Das Kartonagenhaus auf Midsummer Common war beinahe dreißig Fuß hoch; ein sonderbar solide erscheinendes Objekt in dieser nebligen Nacht, ausgestattet mit Tür und Fenstern und einem auffälligen Dach. Es war im Zikkuratstil gestaltet, bei dem jede neue Lage Kartons ein bisschen kleiner war als die darunter, bis mit vorbildlichem Können der Gipfel erreicht worden war. Die beiden Löschfahrzeuge der Hilfsfeuerbrigade standen bereit, um den selbst entfachten Brand zu löschen. Die Menge, die man zum Ufer getrieben hatte, versammelte sich um das Fort St. George, einen Pub unten am Fluss.
Brookes Gegenwart hatte eher symbolischen Charakter. Der für die Uniformierten zuständige Inspector hatte die Zügel in der Hand und war damit beschäftigt, den städtischen Constables Anweisungen zu geben und sie ostentativ in Form eines Kordons unterhalb der Ehrentribüne zu postieren, einem Balkon des Fort St. George, der mit einer Union Flag und dem Wappen der Hilfsfeuerbrigade geschmückt und derzeit noch vollends verlassen war.
Zwei Soldaten hielten auf der Weide neben dem Kartonhaus Wache, vermutlich weil sie befürchteten, irgendein Schurke könnte versuchen, die Geschehnisse vorzeitig in Gang zu setzen. Brooke nahm an, dass sich die Nachricht von der Stippvisite des Ministers auch über die hohen Ränge hinaus verbreitet hatte, denn die Menge zählte jetzt schon mindestens hundert Menschen und wuchs immer noch sichtbar an.
Edison duckte sich auf einem arthritischen Knie unter der Absperrung hindurch. »Sir, Sheffield hat einen Inspector geschickt, der Gretorix abholen soll. Einen Wagen mit einem Polizisten am Steuer haben sie auch mitgeschickt. Der Officer wurde im Bull Hotel untergebracht. In der Nachricht heißt es, sein Name ist Solly, und er ist an der Bar. Den Gefangenen will er morgen um acht abholen, würde ihn aber gern heute Abend noch sehen. Dachte mir, ich kann ihn kaum davon abhalten, richtig?«
Brooke nickte und zog sich den Schirm seines Huts tiefer ins Gesicht. »Morgen, Edison, müssen wir als Erstes unsere Ergebnisse im Fall Childe noch einmal durchgehen.« Die Kontrolle über Gretorix’ Schicksal entglitt ihren Händen, und der Tod von Lux sah wie ein Unfall aus Leichtsinn aus. Aber Childes kaltblütige Ermordung war immer noch völlig ungeklärt. »Wir stehen unter Druck, weil wir gefordert sind, den Fall dem Yard oder dem militärischen Geheimdienst zu übergeben, wenn wir keine Fortschritte erzielen. Wir haben einen Tag, vielleicht zwei, ehe wir den Fall verlieren, und dieser Fall gehört nicht zu denen, die ich zu verlieren gedenke.«
Edison nickte, holte seine Pfeife hervor und kratzte den Kopf mit einem kleinen Messer aus. »Die Met hat angerufen. Sie sind mit der Durchsuchung des Postzentrums Mount Pleasant fertig, und es gibt keine Spur von Childes Brief. Sie haben jeden Einzelnen festgenommen, den sie in den Büroräumen der Kommunistischen Partei angetroffen haben, einschließlich des stellvertretenden Generalsekretärs. Das stinkt unverkennbar, und Whitehall lacht sich ins Fäustchen. Bisher haben sie es dem Commissioner noch nicht auf den Schreibtisch gelegt, aber dabei wird es nicht bleiben …«
»Reden wir mit Childes Nachbarn und verschaffen uns ein umfangreicheres Bild von ihm«, sagte Brooke. »Staunton ist auch ein Mysterium. Warum bestehen wir nicht darauf, dass sie uns eine Liste ihrer Klienten gibt, Edison? Mir ist egal, ob das schlecht fürs Geschäft ist. Irgendwas stimmt nicht mit dieser Frau.«
»Da ist er!«, rief eine Stimme in der Menge. Erst brandete ein Jubelruf auf, dann rasten viele die Reihen der Leute hinauf und hinab. Auf dem Balkon des Fort St. George winkte vergnügt der Arbeitsminister.
»Haben Sie Ihre Enkel hergebracht?«, fragte Brooke.
»Hätte ich nicht darauf verzichten wollen«, sagte Edison. »Sie lieben Feuer.«
Brooke war außerstande, das kurze Aufflackern der Erinnerung an ein Bild aus einem Albtraum zu unterdrücken: Claire, in deren Augen Flammen flackerten.
Oben auf dem Balkon hatte sich ein Kontingent Honoratioren zu dem Minister gesellt; Brooke sah Colonel Swift-Lande und Carnegie-Brown, die sich genau in diesem Moment vorbeugte, um dem Gast einen Feldstecher zu überreichen.
Ein Platoon Soldaten marschierte in eleganter Manier vorüber, ehe eine schattenhafte Gestalt, bei der es sich um den Oberbürgermeister handeln mochte und die gerade erst auf dem Balkon eingetroffen war, eine unhörbare Rede hielt. Der Minister sagte zur Antwort auch ein paar Worte, von denen Brooke »großartige Stadt«, »ehrwürdig« und »Stippvisite« aufschnappte.
Endlich flackerte die erste Flamme auf. Die Pyrotechnik war spektakulär und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ungeplant. Die Luft in den Kartons wirkte wie Treibstoff, also glich das Ergebnis des Unterfangens weniger einem Feuer als einer Explosion. Die Löschschläuche kämpften ohne große Wirkung gegen etwas, das sich als riesige einzelne Flamme entpuppte, die das Wasser mitten in der Luft verdampfte. Das Feuer, im Herzen von lebhaftem Gelb, schien bis zu den niedrigen dunstigen Wolken hinaufzureichen. Der Lärm war fürchterlich und schlug wie ein Wirbelwind auf die Trommelfelle ein.
Jeder Karton loderte gerade so lange auf, wie es dauerte, die empfindliche Pappe aufzuheizen und zu zerstören. Die einzelnen Lagen stürzten eine nach der anderen von unten nach oben ein, bis das Zikkuratdach in einem Bett aus Asche versank.
Unsicherer Applaus begegnete einer Szene totaler Zerstörung.
Brooke hatte gar nicht zugesehen. Von dem Moment an, in dem die erste Flamme aufgeflackert war, hatte er dem Spektakel den Rücken zugekehrt und in dem zunehmend grelleren Licht die Würdenträger auf dem Balkon beobachtet. Die Brille des Ministers verwandelte sich in zwei kleine Feuerkreise. Carnegie-Brown reagierte zuerst, wich plötzlich zurück und verschwand außer Sichtweite; dann flogen die Hände des Oberbürgermeisters an seine Lippen. Swift-Lane stolperte tatsächlich seitwärts, als hätten seine Beine unter ihm nachgegeben, sodass jemand seinen Arm ergreifen musste, um ihn auf den Füßen zu halten.
Die Menge, die sich in ehrfürchtigem Schweigen ergangen hatte, keuchte kollektiv auf. Ein Schrei zerriss die Luft.
Brooke drehte sich wieder zum Feuer um. Eine Gestalt stand in der Asche. Während er hinschaute, schien sie zu wachsen, schien sich im Stil eines Phönix von den Knien zu erheben. Brooke konnte das plötzliche Gefühl nicht abschütteln, dass dieser Mann wiederauferstanden war, als hätte die reine Macht von Hitze und Feuer ihn aus der Erde hervorgeholt. Für einen Moment stand die Gestalt still. Flammen leckten an den ausgestreckten Gliedern, loderten um den Kopf. Dann tat sie einen Schritt auf sie zu, ihre Hände vollführten eine Art Totensignale, die folgenden Schritte wirkten mechanisch, als wären die Glieder an den Gelenken verschmolzen.
Schließlich, aller Energie beraubt, sank die Gestalt am Rand eines Grabens, der ausgehoben worden war, um das Feuer einzudämmen, auf die Knie. Eine vereinzelte Flamme sprang aus ihrer Brust hervor, ehe sie – endlich – rücklings auf das feuchte, dampfende Gras fiel.
Die von Entsetzen getragene Stille war umfassend.
Brooke rannte los, schnappte sich am Rand des Schutzgrabens einen Löscheimer, überwand den Graben und war nach weiteren drei Schritten bei dem geschwärzten, verbrannten Leichnam, deren Gliedmaßen sich im Tod völlig verkrampft hatten. Rauch stieg von einem verkohlten Fuß auf. Brooke vermied es, sich anzusehen, was von seinem Gesicht übrig war, und stellte den Eimer ab.