Jo Ashmore hatte einen Fuß auf der Brüstung und hielt sich das Fernglas an die Augen. Sie suchte den westlichen Horizont ab, ohne auf Brookes forsche Annäherung auf der Steigleiter zu ihrem Beobachtungsposten auf dem Dach zu achten.
»Der Kessel steht in der Bude«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Bedienen Sie sich.«
Sogar jetzt, sogar hier wirkte ihre Erscheinung stilvoll. Die Gasmaske saß auf eine nette Weise an ihrer Hüfte; geschickt platziert, eine Pappschachtel, umgewidmet zu einem Modeaccessoire.
Er kippte Tee in zwei Becher, schüttete Kondensmilch aus einer kleinen Dose hinterher und fügte Zucker hinzu.
»Etwas beschäftigt mich«, sagte Brooke vorsichtig. »Die Nachtkletterer sind wieder auf den Dächern der Stadt unterwegs, aber du hast sie nicht gesehen. Und du bist so eine gewissenhafte Beobachterin.«
Sie hielt immer noch das Fernglas an die Augen. »Macht das was?«, fragte sie.
»Ein Mann ist gestorben.«
Sie ergriff ihren Teebecher.
»Der Mann, von dem wir angenommen hatten, er wäre von einem treibenden Sperrballon getötet worden, war klettern. Dabei ist er abgestürzt. Jemand hat seine Leiche vom Michaelhouse College weggeschafft und sie mit einem Fetzen halb verbrannten Kautschuks garniert. Die Stadt war voll von dem Zeug wegen dieses Luftschiffs, das am Bahnhof explodiert ist.«
Brooke drehte sich um und setzte sich aufs Geländer. »Ich habe gerade die Akte des Opfers durchgesehen. Sie enthält einen Plan von seinen Räumlichkeiten im Michaelhouse, in dem auch die Namen der anderen Studenten verzeichnet sind; mein Sergeant ist langsam, aber akribisch und zuverlässig. Das Zimmer gegenüber von Lux gehört deinem Bruder Marcus. Es gibt eine Liste mit Lux’ Freunden, und alle sagen, er und Marcus wären sehr vertraut miteinander gewesen. Eine Freundin gibt es auch, aber die ist ein bisschen schwer zu fassen. Marcus selbst hat sich etwas distanzierter über Lux geäußert und gesagt, sie wären Kollegen und der Amerikaner sei ein ›Einzelgänger‹ gewesen, was selbst bei großzügiger Auslegung ein bisschen klischeehaft klingt.«
Jo legte den Kopf in den Nacken und studierte den Himmel, an dem hier und da Sterne zwischen den Wolken zappelten.
»Womit ich immer noch vor derselben Frage stehe und keine Antwort habe«, sagte Brooke. »Wenn die Nachtkletterer wieder da sind, warum wurden sie dann von einer Beobachterin mit scharfen Augen und eigenem Adlerhorst auf dem Dach nicht gesehen?«
Im Süden pulsierte einige Male das Motorengeräusch eines Flugzeugs, verhallte aber bald, doch Ashmore reagierte immer noch nicht.
»Ich muss mit Marcus sprechen, Jo. Ich möchte nicht im College auftauchen und unnötige Unruhe stiften. Mir ist klar, welches Risiko sie eingehen. Ich weiß auch, dass man ihn rauswerfen könnte, wenn er erwischt wird, und das wäre das Ende seiner Karriere. Das möchte ich ihm nicht antun, das muss ich ihm nicht antun. Aber ich muss mit ihm reden. Darum brauche ich einen Mittelsmann, und das bist in diesem Fall du, Jo. Ich glaube, aus der Sicht deines Bruders ist das ein annehmbarer Vorschlag.«
Jo ging zu der konischen Postenbude, kam mit einer halb vollen Flasche Brandy zurück und schüttete einen Schuss in beide Becher.
»Sie und Claire, Sie haben nie gefragt, warum ich hier oben bin. Warum ich das Leben, das ich vorher hatte, hinter mir gelassen habe. Es war glamourös, nicht wahr? Die Partys, die langen Nächte in London. Ich hatte eine ziemlich gute Zeit.«
Sie trank einen Schluck aus ihrem Becher und verzog das Gesicht, als der Alkohol sich bemerkbar machte.
»Seltsamerweise geht es bei all dem …« – mit einer Geste erfasste sie den Beobachtungsposten – »… darum, nicht aufzufallen. Daddys Worte. Sie werden nichts davon gehört haben, das ist auch nur in der Welt wichtig, in der er lebt. Aber der Lehrstuhl ist bald vakant, und von Rechts wegen sollte er ihm gehören. Professor Ashmore. Jemand hat mich mal gefragt, warum Akademiker so gemein zueinander sind. Das liegt daran, dass so wenig auf dem Spiel steht. Mir gefällt das. Es hat einen Skandal gegeben, Brooke, nichts, was öffentlich gewesen wäre. Ich habe diesen Skandal verursacht. Sehen Sie, das hier, das bin ich, wie ich die Verantwortung für meine Taten übernehme. Dieser Lebensstil, den ich hatte … Eines Nachts bin ich im Criterion einem Mann begegnet. Es gibt da einen Jazzclub an der Kingly Street hinter dem Liberty. Ich wurde mit ihm gesehen, oft. Fehler wurden begangen. Ich bin ein Risiko eingegangen und brauchte Hilfe. Medizinische Hilfe. Es war …«
»Du musst mir das nicht erzählen, Jo.«
»Ich erzähle es Ihnen gern. Na ja, gern vielleicht nicht, aber es tut mir gut. Sie sind diese Art Mann, Brooke. Die Leute wollen, dass Sie gut von ihnen denken. Darum hilft das auch … Na ja, ich denke, ich suche nach Vergebung.«
»Dir ist vergeben«, sagte er.
Sie klopfte eine Zigarette aus der Packung, schirmte sie vor der nächtlichen Brise ab und entzündete sie im finsteren Schatten ihres Jackenaufschlags.
»Ein öffentlicher Skandal oder auch nur die Andeutung eines solchen hätte das College und das Institut erreichen können.«
»Was ist mit dem Mann vom Criterion?«
»Wenn man ihn Mann nennen kann.« Sie stieß ein bitteres Lachen hervor, und Brooke glaubte für einen Moment, ihre Zukunft nach dem Krieg vor sich zu sehen, beherrscht von der Reue über eine Nacht in London.
»Ich habe während der Großen Verdunkelung keine Nachtkletterer gesehen. Die meiden jedoch oft die Dächer, darum ist das nicht verwunderlich«, sagte sie. »Aber ich habe sie diesen Herbst schon gesehen. Meine Schicht dauert drei Tage, dann habe ich drei Tage frei. Marcus kennt meine Dienstzeiten. Er ist gelangweilt. Er wollte an die Front, aber Daddy hat ein paar Fäden gezogen. Die Regierung braucht begabte Mathematiker. Also wird er den Krieg damit zubringen dürfen. Er dreht also Däumchen und ist bereit, für seine albernen, lebensgefährlichen nächtlichen Spielereien alles aufs Spiel zu setzen, einschließlich Daddys Reputation. Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als ich je gedacht hätte. Er wollte klettern, wegen des Kitzels. In seinem Fall ein etwas sprödes Vergnügen, aber ich glaube, das gehört zu den wenigen Dingen, die Freude in seinen Alltag bringen. Er hat es mit Spielen versucht, aber das kommt dem nicht einmal nahe. Er hat mich gebeten, wegzusehen. Um Daddys willen, was immerhin eine nette Geste war.«
Sie drehte sich um und sah Brooke an. »Tut mir leid«, sagte sie.
»Entschuldigung angenommen.«
»Wo wollen Sie mit ihm sprechen?«
»Bei mir zu Hause. Morgen um sechs? Er kann das alte Tor an der Weide nehmen, die Hintertür wird offen sein. Sag ihm, ich muss nur die Wahrheit erfahren.«