Der Betriebshof des städtischen Zivilschutzes, auf dem Childe sich hatte melden müssen, befand sich neben dem Bahnhof: Alte Lagerhäuser und ein nicht genutzter Zuckerrübenmarkt boten Platz für Feuerposten, Luftschutzwarte, Fahrrad- und Motorradboten und Childes Einheit, die Schwerarbeitertruppe.
Zwar hatte die Große Verdunkelung ihre Herausforderungen mit sich gebracht, und die rußgeschwärzte, rauchende Ruine von Kew’s Mill ragte immer noch über dem Gelände auf, doch bisher hatte der Sitzkrieg keine Luftangriffe gezeitigt, und trotz der allgemeinen Panik wegen einer möglichen fünften Kolonne und Spionen, die per Fallschirm auf die Insel gelangten, war Cambridge der Anblick des Feindes in jedweder Form bislang erspart geblieben.
Als er unbehelligt den Hof betrat, sah sich Brooke mit allgemeiner Ermattung, wenn nicht purem Müßiggang, konfrontiert. Ein Mann saß vor einer Hütte, die mit dem Wort MONTAGE gekennzeichnet war, und prüfte einen Reifen in einem Wasserbottich auf Löcher. Zwei Feuerposten spritzten ein Feuerwehrfahrzeug ab, schienen aber viel mehr daran interessiert zu sein, einen Hund zu erwischen, der beständig im Kreis lief. Offenbar war das Tier nicht imstande, zu entscheiden, ob es eine gute Idee war, nass zu werden. Das einzig wirklich sinnhaft Erscheinende war ein Teewagen, an dem zwei Frauen in WVS-Uniformen damit beschäftigt waren, reihenweise Becher bereitzustellen und Sandwiches zu stapeln.
In dem alten Zuckerrübenmarkt entdeckte Brooke eine teilweise verglaste Baracke, die als LABOUR OFFICE ausgewiesen war.
Ein Mann mit strähnigem aschgrauen Haar hatte die Füße auf dem Schreibtisch abgelegt.
Als er Brooke sah, faltete er die Zeitung zusammen, in der er gelesen hatte, nahm die Füße aber nicht herunter.
Brooke sagte ihm, er wolle die Person sprechen, die für den Trupp verantwortlich war, zu dem Chris Childe gehört hatte.
»Childe? Der Wehrdienstverweigerer? Der ist unerlaubt abwesend«, sagte der Mann und wälzte etwas im Mund, das aussah wie ein Klumpen Tabak.
»Ist er nicht. Der Mann ist tot«, entgegnete Brooke. »Und ich bin in Eile. Wie ist Ihr Name?«, fragte er und ließ seinen Dienstausweis aufblitzen.
»Hartnell, Oberaufseher«, sagte er und stellte die Füße auf den Boden.
Von draußen drangen Stimmen und das Geräusch marschierender Füße herein.
»Das da sind Chris’ Leute«, sagte der Mann und stand auf. »Wie ist er abgekratzt?«
»Kugel im Kopf. Wie war er so?«, fragte Brooke.
»Einzelgänger. Hatte immer ein Buch in der Hosentasche. Hat aber ordentlich gearbeitet … Eine Kugel? Gott im Himmel.«
Den Männern wurde gesagt, sie sollten sich Tee und ein Sandwich holen, und dann versammelte Hartnell sie in dem Markt und forderte sie auf, Sackleinen und alte Apfelkisten als Sitzgelegenheiten zu benutzen. Brooke zählte fünfzehn, die Hälfte davon Jugendliche, die andere Hälfte zu alt für den Dienst an der Waffe. Die meisten rauchten.
»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Chris Childe tot ist«, verkündete Brooke. »Sein Leichnam wurde heute Morgen auf dem Mill Road Cemetery gefunden. Er wurde erschossen, und wir führen nun eine Mordermittlung durch. Soweit mir seine Witwe berichtet hat, haben Sie kürzlich alle auf Parker’s Piece Grabungen ausgeführt. Das muss in der Nacht der Großen Verdunkelung gewesen sein. Ich muss wissen, was Sie dort getan haben und was Chris getan hat. Das ist wichtig.«
Ein schlaksiger, selbstsicherer Junge ergriff das Wort.
»Ne, nich’ Parker’s Piece. Das war unten am Flussufer …«
Am Flussufer? Brooke zog sein Notizbuch hervor und zwang sich, den Zeugen in seinem eigenen Rhythmus erzählen zu lassen. Er forderte den jungen Burschen auf, die ganze Geschichte von Anfang an zu berichten.
Der Trupp hatte den Betriebshof um sechs Uhr dreißig verlassen. Trotz der Großen Verdunkelung hatte man die Männer mit Laternen ausgerüstet, allerdings mit der Sorte, die mit Metallschirmen versehen war, die es erlaubten, das Licht weitgehend zu verbergen. Unter Mr Hartnells Aufsicht marschierten sie hinunter zur Magdalena Bridge und dann zum St. John’s College. Dort gestattete man ihnen, durch den Hof zur College-Brücke zu gehen, wo sie warteten.
»Die Seufzerbrücke?«, hakte Brooke nach, und der Bursche nickte. Dieses Detail hatte etwas Betrübliches. Das Original, dessen recht grobe Kopie diese Brücke war, verband den Dogenpalast in Venedig mit dem Gefängnis. Gefangene, die hinüberstapften, erhielten durch die vergitterten Fenster ein letztes Mal Gelegenheit, einen Blick auf die Schönheit der Stadt zu werfen. In der Nacht der Großen Verdunkelung musste der hiesige Ausblick jedoch furchterregend gewesen sein.
»Was ist dann passiert?«, fragte er.
»Ein Soldat hat uns abgeholt und rübergeführt.«
Hartnell hielt ein Klemmbrett bereit und reichte Brooke einen Laufzettel. Der Soldat, der die Verantwortung für die Männer übernommen hatte, war Corporal S. Currie: Swift-Lanes unerlaubt abwesender Langfinger und Möchtegern-Schwarzmarkthändler.
Brooke machte sich eine weitere Notiz. »Nur weiter, Junge«, sagte er.
Currie hatte die Männer am Ufer entlanggeführt.
»Da hat Chris diesen Sergeant gefragt, was wir denn tun würden, weil er sich nur freiwillig gemeldet hat, nachdem ihm versprochen worden war, dass er keine Kriegsarbeit verrichten muss«, erklärte der Jugendliche. »Verteidigung wäre in Ordnung, aber Töten könne er nicht unterstützen, das hat er gesagt.«
»Was hat der Soldat, dieser Corporal, geantwortet?«, wollte Brooke wissen.
»Der hat ihm gesagt, er soll die Klappe halten und weitergehen. Sie wären eine Zivilschutzeinheit, folglich wäre das auch ihre Aufgabe. Für den Zivilschutz zu arbeiten. Also sind wir alle weitermarschiert, bis wir St. John’s Wilderness erreicht haben.«
Und dort begann die Arbeit. Schon vor ihnen hatte jemand Gruben ausgehoben und aufgefüllt, denn sie konnten in der Abenddämmerung säuberlich aufgeschichtete Erdhaufen erkennen. Man wies sie an, eine frische Grube auszuheben, sechs Fuß tief. Der Soldat stellte Pfosten in vier Ecken eines Rechtecks auf, das ungefähr zwanzig mal zwölf Fuß maß.
Sie brauchten zwei Stunden, um das Loch zu graben.
»Der Corporal war ein Angeber«, warf einer der anderen Jugendlichen ein. »Konnte sich nicht beherrschen. Er hat gesagt, seine Einheit hätte die anderen fünf Gruben vor Wochen ausgehoben und aufgefüllt, aber sie hätten sich über die Arbeit beschwert, und deswegen hätte man uns für das Graben angefordert. Jemand – du, Ron …«
Ein schmaler älterer Mann, der seinen Tee umklammerte, blickte erschrocken auf, als sein Name fiel.
»Du hast gefragt: ›Was haben Sie verbuddelt?‹, und er hat gesagt, das geht uns einen Dreck an. Es wäre streng geheim. Aber das hat sich so nach Unsinn angehört, dass ein paar von uns ihm mitten ins Gesicht gelacht haben. Dann ist da ein Bote zu Fuß aufgetaucht. Die haben sich ein bisschen unterhalten, und danach hat der Corporal einen anderen Ton angeschlagen. Wir hätten richtig gute Arbeit geleistet, meinte er, und uns eine Pause und eine anständige Mahlzeit verdient. Alles gratis. Aber wohlgemerkt, er sah gar nicht zufrieden aus, er sah hundeelend aus. Und dann haben wir die Soldaten gehört, die aus der anderen Richtung das Flussufer entlangmarschierten, von der Silver Street aus. Wagenräder konnten wir auch hören. Und er auch, dieser Corporal, und da hat er uns ganz schnell in die Gegenrichtung marschieren lassen.«
Mehrere der anderen Männer beteiligten sich nun daran, ihm den Weg des Trupps durch Cambridge zu beschreiben: die Seufzerbrücke zurück über den Fluss, dann die Trinity Street hinauf und durch Market Hill, vorbei an der Getreidebörse zum University Science Quarter und weiter zu einem neuen Gebäude aus weißen Steinen.
»Das Galen Building für Anatomie?«, hakte Brooke nach.
»Das ist es«, sagte der Junge. »Genau.«
Brooke fühlte sich beschwingt, sogar schwindelig. Es war, als würde er zusehen, wie ein Puzzle sich von selbst löste. Nur dass das noch keine Lösung war, sondern lediglich zu einer neuen Reihe von Fragen führte: Welche Verbindung gab es zwischen den Gruben und den drei verlassenen Lastwagen? Und wie passte Lux, der Wissenschaftler, da hinein? Er war in jener Nacht vor seinem plötzlichen gewaltsamen Tod im Galen gewesen.
Wenn überhaupt etwas Sonderbares an der Geschichte dran war, die er hier hörte, dann war es wohl ihr Ende. Man hatte die Männer in den Keller des Galen gebracht, wo es einen Boiler gab. Dort bekamen sie ein opulentes Essen: Roastbeef, gekochte Kartoffeln, Blumenkohl und Karotten, dazu Kräuter und eine deftige Bratensoße. Jeder Teller wurde mit einer Abdeckhaube aus Metall gebracht, die dazu diente, das Essen warm zu halten, und man sagte ihnen, es sei College-Essen von bester Qualität.
Dann war Corporal Currie wieder da. Er verteilte Kopien des Official Secrets Act und erklärte ihnen, dass sie sie zu unterzeichnen hätten. Er machte ihnen klar, dass sie gemäß der Notstandsgesetze zur Landesverteidigung gehalten seien, mit niemandem über das zu sprechen, was sie in dieser Nacht getan hatten.
»Wir gehen mal davon aus, dass wir es Ihnen jedoch erzählen dürfen«, sagte der Bursche zu Brooke, und alle lachten dazu.
Currie hatte ihnen dann gesagt, man würde sie in zwei Stunden zum Betriebshof zurückbringen, aber bis dahin könnten sie es sich in dem warmen Kellerraum bequem machen.
Was sie auch taten, mit Ausnahme von Childe.
»Er ist zur Tür, als Currie sich verpisst hatte«, sagte Ron und nippte an seinem Tee. »Aber sie war verschlossen. Er hat gesagt, das könnten die nicht machen. Hat gesagt, das wäre gegen das Naturrecht. So hat er oft geredet. Er sagte, man kann ein ›Gelöbnis nicht rückwirkend ablegen‹, und darum hätte es auch keinen Sinn, irgendwas zu unterschreiben. Flinker Bursche. Er hat gesagt, wenn er das Dokument unterschreiben würde, dann würd er sowieso einen falschen Namen nehmen. ›Was soll in diese Gruben?‹ Das hat er immer wieder gefragt. Und wieder und wieder.«
Sie konnten, so der Bursche, hören, dass oben ein Film lief.
»Ein Film?«, hakte Brooke nach. »Mir hat man gesagt, dort hätte eine Vorlesung stattgefunden.«
Alle waren sich einig: Was sie gehört hatten, war eine Stimme wie aus der Wochenschau, deren Bassanteil nicht trug. Es war definitiv ein Film.
Childe hatte nach einem anderen Weg aus dem Boilerraum gesucht und war in einer Ecke über einen kleinen Lift gestolpert; beinahe ein Speiseaufzug, nur ein bisschen größer, der dazu diente, allerlei Güter in die Labore weiter oben zu befördern.
»Chris hat den Kopf in den Schacht gesteckt und gesagt, da könnte er den Film besser hören«, erzählte der Bursche. »Er hat uns rübergerufen, und er hatte recht, auch wenn ich nicht so recht schlau daraus geworden bin. Ich weiß nicht, was in Chris gefahren ist, aber er hat gesagt, er würde sich das ansehen und abhauen, wenn er konnte. Wir haben ihm gesagt, er wäre verrückt. Der Transportkorb war ganz oben im Schacht, aber er hat sich einfach das Seil gegriffen und angefangen, zu klettern. An dem Kerl war nicht viel dran, und er war auch kein Schwächling. Der ist da raufgehuscht wie eine Ratte. Es war dunkel, aber wir konnten seine Schuhe sehen, verschränkt um das Seil. Nach etwa fünfzig Fuß hat er für eine Minute angehalten, und dann ist da plötzlich helles Licht gewesen, und wir konnten sehen, wie er sich rüberbeugt und die Fahrstuhltüren auseinanderdrückt. Danach hat er sich irgendwie hinübergeschwungen und war nicht mehr zu sehen. Er mag ja ein Wehrdienstverweigerer gewesen sein, aber Schneid hatte er.«
Fünfzehn Minuten später kehrte er zurück, fuhr der Junge fort und erzählte: »Er hatte sich einen von diesen langen Haken geholt, mit denen sie die Jalousien runterziehen, und damit hat er das Seil geangelt. Wir konnten ihn gut sehen, weil er sich gar nicht die Mühe gemacht hat, die Aufzugtür wieder zu schließen. Wie gesagt, etwa fünfzig Fuß hoch, vielleicht auch mehr, und dann gleitet er mit einer Hand ab und wäre beinahe gestürzt. Der wäre mausetot gewesen, wenn er sich nicht mit der anderen hätte halten können. Aber danach klettert er einfach so runter.«
»Er hat ziemlich fassungslos ausgesehen«, fügte Ron hinzu. »Er hat dann zu uns gesagt, er hätte den Film gesehen – oder einen Teil davon, und dass es damit nicht getan wäre. Dass die Leute ein Recht hätten, zu erfahren, was los war. Es wäre genauso unser Land. Er war richtig aufgebracht. Ich hab zu ihm gesagt: ›Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen, Kumpel.‹ Und da hat er gemeint, es wäre viel schlimmer. Er hätte die Zukunft gesehen.«