KAPIEL VIERUNDDREISSIG

Claire hatte wieder Nachtschicht, und das gemeinsame Haus in Newnham Croft war ohne sie unerträglich leer, aber Brooke spürte, dass ihn eine neue Episode kurzzeitigen Schlafs umkreiste. Er brauchte einen Platz, um sich auszuruhen. Die Rückkehr in Zelle sechs mit dem Gefangenen Turl im Nebenraum kam nicht infrage. Als er Aldiss schließlich seinen Schaben überließ, machte er sich über Parker’s Piece auf den Weg, vorbei am Fenner’s, dem Kricketplatz der Universität, und eine Sackgasse hinunter, an deren Ende ein hohes Haus stand. Seit inzwischen einem Jahr hatte in der schmalen Fassade stets ein Nachtlicht am Schlafzimmerfenster im dritten Stock geleuchtet.

Die unverschlossene Eingangstür führte in einen Gang, in dem ein Spiegel Brookes Silhouette reflektierte: eine große Gestalt mit leicht nach vorn geneigtem Hut, die sich zu den Schuhen hin verjüngte. Leise stieg er die Stufen zum dritten Stock hinauf und schlüpfte in ein Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs. In den dunklen Schatten unterhalb des offenen Fensters mit dem schwachen Nachtlicht auf dem Sims regte sich etwas.

»Frank«, sagte Brooke anstelle einer Begrüßung. »Die Nachtlampe?«, fragte er.

»Warum nicht?«, antwortete eine Stimme, in der keine Spur von schläfriger Mattigkeit lag. »Hell, dunkel, Tag, Nacht. Ich habe meinen Platz in der Welt verloren.«

Der ehemalige Detective Chief Superintendent Frank Edwardes lag im Licht der elektrischen Lampe auf eine Nackenrolle gestützt da, und seine übliche Blässe, die an feuchten Marmor erinnerte, trat vielleicht noch etwas stärker als sonst zutage.

Edwards, dreißig Jahre lang treuer Diener des Spinning House, war Brookes Mentor. Nach dem Krieg, als Brooke aus dem Krankenhaus heimgekehrt war, um seine Studien wieder aufzunehmen, hatte er festgestellt, dass der Charme der Naturwissenschaften für ihn verblasst war. Dazu kam, dass seine geschädigten Augen das Studieren zu einer Tortur machten. Außerdem hatte er das Gefühl, dass er sein studentisches Selbst irgendwo im Sand jenseits der Oase im Osten Gazas zurückgelassen hatte. Eine Rückkehr in sein früheres Leben erschien ihm unwirklich.

Ermittlungsarbeit, die logische Methode, um dem Guten den Sieg über das Böse zu sichern, belebte seine Vorstellungsgabe. Abgesehen von der extremen Empfindlichkeit seiner als fotophobisch diagnostizierten Augen hatte sein Körper sich gründlich von der Gefangenschaft in der Wüste erholt, und er hatte die medizinische Untersuchung des Borough problemlos bestanden. Und da man ihn nie gefragt hatte, wie es um seinen Schlaf stand, war seine Insomnie gar nicht zur Sprache gekommen. Seine derzeitige Sehschärfe lag bei 20/20, aber die getönten Gläser waren unumgänglich, um die Lichtintensität zu dämpfen. Edwardes, nach seiner Rückkehr aus Flandern frisch befördert, dachte sich etwas aus, um dafür zu sorgen, dass Brooke während der zwei Jahre, die er in Uniform zubringen musste, ehe er zur Kriminalpolizei wechseln konnte, vorwiegend im Nachtdienst eingesetzt wurde. Die nötige medizinische Dokumentation führte lediglich die Verordnung von Sonnenbrillen auf, eine Kategorie der Behinderung, die im Verzeichnis der Polizei nicht aufgeführt war.

Edwardes, bei dem Magenkrebs diagnostiziert worden war, war ein Jahr zuvor in den Krankenstand entlassen worden. Brooke suchte ihn in seinem Haus auf, um ihn über die aktuellen Fälle auf dem neuesten Stand zu halten und seinen Lehnsessel für eine Ruhepause zu nutzen.

»Ich nehme an, Sie waren schwimmen?«, fragte Edwardes, und in seiner Stimme lag eine ernsthaft verärgerte Note. »Man sagte mir, es gäbe verblendete Individuen, die den Fluss für ihren Sport nutzen.«

Brookes nächtliche Schwimmausflüge waren im Spinning House der Stoff für einen unterdrückten Skandal. Als Constable im ersten Jahr bei der Truppe hatte er sich eine Strafe eingefangen, als sein Sergeant ihn beim Schwimmen im Fluss erwischt hatte, die Uniform sauber gefaltet am Ufer abgelegt. Edwardes hatte die Strafe ausgesetzt, aber ein Hauch moralischer Entrüstung hatte überdauert.

»Nicht heute Abend«, sagte Brooke. »Und bald wird es zu kalt dafür sein.«

Auf einer Seite des Betts verdeckte ein Tisch mit allerlei elektronischen Geräten die Wand. Apparate brummten, nicht nur in einer Tonlage, sondern in einem ganzen Spektrum, sodass es beinahe schien, als würde eine Gruppe Sänger versuchen, a cappella zu singen. Mehrere der oberen Kästen wiesen die halb dunklen Fronten von Funkgeräten auf.

Edwardes war einer von mehreren Tausend »Hams« – begeisterten Amateurfunkern – die überall in Großbritannien rekrutiert worden waren, um den Äther zu überwachen. Diese offiziellen Pflichten gestatteten ihnen, ihre Funkgeräte zu behalten, die anderenfalls konfisziert worden wären. Jeder Funkverkehr, der als interessant eingestuft wurde, musste aufgezeichnet und schriftlich festgehalten werden. In Anbetracht seiner Krankheit war diese neue Pflicht ein wahrer Segen, verlieh sie doch seinem Hobby einen Schauder echter Aufregung.

Während jedoch an diesem Abend die Funkgeräte summten, schwiegen die Ätherwellen.

Der alte Mann litt Schmerzen. Er hielt sich mit einer gewissen Spannung, berechnete jede Bewegung von Hand oder Kopf. Nun griff er zu einem Glas Milch neben seinem Bett, nippte daran. Das Glas hinterließ eine weitere weiße Gezeitenmarke auf einem Nachttisch, der schon von ihnen übersät war.

Sie hörten das Rappeln des Kessels auf dem Herd weiter unten im Haus.

»Wie geht es Kat?«, fragte Brooke. Edwardes’ Frau hatte als Geriatrieschwester im selben Krankenhaus gearbeitet wie Claire.

»Dreißig Jahre auf Station, und dann geht sie gerade passend in Rente, um festzustellen, dass ihr Zuhause kein Zuhause ist, sondern ein Ein-Bett-Krankenhaus. Aber sie verkraftet es gut.«

Brooke machte es sich in dem weichen Sessel bequem.

»Schlafen Sie, wenn Sie wollen«, sagte Edwardes. »Wenn nicht, was gibt es Neues?«

Brooke bemühte sich um Konzentration. »Über den Kriegsdienstverweigerer, der auf dem Friedhof an der Mill Road erschossen wurde, werden Sie schon Bescheid wissen.«

Edwardes nickte. »Ein Kriegsdienstverweigerer? Dieses Detail kam mir nicht zu Ohren.«

»Außerdem war er Angehöriger der hiesigen kommunistischen Partei. Obendrein sind drei von seinen Kameraden verschwunden. Puff, und weg waren sie. Wohin? Warum? Entweder sie haben im Kollektiv die Flucht ergriffen, oder sie sind auch tot. Was bedeuten würde, dass sich in unseren Straßen ein äußerst aktiver Mörder herumtreibt. Ich muss diese Leute finden, Frank. Und zwar schnell. Wir haben eine Frau ermittelt, die das Opfer an seinem Todestag gesehen hat; morgen werden wir mit ihr sprechen. Aber ich würde auch gern ihre verschwundenen Kameraden finden … besonders denjenigen, der einen Rundfunkempfänger auf seinem Dachboden hatte.«

»Tatsächlich?«

»Eingestellt auf Moskau. Ein Mikrofon war auch daran angebracht.«

»Das ist ein Transmitter, mit dem er Nachrichten rausschicken kann. Himmelkreuzdonnerwetter. Hoffen wir, dass er nichts gewusst hat, was er nicht wissen sollte …« Edwardes mühte sich ab, um sich etwas aufrechter an seine Kissen zu lehnen. »Ist dieser Tage nicht so leicht, einfach zu verschwinden. Haben Sie es an den Häfen versucht?«

Brooke nickte.

»Hatten die Benzinmarken? Ein Fahrzeug?«, fragte Edwardes. »Züge wären die beste Wahl. Wenn sie Vorsprung hatten, sind sie vielleicht zusammen gereist.«

Wieder nickte Brooke. »Einer der Männer, der mit dem Rundfunkempfänger, gehört der Eisenbahnergewerkschaft an.«

»Na, da haben Sie es doch. Die können kostenlos reisen. Das gehört zu den Dingen, an die sich ein Fahrkartenkontrolleur erinnern sollte. Ein Nicken, ein Plausch, ein bisschen Gejammer wegen der Löhne. Wenn die südwärts nach London gefahren sind, können Sie sie in den Wind schreiben. Aber wenn sie nach Westen, Osten oder Norden reisen, haben Sie noch eine Chance.«

In diesem Moment hob ein unüberhörbares, regelmäßiges Piepen an und erzwang Edwardes’ Aufmerksamkeit. Er ergriff unaufgeregt ein Protokollbuch und fing an, Buchstabengruppen, bestehend aus je fünf Lettern, zu notieren. Aber das Piepen verhallte rasch, und bald war es ganz verstummt.

Brooke rieb sich die Augen und wünschte, Kat würde ihnen Tee heraufbringen.

»Heute Nacht geschlafen?«, fragte Edwardes.

»Eine Stunde, vielleicht etwas weniger.«

Brookes Lider fielen zu, sein Gehirn schaltete für eine flüchtige Sekunde auf Leerlauf, und er ließ sich von dem fremdartigen Gefühl des Fallens überwältigen wie ein Trunkener, der einem schweren Schwindelgefühl anheimfällt. Sein Körper wirbelte herum, schien aber nie die vollen dreihundertsechzig Grad zu schaffen, bevor er wieder zu seiner Ausgangsposition zurückkehren musste.

Das Nächste, woran er sich erinnerte, war, dass er erwachte, als wäre er aus einer anderen Dimension in dieses Zimmer gestürzt. Das Piepen einer weiteren Transmission erfüllte die Luft. Edwardes’ Finger flogen über das Papier, während er geübt Punkte und Striche in Buchstaben umkodierte und in seinem Buch festhielt.

Kat tauchte mit zwei Tassen Tee auf, stellte eine neben Brooke ab und nahm eine andere, inzwischen erkaltete, mit, die sie vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt für ihn dagelassen hatten.

Als sie seiner Aufmerksamkeit sicher war, blickte sie kurz zu ihrem Gatten, der fiebrig den Code notierte, und verdrehte dann die Augen. »Das wird Göring sein, der versucht, ein Boot für Göbbels zu bestellen. Grüßen Sie Claire von mir, sollten Sie sie irgendwann mal sehen«, bat sie, ehe sie sich zurückzog.

Edwardes zog ein silbernes Zigarettenetui unter dem Bett hervor. Brooke hielt an seinen Black Russians fest.

Der alte Mann produzierte einen Rauchring. »Folgender Gedanke, junger Brooke. Offiziell gibt es über das Land verteilt ein paar Hundert von uns Hams, aber in Cambridge sind wir sechs. Wir treffen uns. Nirgends steht, dass wir das nicht tun können. Offenbar gibt es in einer Hafenstadt an der Front wie Hull nur einen Funker. Und hier sechs. Warum?«

»Sagen Sie es mir«, entgegnete Brooke.

»Die halbe Universität arbeitet für die Regierung. Dies ist geheim, das ist geheim. Einer der anderen Hams hat einen Sohn, der in den Laboren an der Free School Lane forscht. Der hat seinem Vater erklärt, dass sie alles Mögliche unterschreiben mussten und er ihm nichts erzählen kann. Aber er hat ihm das hier gegeben …«

Edwardes zeigte Brooke das Buch, auf das er sich bezog. A Trap to Catch the Sun von H. G. Wells.

»Science-Fiction, Frank, weiter nichts«, sagte Brooke.

»Aber Sie haben es nicht gelesen, nicht wahr?«

Brooke fühlte sich wieder wie der neue Junge im Spinning House. Edwardes hatte ein besonderes Talent, leeres Geschwätz herauszuhören.

»Es geht um etwas, das Wells eine ewige Bombe nennt«, klärte Edwardes ihn auf. »Sie hört nie auf zu brennen, Brooke. Die Kraft der Sonne, eingefangen in einem Teilchen, so klein, dass man es nicht sehen kann. Ein Atom. Die Welt ist in seiner Geschichte wieder im Krieg, und der lässt den letzten aussehen wie ein Picknick, diesen auch – jedenfalls bisher. Dann, im letzten Moment, lässt Wells alle Regierungen zusammenkommen und Vernunft annehmen. Wells ist ein Optimist, Brooke. Das ist der Teil, den ich nicht glaube.«

Er schleuderte das Buch zu Boden.