KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

Edison wartete mit dem Wasp am Tor vor dem Betriebshof und putzte die Seitenspiegel mit seinem Taschentuch. Brooke setzte sich auf das Trittbrett und brachte ihn über Chris Childes abenteuerlichen Abend im Galen – oder besser, seine bemerkenswerte Besteigung des Galen mithilfe eines Warenaufzugs – auf den neuesten Stand.

»Ein Film?«, fragte Edison.

»Allerdings. Was immer er gesehen hat, es hat offenbar einen tiefen Eindruck hinterlassen. Wahrscheinlich hat er genau das in dem Brief festgehalten, den er Staunton übergab«, sagte Brooke. »Also stehen wir wieder vor der Frage: Wo ist sie?«

Edison schüttelte den Kopf. »Da rennen wir bisher gegen Mauern, Sir. Die Mädchen gehen immer noch die Wählerlisten durch. Die Frau, die die PPU leitet, sagt, Vera habe zwei Tage pro Woche morgens in dem Heim für gefallene Mädchen in Chesterton gearbeitet – ich hab schon einen Wagen hingeschickt. Es gibt da zudem ein Gerücht bei der PPU, dass Vera nachts arbeitet, wenn Sie verstehen, worauf ich hinauswill …«

Edison setzte eine missbilligende Miene auf.

»Babylon Street, jedenfalls in dem Bereich.«

Brooke stieß einen Pfiff aus. »Babylon. Gütiger Gott.«

»Gibt zu denken«, fügte Edison hinzu und rückte seine Krawatte zurecht.

Die ehrenwerte Vera Staunton, Sekretärin der Partei, war womöglich nicht die Frau, die Brooke sich vorgestellt hatte. Er dachte zurück an das Foto an der Wand von Childes Schlafzimmer; hatte er in ihren Augen eine gewisse sexuelle Freizügigkeit wahrgenommen und einfach verdrängt? Eine Adresse in der Babylon Street verortete sie jedenfalls im Herzen des hiesigen Rotlichtbezirks.

»Weisen Sie den dort zuständigen Constable an, an ein paar Türen zu klopfen«, sagte Brooke. »Und wir sollten die Grafschaft bitten, ihre Akten ebenfalls durchzugehen; auf der Suche nach Freiern könnte sie auch weitere Kreise gezogen haben. Dabei fällt mir ein, wir müssen unsere eigenen Akten überprüfen. Wir brauchen diesen Brief, Edison. Um ehrlich zu sein, ich frage mich, ob den nicht der Mörder in der Tasche hat.«

Brooke schlüpfte auf den Beifahrersitz und schloss, tief in Gedanken versunken, die Augen.

»Einen kleinen Fortschritt gibt es«, verkündete Edison während er den Zündschlüssel drehte und den gut geölten Vierzylindermotor des Wasp startete. »Unser Pathologe hat scharfe Augen«, sagte er und reichte Brooke ein getipptes Blatt Papier mit Namen und Adressen, das er aus seiner Innentasche gezogen hatte. »Das ist die heutige Liste vermisster Personen der gesamten Grafschaft. Doktor Comfort bekommt eine Kopie davon, falls eine der Personen in seiner Leichenhalle auftaucht. Beachten Sie Neville Sneeth, Manor Farm, Horningsea. Genauer gesagt, beachten Sie die besonderen Kennzeichen.«

Brooke ging die Zeilen durch, bis er Sneeths Namen gefunden hatte; daneben stand das Kürzel CTEV.

»Kongenitaler Talipes Equinovarus«, verkündete Edison stolz. »Klumpfuß, Sir.«

»Wie unser flüchtiger Lastwagenfahrer, der später in Byron’s Pool treibend gefunden wurde«, sagte Brooke.

»Genau. Und ein Bauer obendrein. Sieht aus, als hätte er eine gute Methode entdeckt, um sein Fleisch teuer zu verkaufen. Die Uniformierten haben einen Wagen losgeschickt, um seine Frau Elspeth herzuholen, damit sie den Leichnam identifiziert. Aber im Grunde kann es da kaum einen Zweifel geben«, berichtete Edison. »Ich dachte, wir könnten uns den Bauernhof mal ansehen. Wir hätten ihn jetzt ganz für uns allein …«

Edison drückte den Fuß aufs Pedal und brachte den Wasp auf fünfzig. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück, und sie schossen über eine von parallelen Pappelreihen gesäumte Straße auf das Land hinaus. Blasser Sonnenschein blitzte zwischen den Bäumen auf.

Ein Dorf, ein Pub, ein kleines bisschen Grün an einem Kriegsdenkmal, und dann waren sie wieder auf dem Land, und die Straße schlängelte sich einen kleinen Hügel am Rande der Fens hinauf.

Edison hatte sich die Karte offensichtlich gut eingeprägt, denn nun wurde er plötzlich langsamer und bog in einen Feldweg ein, der zu einem zweiflügeligen Hoftor führte. Der nächtliche Sturm hatte Streifen schwarzen Wassers in den Spurrillen hinterlassen, deren Oberfläche sich durch Motorenöl und Benzin in einem psychedelischen Farbenrausch präsentierte.

Brooke kletterte aus dem Wagen, atmete tief die Landluft ein und ging in Richtung Scheune. »Sparen wir uns das Haus bis zum Schluss auf«, sagte er zu Edison, der mit einem Paar Gummistiefeln kämpfte.

Manor Farm bestand aus dreißig Morgen Weideland auf einem Hang mit lehmhaltiger Erde. Doch es war kein Tier zu sehen, abgesehen von zwei Pferden, die, gebeugt von der Last nasser Decken, an das Tor zum ersten Acker gebunden waren. Die Scheune war im Erdgeschoss voller Roter Bete, während auf der zweiten Ebene Säcke lagerten, aus denen Karotten fielen.

Brooke blieb an der offenen Tür stehen und ließ den Blick über das Gehöft schweifen. »Felder voller Kuhdung«, sagte er. »Und wenn mich meine Nase nicht trügt, muss es auch irgendwo einen Schweinestall geben. Aber wo sind die Tiere, Edison? Nun, ich denke, wir wissen, wo sie sind, nicht wahr? Und das da …« Er deutete auf eine Trift, die in Richtung Wald führte. »… das sind die Spuren eines Lastwagens.«

Sie führten über ein Feld in einen Hohlweg, den ein lustloser Bach gegraben hatte. Ein kleines Reh, nicht größer als ein Hund, stand für einen Moment auf dem Weg und schien sich dann mit einem kurzen Kräuseln in den Schatten aufzulösen. Krähen krächzten über dem Blattwerk, machten aber nicht den Eindruck, landen zu wollen, sondern kreisten nur in einer Warteschleife über ihren Köpfen.

Die Lichtintensität nahm ab, als sie durch das Tal trotteten.

Eine S-förmige Biegung führte sie zu den Ruinen einer alten Wassermühle. Eine über einen Querbalken gehängte Plane formte ein auf beiden Seiten – stroman, stromab – offenes Zelt. Die Reifenspuren endeten an der Mühle, während stromabwärts ein Pfad erkennbar war, zertrampelt von den Hufen der Rinder, die von der Weide heraufgetrieben worden waren.

Edison stand am Rand des lichtbeschienenen Bereichs und lugte in die Ruine, musterte eine blutbefleckte Holzbank. Ein zweiter Boden aus Holzlatten zog sich bis hinaus zum Bach, sodass sie unter sich das Wasser sehen konnten.

»Ein Schlachthaus?«, fragte Edison.

Brooke rückte seinen Hut zurecht. »Vermutlich. Ich denke, sie haben die Tiere hier getötet. All die Schlachtkörper auf den Lastwagen waren noch vollständig. Die Zerlegung sollte wohl später erfolgen.«

Brooke glaubte nicht an Geister, aber es gab Orte, an denen schien die Zeit Narben zu hinterlassen. Die Bäume raschelten, und im Hintergrund gurgelte leise das fließende Wasser. Aber am Rande seines Hörvermögens glaubte er, die Tiere hören zu können, die hier aufgereiht am Bach gestanden hatten, voller Angst, die Augen so verdreht, dass das Weiße zu sehen war. Furcht erfüllte die alte Mühle; eine Furcht, die nicht weniger real war als der Bach.

»Wir müssen einen Constable herholen, der diesen Ort bewacht, bis wir alles aufgezeichnet haben. Die sollen die Bank zum Revier bringen, und die Teile des Lattenbodens, die fleckig sind.«

Auf dem Rückweg zum Wagen war Edison derjenige, der bemerkte, dass sich an einem der Fenster im Obergeschoss des Farmhauses etwas bewegte.

»Sir«, rief er und zeigte auf das Fenster. »Ein Gesicht da oben. Ist gleich wieder verschwunden. Sah nach einem Kind aus.«

Die Vordertür war offen, das Haus im Inneren eine Überraschung. Weiß getünchte Wände, bunte Teppiche, in der Küche ein großer Herd mit rot glühenden Kohlen. In einem Topf blubberte ein Schmorgericht.

Edison ging steifen Schritts voran und die Treppe hinauf, rief und hielt seinen Dienstausweis vor sich wie eine Laterne.

Sie hörten zögerliche Schritte, und dann kam ein Kind in Pyjamahose aus einem Badezimmer. Allerdings war Kind nicht der richtige Begriff, nun, da sie ihn sahen, denn der Junge war ein stämmiger Heranwachsender, auch wenn sein blasses Gesicht noch recht kindlich aussah.

Sein Name, sagte er, war Jed, und er war Neville Sneeths Sohn.

»Die Pferde gehören mir«, sagte er und führte sie zu einem Fenster, von dem aus man das Feld sehen konnte. »Dad hat gesagt, ich kann sie behalten.«

Er tappte zurück zum Bett, erklärte, er sei erkältet. Er habe Husten, und die Ärzte seien besorgt, er könnte sich die Grippe eingefangen haben, und darum müsse er sich warm halten.

Das Bett sah aus wie ein Nest, und in einem kleinen Ofen brannte ein Feuer. Eine Decke lag auf dem Boden, dort, wo er Zaumzeug poliert hatte – Gebiss, Zügel und eine Reihe Messingbeschläge.

»Den Rest der Tiere haben sie auf den Lastwagen geladen, richtig?«, fragte Brooke, erhielt aber keine Antwort.

Jed lag auf dem Rücken und schloss die Augen. »Hat man Dad gefunden? Mum hat gesagt, ich soll mich lieber auf das Schlimmste gefasst machen. Er hat sich solche Sorgen gemacht. Wegen dem Geld, wegen dem Hof. Das hat ihn ganz schön zermürbt. Ich wollte mit ihr gehen, aber sie hat gesagt, ich soll mich ausruhen. Ich war ziemlich schwach, aber es geht mir schon besser. Vielleicht hätte ich doch mitgehen sollen.«

Jed schlug für einen Moment die Augen auf und schloss sie gleich wieder.

Brooke hatte den Eindruck, dass der Junge unaufrichtig war. »Die Leiche eines Mannes wurde im Fluss gefunden, Jed. Deine Mutter ist unterwegs, um nachzusehen, ob es dein Vater ist. Bis wir von ihr hören, können wir das nicht sicher sagen.«

Der Junge nickte, hielt aber weiter die Augen geschlossen.

»Ich habe dir eine Frage gestellt, Jed. Wohin sind eure Schweine und Rinder verschwunden?«

»Ich war völlig weggetreten«, sagte er und sah Brooke nun endlich an. »Ich muss mich jetzt ausruhen«, fügte er hinzu und klappte die Augen wieder zu. Brooke konnte jedoch sehen, wie sie sich unter den Lidern bewegten.

»Wir werden dir eine Tasse Tee machen«, sagte der Inspector. »Mein Sergeant sieht sich einfach ein bisschen um …«

Edison ging den Flur hinunter, um sämtliche Räume zu kontrollieren, während Brooke ins Badezimmer schlüpfte, um sich den Dreck aus dem Schlachthaus von den Händen zu waschen. Eine alte Wanne stand auf Holzblöcken neben einem Porzellanwaschbecken. Er drehte den Hahn auf und sah zu, wie das Wasser eine säuberliche Reihe dreier leuchtend roter Tropfen frischen Bluts wegspülte.