KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

Brooke kletterte den Castle Hill hinauf, vorbei an der Stelle, an der die Lastwagen in der Nacht der Großen Verdunkelung geparkt hatten. Ganz oben stand inmitten der Burgruinen das County Gaol. Das Bezirksgefängnis war ein geometrisches Juwel: achteckig, ein elegantes Oktagon, und jeder Flügel verfügte über seinen eigenen, drei Stockwerke hohen Mittelgang und ein hoch aufragendes Dach aus Glas und Eisen. Der Ausblick von dort war allenfalls mittelmäßig, die schmalen Zellenfenster horizontal wie vertikal durch Eisenstangen versperrt, sodass man die Turmhelme des Colleges nur in Form eines Gitterwerks erkennen konnte. Regen fiel auf die schiefergraue Stadt.

Henderson, Lauder und Popper, die Hauptakteure des hiesigen Ortsverbands der Kommunistischen Partei, waren auf Zellen im B-Flügel verteilt worden, aber auf verschiedenen Etagen. Es war ihnen verboten, an der Hofrunde teilzunehmen, dieser einen Stunde pro Tag, in der die Häftlinge im Gefängnishof im Kreis herumgingen und Gelegenheit bekamen, miteinander in Kontakt zu kommen. Der Deputy Chief Warder war der einzige Mitarbeiter, der autorisiert war, ihre Zellen zu betreten; ihre Mahlzeiten mussten sie allein einnehmen, und sie wurden ihnen vom persönlichen Küchendiener des Direktors gebracht.

Hier spürte Brooke die grausame Prägung autoritärer Disziplin. Das Risiko, das diese Männer für den Staat darstellten, war eindeutig begrenzt: Unabhängig voneinander beteuerten alle, dass sie keinen Einblick in die Szenen erhalten hatten, die Childe gesehen hatte. Vera Staunton hatte es bereits verdeutlicht: Er war entschlossen gewesen, zunächst London zu informieren – schriftlich – und sonst niemanden.

Henderson, der Gewerkschaftsfunktionär, stand in Hemd, Krawatte und Jackett neben seinem Bett, als der Wärter die Zellentür aufschloss. Ein Leinenhandtuch lag über einem Eimer neben dem Waschbecken, und das Fenster stand offen, dennoch war der Gestank überwältigend.

»Auf wessen Befehl und nach welchem Gesetz werde ich hier festgehalten?«, fragte er, ehe Brooke ganz zur Tür hereingekommen war. »Ich verlange einen Rechtsbeistand und wünsche, von meinem Recht Gebrauch zu machen, vor einen Richter zu treten.«

In gewisser Weise gehörte die Kunst der Konfrontation zu Hendersons Arbeit als Gewerkschaftsfunktionär, aber diese unverblümte Vorgehensweise, die Art, wie er moralische Gerechtigkeit ins Spiel brachte, war dennoch beeindruckend.

Brooke reichte ihm eine Kopie der Notstandsgesetze, auf der er die relevanten Klauseln eingekreist hatte, da er mit so etwas gerechnet hatte. Carnegie-Brown hatte einen Stapel Kopien im Korridor des Spinning House ausgelegt, eine geschickte Methode, die Leute daran zu erinnern, wer in Zeiten des Krieges die Zügel in Händen hielt.

Henderson holte eine Brille aus seiner Jackentasche und las: »›Bedrohung der nationalen Sicherheit‹? In welcher Hinsicht? Himmel, ich habe für dieses Land gekämpft, Brooke, mehr als die Mistkerle, die diesen Müll schrieben, es je getan haben …« Er warf das Dokument in die Luft.

»Wir haben Ihr Haus und Ihren Dachboden durchsucht«, sagte Brooke.

Henderson nahm die Neuigkeit auf, als hätte Brooke ihm einen schweren Schlag versetzt. Er sank auf seine Pritsche, barg den Kopf in den Händen und strich sich dann langsam mit den Fingern durch das zurückweichende Haar.

»Das ist kein Verbrechen.«

»Doch, im Grunde ist es das. So richtig genau kennen Sie die Gesetze wohl nicht, oder? Solange Sie nicht als Teilnehmer am Funküberwachungsprogramm der Regierung registriert sind, ist der Besitz eines Transmitters illegal.«

Henderson schüttelte den Kopf. »Die Partei hat ihr eigenes Sendernetz, das ist nur eine Vorsorgemaßnahme für den Fall einer Invasion. Wir müssen uns organisieren, um die Lage im Griff zu behalten. Ich habe Moskau belauscht; wir haben nie gesendet. Ist das ein Verbrechen, Mann? In einem freien Land? Wenn die Nazis kommen, sind wir bereit zu kämpfen, Brooke. Härter, als es die Faschisten tun werden. Zum Teufel mit den Peace News. Auf heimatlichem Terrain werden wir die Deutschen schon bekämpfen, machen Sie sich nur keine Sorgen.«

Brooke war mit einer Packung Woodbines hergekommen, eine Gewohnheit, die er im Zuge der Gefangenenbesuche über die Jahre aufgebaut hatte.

Ein einziger Zug an der Zigarette reichte, damit sich die kleine Zelle mit Rauch füllte, in dem sich ein Sonnenstrahl fing, der durch das hohe, schmale Fenster fiel.

»Danke«, sagte Henderson, »das habe ich gebraucht. Es tut mir leid, es ist nichts Persönliches. Aber die Tirade hat gutgetan … Die haben mir sämtliche Glimmstängel abgenommen. Besuche haben sie auch verboten, obwohl der Direktor behauptet, er würde versuchen, dieses Verbot aufheben zu lassen. Wir werden sehen.«

Brooke war bemüht, den Zorn in diesem Raum einzudämmen. »Das Problem, der Grund, warum Sie hier sind, ist Childes Brief. Er ist nicht in London eingetroffen. Außerdem hat Vera gesagt, er hätte einen Durchschlag angefertigt. Den hätte er bei sich haben müssen, aber wir haben ihn nicht gefunden.«

Henderson schüttelte den Kopf. »Ich habe versucht, Chris dazu zu bringen, uns an Ort und Stelle zu erzählen, worum es ging. Uns nichts zu verraten war unlogisch. Das Büro in London ist durchlässig wie ein verdammtes Sieb. Wenn man denen etwas erzählt, macht es eine halbe Stunde später am Hafen die Runde. Da wäre er viel besser beraten gewesen, mit uns zu reden – danach hätte er, wenn es sich denn als notwendig erwiesen hätte, nach London gehen und es dort jemandem erzählen können. Warum irgendetwas zu Papier bringen? Am Ende haben wir zugestimmt, dass er den Brief schreiben soll, damit wenigstens irgendjemand die verdammte Wahrheit erfährt, wie immer die auch lauten mochte.« Henderson senkte die Stimme. »Die Sache ist die, Brooke. Der Idiot hat es sich anders überlegt.«

»Childe?«

»Ja. Er hat mich von einem Telefonhäuschen aus angerufen und gesagt, er würde uns bei dem wöchentlichen Treffen am Abend alles erzählen. Um sieben Uhr im Hinterzimmer des Mitre, wie immer. Während die Münzen durchgerutscht sind, hatte er nicht viel Zeit, aber er hat mir gesagt, er hätte die Sache noch einmal durchdacht und sich überlegt, es wäre das Beste, an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Himmel weiß, was er im Sinn hatte. Speakers’-Scheiß-Corner?«

Brooke nahm an, dass Swift-Lane einen Herzinfarkt erlitten hätte, wäre ihm dieser kleine Leckerbissen von einer Information zu Gehör gekommen. Childes Brief war gefährlich genug, aber wenn er beschlossen hatte zu reden und anderen davon zu berichten, dann hatte er zweifellos sein Leben aufs Spiel gesetzt.

»Denken Sie, Vera hat den Brief wirklich abgeschickt?«, lenkte Brooke die Befragung in eine andere Richtung.

Henderson studierte sein Gesicht. »Was? Denken Sie etwa, dass sie ein falsches Spiel treibt? Eine Spionin innerhalb der Partei ist? Auf keinen Fall, Brooke. Vergessen Sie nicht, wir haben sie angeworben. Nein, Vera ist in Ordnung.«

»Und wo ist dann der Brief?«, bohrte Brooke weiter.

»Wenn Sie mich fragen, ist er im Parteibüro oder an einem sicheren Ort. Denken Sie mal darüber nach: Wenn jemand am Cadogan Square den Brief geöffnet und gelesen hat und das wirklich so eine große Sache ist, warum zum Teufel sollte derjenige das zugeben? Warum sollte er der Polizei irgendetwas erzählen?«

Brooke dachte, dass diese Worte von zwingender Logik waren.

Henderson sah seine Chance gekommen. »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte er. »Sorgen Sie dafür, dass wir nicht einfach verschwinden. Eine Anklage kann ich verkraften, ein Gerichtsverfahren auch, aber das nicht. Irgendwo in einer beschissenen Zelle vergessen zu werden und einsam und allein zu verrotten. Sie wissen, mit wem Sie sprechen müssen, Brooke. Sie wissen, wie man Leute im Auge behält. Ich weiß nicht, was die Ihnen über unsere Entlassung gesagt haben, aber ich glaube, jemand will uns wegschaffen. Eines Nachts kommt ein Laster her. Und dann? Das weiß der Himmel. Also bitte, passen Sie auf uns auf.«

»In Ordnung«, sagte Brooke, außerstande, ihn zurückzuweisen. »Aber die müssen von diesem Transmitter wissen, also sollten Sie mit Besuch rechnen.«

Er versprach noch mehr Zigaretten, ehe er an die Tür klopfte, damit man ihn hinausließ. Anschließend folgte er dem Wärter den Gang entlang und eine Treppe hinunter, um die anderen Gefangenen aufzusuchen. Lauder und Popper bestätigten Hendersons Version vom Ablauf der Ereignisse: Childe hatte sein Geheimnis gewahrt, zumindest ihnen gegenüber.

Endlich führte der Wärter Brooke zurück in Richtung Haupttor.

Der Korridor endete an einer Tür, hinter der ein kleiner schattiger Garten lag. Ein Mann in einem schwarzen Overall grub die lehmige Erde um, und Brooke erkannte erst, als er auf gleicher Höhe mit ihm war, dass es sich um den Direktor handelte. Sein haarloser Hinterkopf glänzte vor Schweiß. Brooke war überzeugt, dass dieses Zusammentreffen kein Zufall war.

»Inspector. Richten Sie Carnegie-Brown meine besten Grüße aus. Hab sie nicht mehr gesehen seit dem Rotary-Dinner im letzten Jahr«, sagte er. »Mein Zufluchtsort«, fügte er hinzu und deutete auf das säuberlich gepflegte Gartenstück und eine Reihe von Spalieren, an denen Winterjasmin und ein verholzter Blauregen rankten.

Der Direktor blickte auf und musterte den Himmel. »Erinnert mich immer an Wildes ›winziges Zelt von Blau‹.« Er stellte den Spaten weg. »Wegen dieser drei Gefangenen«, sagte er. »Ich bin nicht sehr erfreut. Isolation ist unmenschlich. Man sagt mir ständig, wir seien im Krieg, aber das ist eine faule Ausrede. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich das nicht gutheiße.«

Die Klagen zogen sich noch einige Minuten hin.

»Eine Bitte«, sagte Brooke schließlich. »Würden Sie mich informieren, sollte ein Verlegungsbefehl ergehen? Und darauf bestehen, dass man Ihnen den Vollzugsbefehl vorlegt und auch den Bestimmungsort nennt? Und sollte man dem nicht nachkommen, könnten Sie dann das Kennzeichen notieren? Was immer Ihnen möglich ist.«

Der Direktor sah erschrocken aus. »So weit kann es kommen?«, fragte er.