbrochen, und jede wird im Falle eines Angriffs sozusagen ihre eigene Hauptstadt haben. Cambridge wacht über den Osten.
Wir gehen derzeit davon aus, dass die Deutschen nächstes Jahr angreifen werden. Dann wird der Krieg erst richtig beginnen. Das Ende vorherzusagen, ist weitaus schwieriger. Dies wird ein schnelllebiger, technisch geprägter Schlagabtausch. Wir könnten isoliert werden. Das Risiko ist gering, aber wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein. Auf das Undenkbare: eine Invasion.«
Er ließ den Gedanken in der Luft hängen.
»In diesem unwahrscheinlichen Fall werden die Regionalregierungen Realität. Unter militärischer Kontrolle. Wir müssen bereit sein. Ich sage Ihnen das alles, weil wir Ihnen vertrauen. Ihre Akte spricht für sich.«
Geduld und Macht gingen in der militärischen Psyche nur selten ein Bündnis ein. Swift-Lanes gefaltete Hände lösten sich voneinander und schienen ihn förmlich auf die Beine zu treiben. Er stolzierte zum Fenster und blickte hinaus in den Garten.
»Sie haben Fragen über die Arbeiten auf St. John’s Wilderness gestellt«, sagte er, ohne sich zu Brooke umzudrehen. »Ein offizielles Auskunftsersuchen ist auf meinem Schreibtisch gelandet.« Nun drehte er sich um und sah Brooke an. »Lassen Sie das fallen. Das lenkt nur ab und wird nicht wieder vorkommen. Wie soll ich mich ausdrücken? Ein Tätigkeitsbereich, eine Verteidigungslinie, wurde aufgegeben. Zwar wurde hier daran gearbeitet, aber nun wird die Sache nach Oxford verlegt. Es wird keine weiteren Vorfälle geben. Der Chief Constable war sehr entgegenkommend, bat mich aber völlig zu Recht, mich direkt an Sie zu wenden. Was ich nun gern tue, und dies ist eine Bitte, Brooke. Wir sind schließlich noch immer ein freies Land, und genau das ist, wofür wir – auf unsere jeweilige Art – alle kämpfen.«
Brooke nahm seine Brille ab und legte sie auf sein Knie. Entschlossen, direkt, augenscheinlich kompetent, war Swift-Lane in vielerlei Hinsicht das Musterbeispiel eines höheren Offiziers. In der Wüste war Brookes Leben durch ein weites Spektrum höherer Offiziere in Gefahr gebracht worden, die Dummheit mit verzweifeltem Taktieren kombinierten, um ihre eklatanten Unzulänglichkeiten zu kaschieren.
Swift-Lane setzte zum Sprechen an, doch da reckte Brooke eine Hand hoch. »Wir, die Borough-Police, sind in der gleichen Lage wie alle anderen, Colonel. Unterbesetzt und überarbeitet. Als die Gewalt im Staat, der auferlegt ist, im Zivilleben für Recht und Ordnung zu sorgen, sind wir überbeansprucht bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Nein, sogar darüber hinaus. Ich bin aufrichtig, weil ich Ihnen vertraue.«
Swift-Lane sagte nichts.
»Ich hege nicht den Wunsch, einen Zuständigkeitskonflikt zu beschwören, umso weniger einen, den zu gewinnen ich kaum hoffen kann«, fügte Brooke hinzu.
»Guter Mann«, sagte Swift-Lane und reichte Brooke die Hand, als der sich erhob. »Captain Kerridge wird Sie hinausbegleiten.«
»Sie hatten mich gebeten, Sie zu erinnern, Sir«, sagte Kerridge.
»Natürlich.« Swift-Lane schlug einen Ordner auf seinem Schreibtisch auf und zog ein einzelnes maschinenbeschriebenes Blatt daraus hervor, das er Brooke reichte.
»Ihr Chief Constable erwähnte einen verwirrenden Fall mit einer Kolonne von Lastwagen … Schwarzmarkt ist die eine Sache, mit ein paar Lammkoteletts unter dem Tresen rechnen wir so oder so. Und mit frischem Gemüse von den Gehöften. Wenn dieser Krieg in das zweite und dritte Jahr geht, wird das natürlich ein Problem werden: Plünderungen auf dem Lande, Hungersnot in der Stadt.«
Swift-Lane strich sich mit einem Finger über die Lippen, und Brooke nahm an, er hatte zu viel gesagt. Es war ziemlich unverkennbar, dass das Szenario einer erfolgreichen Invasion in dem Sinne, dass die Deutschen tatsächlich ihren Fuß auf britische Erde setzen würden, recht umfangreich durchgespielt worden war.
»Was wir nicht wollen – was wir nicht zulassen können, Brooke – ist, dass das organisierte Verbrechen einen Schwarzmarkt betreibt. Das würde unsere Regierung unterminieren. Die öffentliche Moral würde sinken. Wir sitzen alle in einem Boot, so lautet die Botschaft des Premierministers. Wir werden nicht dulden, dass die Reichen knappe Nahrungsmittel aufkaufen. Dies könnte helfen …«
Swift-Lane nickte, was ein bekanntes Zeichen für seinen Adjutanten zu sein schien, für ihn zu übernehmen.
»Einer unserer Männer hat sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Corporal Stanley Currie. Sie haben da alle Informationen zu ihm …« Kerridge zeigte auf das getippte Schriftstück. »Dieser Mann, Currie, wurde bei drei Gelegenheiten von der Militärpolizei wegen Vergehen befragt, die mit der Beschaffung von Benzin unter Umgehung des Rationierungssystems und dem Verkauf an private Abnehmer in Verbindung gestanden haben. Das war in den letzten drei Wochen. Er hat sich dem Militär während des Großen Krieges angeschlossen und in den Schützengräben gedient; ’siebenunddreißig wurde er dann Berufssoldat. Seither war er zweimal im Bau. Beide Male wegen eines geringfügigen Diebstahls. Beim ersten Mal waren es Zigaretten, beim zweiten Mal Gin, jeweils entwendet aus dem Kasino. Der Chief Constable sagte, diese drei Lastwagen hätten volle Tanks gehabt und keine Papiere zu dem Treibstoff. Die Männer sollen einen nordenglischen Akzent gehabt haben. Im Zivilleben hat Currie für die Werkstatt seiner Familie in Sheffield gearbeitet. An dem Morgen, nachdem Ihre Lastwagen aufgetaucht sind, hat er Madingley mit einem Passierschein in Richtung Stadt verlassen und ist nie zurückgekommen. Zufall, vielleicht, aber wie es scheint, steht er in dem Ruf, knappe Güter beschaffen zu können. Abgesehen von Benzin hat er anscheinend auch Frischfleisch im Angebot. Vielleicht ist das ja Ihr Mann vor Ort bei dieser Schwarzhandelstruppe?«
Swift-Lane tippte mit seinem Stift auf den Bogen Papier in Brookes Hand.
»Falls und wenn Sie ihn finden, so werden Sie zweifellos eigene Fragen haben«, sagte der Colonel. »Aber wir wüssten es zu schätzen, wenn Sie uns auf dem Laufenden hielten. Schwarzmarktgeschäfte fallen als strafbare Handlungen unter die Notstandsgesetze. Dass er Uniform trägt, wird ihn nicht vor der Strafverfolgung schützen. Zehn Jahre Arbeitslager, nehme ich an. Aber wir wüssten es gern, wenn Sie ihn im Sack haben. Ich persönlich, und das sage ich nur, damit ich mich besser fühle, würde den Dreckskerl erschießen.«