KAPITEL EINUNDDREISSIG

Auf der Pritsche von Zelle sechs schloss Brooke die Augen, ließ sich vom Schlaf niederstrecken wie von einem Hieb, und die Welt um ihn herum war wie ausradiert: der schmale gemauerte Raum, das mittelalterliche Gebäude darüber, die Stadt außerhalb, sein Haus am Fluss. Diese Erleichterung war ihm so selten vergönnt, und er lächelte, als er in die Finsternis glitt.

Ein wirrer Traum bahnte sich einen Weg durch sein Unbewusstes. Ein dunkler, grauer Himmel drückte auf eine Stadt hernieder, die nicht nach Cambridge aussah. Von einem Dach aus blickte er auf und erkannte, dass das keine Wolken waren, sondern Ballons, massenweise. Tausende drängelten sich da oben, und hinter ihnen, in der Stratosphäre, knirschten Wagenräder: mächtige, himmlische Wagenräder.

Als er den Blick senkte, sah er einen See und gleich unter der Oberfläche die fahlen Umrisse einer schwimmenden nackten Frau. Zwar war ihr Haar dunkel, doch er wusste, dass es Claire war. Sie glitt auf ihn zu, erreichte das Ufer und zog sich an Land, blickte ihm ins Gesicht. In ihren Augen sah er Feuer, eine Flamme, die in beiden brannte.

Er erwachte und hörte das Echo seines eigenen Schreis. Für einen Moment blieb er still liegen und lauschte auf Geräusche aus Turls Zelle.

Seiner Armbanduhr zufolge war es vier Uhr morgens. Er schaltete das Licht im Korridor an, suchte an dem Bund, den er benutzt hatte, um Nummer sechs zu öffnen, den Schlüssel zu Zelle fünf.

Dieses Mal war Turl vorbereitet.

»Ich hab den Schrei gehört.« Er nickte in Richtung der Wand zu Zelle sechs. »Schlecht geträumt?«

»Ich habe ja versprochen, dass ich wiederkomme«, sagte Brooke. »Wir geben uns Mühe, niemanden zu enttäuschen.«

»Kein Scheinwerfer? Sie lassen nach.«

»Die Räder drehen sich, Jack«, entgegnete Brooke. »Ein neuer Plan für einen neuen Mann: Jack Gretorix. Sie sind ein Ganove, Jack Gretorix. Die Polizei von West Bar kennt Ihr Gesicht.«

Brooke gab ihm seinen Tabak und die Drehmaschine.

»Ihr Komplize, Stanley Currie … Ich hoffe, er war kein Freund von Ihnen, Jack, denn er ist tot.«

Turl konnte seine Reaktion auf diese Neuigkeit nicht verbergen. Die Haut über seinen Gesichtsknochen spannte sich unverkennbar.

»Mit Öl übergossen und verbrannt, genau, wie Sie gesagt haben. Demnach hat er wohl auch Mist gebaut. Nicht sehr nachsichtig, deine Leute, was?«

Gretorix zuckte nur mit den Schultern, stritt aber nicht ab, Currie zu kennen.

»Also, es sieht so aus, Jack. Die Zeit ist gekommen. Ich werde morgen früh West Bar anrufen und sagen, dass ich dich in deren Obhut entlasse. Du wirst nach Norden gehen. Da oben werden sie dafür sorgen, dass bekannt wird, dass du wieder auf heimischem Terrain bist, und dann lassen sie dich laufen. Sie werden auch verbreiten, dass du uns Namen, Orte und Zeitpunkte genannt hast. Das wird dir entweder die Zunge lösen, oder es führt dich mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeine Werkstatt; ich bin sicher, du kannst es dir vorstellen. Eine Werkstatt mit einer Grube. Das ist deine letzte Nacht bei uns, Jack. Danach liegt es nicht mehr in meiner Hand.«

Turl fuhr mit einer blassen Zunge über den Rand seines Zigarettenpapiers. »Mach doch, was du willst, Bulle. Wenn ich weg bin, hast du immer noch Albträume.«

»Richtig. Aber du wirst dann in einem Grab irgendwo auf einem Hang liegen, Jack. Mit ein paar welken Blumen in einem Marmeladenglas neben dem Grabstein. Denk darüber nach, Jack. Und dann ist da noch das: Die Welt wird ein besserer Ort sein, wenn du weg bist. Das weißt du, und ich weiß es auch.«

Er ließ ihm Tabak und Drehmaschine, als wäre eine Zigarette sein letzter Wunsch vor der Hinrichtung, ging hinaus und stieg die Treppe hinauf.

Der Sergeant der Wache sagte, die Nacht sei ruhig, aber man habe ihn gebeten, eine Nachricht der Telefonzentrale in Brookes Fach zu legen.

Brooke nahm den Zettel an sich. Der Anruf hatte am Vorabend um fünf stattgefunden und war kurz gewesen:

Anrufer weigert sich, seinen vollen Namen oder Kontaktinformationen anzugeben, sagt aber, die Nachricht stamme von den NACHTKLETTERERN. Es gehe um Ernst Lux: FRAGEN SIE IM MICHAELHOUSE NACH MARCUS ASHMORE.

Brooke fragte sich, welcher der Darsteller aus Hay Fever aus der Reihe getanzt war. Die Botschaft selbst war einigermaßen erschreckend. Marcus Ashmore, Jos älterer Bruder, war Doktorand im Michaelhouse College, genau wie Ernst Lux. War er einer der Nachtkletterer? War er gar oben gewesen, als der Wissenschaftler in den Tod stürzte? Was hatte seine Schwester von ihrem Beobachtungsposten auf dem Dach aus gesehen?