Das Konzept des Opferns hatte sich Doric von jeher entzogen. Vielleicht lag es an seiner pragmatischen militärischen Ausbildung oder am gefährlichen Soldatenleben, aber die Idee, Wehrmaterial sozusagen gezielt auf dem Schlachtfeld darzubieten, das war ein Schachzug, der seinen Horizont überstieg und besser höheren Offiziersrängen vorbehalten blieb.
Die Hand des Pförtners schwebte über dem Turm, den Brooke in Gefahr gebracht hatte. Tonlos vor sich hin pfeifend packte er ihn und warf ihn in eine Balsaholzkiste. Er landete mit einem befriedigenden Tock!
»Es gibt schlechte Nachrichten, Mister Brooke«, sagte Doric. »Jenner hat was Neues über die Grabungen auf St. John’s Wilderness gehört. Die ganze Einheit wurde im Norden am Ende der Straße postiert. Scapa Flow. Da sind die alle. Keine Erklärung, kein gar nichts. Als wären sie nie hier gewesen.«
Nun, nachdem der Weg durch sein Opfer frei geworden war, zog Brooke seine Dame quer über das Brett, bedrohte Dorics König und dachte darüber nach, was diese neuesten Informationen wohl zu bedeuten haben mochten. Die Entschlossenheit des Militärs, jedes potenzielle Sicherheitsrisiko zu neutralisieren, war bemerkenswert; Henderson, Lauder und Popper saßen im County Gaol, die Soldaten, die am Flussufer gegraben hatten, wurden Richtung Polarkreis verbannt. Was um alles in der Welt befand sich bloß in diesen Gruben?
Der Pförtner zupfte seine Hose zurecht, zog die Bügelfalten gerade und raschelte unter dem Tisch mit seinen Schuhen. Dann stand er auf und holte ein Tablett mit übrig gebliebenem Essen aus der kleinen Küche: eine Platte mit Käse und Brot und dem, was er als »Monnits« bezeichnete. Monnits war alles, was man auf Brot oder Toast schmieren konnte: Marmeladen und Konfitüren, Honig oder, besonders beliebt im College, Gentleman’s Relish. Brooke hatte in seinem zweibändigen Oxford English Dictionary nachgesehen, doch es war ihm nicht gelungen, das Wort »Monnits« oder etwas in der Art zu finden.
Doric beäugte die Lebensmittel auf dem Tablett. »Dieses Feuer. Eine Frau, sagen Sie? Eine Vagabundin?«
»Das ist unsere Theorie. Nun ja, eine Frau ist es definitiv, eine Vagabundin vermutlich.«
Doric schüttelte den Kopf. »Nach dem Krieg hat es hier ein Dinner zur Feier des Sieges gegeben. War eine frostige Nacht im Januar neunzehn-neunzehn. Acht Gänge. Mit Schildkrötensuppe, daran erinnere ich mich noch. Wir waren alle in der Küche, um sie zu probieren. Je gegessen?«
Brooke schüttelte den Kopf, brach etwas Brot ab und fügte eine Scheibe Cheddar hinzu.
»Überschätzt«, sagte Doric mit einer gewissen Genugtuung. »Von einem guten Essen kann man lange zehren, Mister Brooke. Als ich an dem Abend nach dem Fest die Mülleimer rausgebracht habe, war er da, der Vagabund. Ich habe tote Männer gesehen, sterbende Männer. Aber das? Erfroren, haben sie gemeint. Direkt auf meiner Türschwelle, eingewickelt in einen Vorhang in der Nische beim Briefkasten wie eine Kirchenmaus …«
Er wischte sich die Hände an einer zusammengefalteten Serviette ab. »Das erinnert mich an was.« Er ging hinaus ins Postzimmer und kehrte mit einem Bündel Briefe zurück, die mit einem blauen Band zusammengebunden waren. »Die Tagesschicht hat Doktor Lux’ Zimmer ausgeräumt. Sie haben all sein Zeug in eine Teekiste gepackt. Der Oberpförtner hat mir gesagt, es wär alles in Sack und Tüten.«
Der Oberpförtner, dem nie die Ehre zuteil wurde, beim Namen genannt zu werden, war ein Inbegriff für Inkompetenz und Schlamperei.
»Darum habe ich einen Blick in sein Fach geworfen. Und siehe da …«
Doric tippte auf das Bündel.
Zwei Studenten kamen zur Pförtnerloge und wollten ein Boot für eine frühmorgendliche Rudertour auf dem Fluss buchen. Während Doric mit viel Herumgefuchtel den Papierkram erledigte, zog Brooke das Band ab, um das Postbündel zu lösen.
Objekt Nummer eins war ein Bewerbungsformular aus dem Bureau of Internal Revenue mit einem Poststempel aus Washington, D.C.
Objekt Nummer zwei: eine handschriftliche Notiz von einem Dr. Stern mit einer Reihe von akademischen Artikeln, die unter Lux’ Namen in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht worden waren. Ein Titel sprang Brooke ins Auge: Die Rolle von Aequorin bei der chemischen Reaktion zwischen Luciferin und Luciferase: Eine Fallstudie zur Biolumineszenz. Die Notiz war auf einem Zettel mit dem Wappen der University of California, Berkeley, geschrieben worden.
Objekt Nummer drei: die August-Oktober-Ausgabe von The Cordillera Climber, einer unbebilderten Zeitschrift, die in kleiner Schrift Hinweise zu Touren durch das gab, was Brooke als Rocky Mountains bezeichnet hätte.
Objekt Nummer vier: eine Postkarte, auf der eine schwere graue See mit einer Insel in einiger Entfernung abgebildet war, die von einem großen, aber schlichten Zweckbau, einem Turm und einem Leuchtturm beherrscht wurde. Ein Boot beanspruchte den Vordergrund, und sein V-förmiges Kielwasser zog sich bis zu einem Hafendamm.
Doric war mit den Ruderern fertig, also las Brooke die Postkarte laut vor:
Ernst, wir schicken dir all unsere Liebe. Wir haben einen Ausflug die Küste hinauf gemacht. Der Pfeil ist von deinem Vater. Das war seine Zelle! Er ist so stolz, obwohl das eine uralte Geschichte ist. Er behauptet, Al Capone hätte sein Zimmer bekommen. Wir denken immer an dich. Travis sagt, er meldet sich freiwillig zum Militär, wenn es so weit kommt. Du kannst dir den Krach sicher vorstellen. Versuch zu schreiben, du ahnst nicht, wie viel uns das bedeutet. Deine Mutter. XXX
Brooke drehte die Karte um, und da war er, ein mit Tinte gezeichneter Pfeil, der auf das Gebäude auf der Insel zeigte. Der Maßstab war zu klein, um ein einzelnes Fenster zu erkennen, aber die dichte Reihe sah eindeutig nach Gefängnis aus.
Er sah sich erneut die Rückseite an. Ganz unten war in kursiver Schrift eine Abbildungslegende aufgedruckt: US Federal Prison, Alcatraz, CA.