In dem morgendlichen Streiflicht, das durch die Fensterläden hereindrang, saß Vera Staunton Brooke in seinem Büro gegenüber. Sie hatte sich um acht Uhr beim Diensthabenden der Wache im Spinning House gemeldet und um ein Gespräch mit dem Inspector gebeten. Zur Begründung hatte sie erklärt, sie wünsche, eine Aussage im Zusammenhang mit dem Tod von Chris Childe zu machen. In geduldigem Schweigen warteten sie nun auf Tee und Edison, der gerufen worden war, um das Gespräch zu protokollieren.
Zu Stauntons Füßen stand ein Weidenkorb mit Einkäufen: ein Laib Brot, ein in braunes Metzgerpapier gewickeltes Päckchen, eine Dose Suppe. Auf ihrem Schoß ruhten ihre Handtasche und eine Ausgabe der Zeitschrift Britannia and Eve, auf deren Titelblatt eine junge Frau am Steuer eines offenen Sportcabriolets abgebildet war. Ihr roter Lippenstift passte perfekt zum Lack des Wagens, und auf ihrem Kopf saß eine Baskenmütze in genau dem richtigen Winkel.
Staunton trug einen langen Mantel, der an den Ärmeln ein wenig ausgefranst war, und ein paar flache Lederschuhe. Sie sah müde aus; beinahe wie eine Händlergattin mit Kindern im Haus, die einen Tag voller lästiger Pflichten vor sich hatte. Von der ungezwungenen Selbstsicherheit, die sie in ihren Räumlichkeiten in der Babylon Street zur Schau gestellt hatte, war nichts mehr übrig. Ihr Gesicht, ungeschminkt, wirkte verquollen, so, als hätte sie geweint.
Im Großen Krieg hatte Brooke viele Frauen gesehen, die zur Prostitution gezwungen gewesen waren. In Kairo hatte er Captain Kerridge oft in einer Bar in der Birka getroffen, dem Rotlichtbezirk der Stadt, um den neuesten Klatsch und sogenannte »geheime Informationen« auszutauschen. Läden, Bars und Bordelle lagen an einem See. Die Atmosphäre war fiebrig und mit gutem Grund, denn in den ersten Kriegsjahren war ein Aufstand ausgebrochen, ausgelöst durch die Entdeckung, dass ein englisches Mädchen nackt in einem Club getanzt hatte. Ein Mob Soldaten hatte versucht, sie zu »retten«, und wurde prompt aus einem Fenster im vierten Stock geworfen.
Die Frauen der Birka waren eingeschüchtert, nicht nur durch ihre Kundschaft und ein geradezu greifbares Schamgefühl, sondern auch durch die Männer, die in sämtlichen Treppenhäusern herumlungerten und die Menge auf der Suche nach herannahenden Kunden ständig im Auge behielten. Vera Staunton war in ihrem Metier von einer völlig anderen Aura umgeben: Sie wirkte eher wie eine lässige Kurtisane, eine berufstätige Frau, die man zu festgesetzten Zeiten aufsuchen konnte. Vor ihrer Tür in der Babylon Street hatte es keinen Kuppler gegeben, nur die alte Ida hatte von ihrem Zimmer am Ende des Korridors aus dann und wann ein Auge auf sie.
Edison traf mit Tee und Plätzchen ein und stellte beides ab, ehe er sich selbst auf einen Stuhl sinken ließ. Er war seit der Dämmerung unterwegs gewesen, um die Haustürbefragungen an der Mill Road zu organisieren, die versuchten – wenngleich erfolglos –, Zeugen zu finden, die Childes Mörder gesehen hatten. Mehrere Anwohner hatten den Schuss gehört, irgendwann zwischen sieben und Viertel nach acht, aber niemand hatte jemanden gesehen.
»Sie wollten eine Aussage machen«, ermunterte Brooke die Frau. Edison hatte sein Notizbuch bereits aufgeklappt vor sich auf dem Schreibtisch.
»Ich habe einen Freund«, sagte Staunton. »Einen Major Stone. Er besucht mich regelmäßig.«
»Ich verstehe«, sagte Brooke nickend, als wäre diese Erkenntnis gar nicht so überraschend. Und in Anbetracht seiner Verwirrung hätte der Euphemismus »Freund« beinahe funktioniert; eine geschickte Wahl, diesen Begriff zu wählen, anstelle von Gast, Bekannter oder Kunde.
»Und er bezahlt, um Sie zu besuchen und Ihr Freund zu sein«, kommentierte er.
»Ja«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Er zahlt.«
Eine Weile war nur das Kratzen der Feder von dem Füllhalter des Sergeants zu hören.
»Es handelt sich um Major Joelyn Stone aus Madingley Hall?«
Sie nickte. »An dem Morgen, an dem Chris mit dem Brief zu mir gekommen ist, da ist er Major Stone auf der Treppe begegnet. Major Stone – Joelyn – war zuvor mehrere Stunden bei mir gewesen. Später, gegen fünf, ist Joelyn zurückgekommen. Er hatte Chris beim Tribunal im Gericht gesehen. Joelyn hat den Vorsitz geführt. Er war überzeugt, dass Chris ihn erkannt hatte, und wollte wissen, ob er seit dem Tribunal noch einmal bei mir war, um Fragen zu stellen. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht mehr zurückgekommen ist; ich habe ihm gesagt, er hätte in dem schlechten Licht bestimmt einfach nur irgendeinen Soldaten auf der Treppe wahrgenommen. Chris hätte ihn als vorsitzenden Richter bei Gericht kaum erkennen können. Aber Joelyn hat mir nicht geglaubt … Er ist ein sehr ehrgeiziger Mann, dessen Karriere von der Meinung anderer abhängt«, sagte sie.
In Brookes Augen war dies eine vernichtende Aussage, und er fragte sich, ob sie sich diese Information – zusammen mit dem Rest ihrer Geschichte – zurechtgelegt hatte.
»Er hat darauf beharrt, dass er das nicht auf sich beruhen lassen könne. Der Zeitpunkt sei ganz besonders schlimm, hat er mir erklärt. Ich glaube, er hatte vor, Chris Geld für sein Schweigen zu bieten. Ich habe ihm gesagt, er soll einfach abwarten, aber er hat gemeint, das wäre keine Option.«
»Ist Major Stone verheiratet?«, fragte Edison.
»Ja. Mit der Tochter eines Generals. Ich glaube, die Beziehung ist ziemlich unterkühlt.«
»Was meinen Sie damit: Ich glaube, er hatte vor, Chris Geld zu geben? Wie kommen Sie darauf?«, fragte Brooke.
»Er hat mir einige Fragen über Chris gestellt: Wo er wohnt, wo er arbeitet, ob er Familie hat. Ich habe ihm erzählt, dass er schon oft knapp bei Kasse war und zwei Töchter habe. Das Haus in Romsey Town ist ärmlich und liegt mitten im Slum, jedenfalls in mancher Leute Augen, wenn auch nicht in meinen.«
»Ist Childe an diesem Tag noch einmal zurückgekommen?«, hakte Brooke nach.
Was sich am letzten Tag von Childes Leben ereignet hatte, war immer noch nicht ganz geklärt. Er hatte den Brief zu Staunton gebracht, sich auf dem Betriebshof zur Arbeit gemeldet, war vor dem Tribunal erschienen und dann zur Arbeit auf Midsummer Common zurückgegangen. Seine Leiche war am nächsten Morgen gefunden worden. Hatte er die Zeit gehabt, noch einmal in die Babylon Street zu gehen?
»Ich habe Chris nicht mehr gesehen, nicht, nachdem ich mit seinem Brief zur Post gegangen bin«, beharrte Staunton.
»Einem Brief, der nie angekommen ist, Mrs Staunton«, bemerkte Brooke.
»Für die Royal Mail kann ich nichts, Inspector. Oder für unser Hauptbüro«, sagte sie und schüttelte einen Armreif an ihrem rechten Handgelenk.
»Warum erzählen Sie uns erst jetzt von Major Stone?«, fragte Brooke. »Glauben Sie, der Major ist ein Mörder und hat einen Mann umgebracht, um seine eigene Position zu schützen?«
»Ich glaube nicht, dass er so etwas geplant hat«, entgegnete sie vorsichtig, und Brooke überlegte, wie verdächtig erst diese Aussage für eine Jury klingen würde. »Aber ich nehme an, wenn er Chris wirklich Geld angeboten hat, dann hätte der das abgelehnt. Er hätte es ihm ins Gesicht geworfen. Und er hätte womöglich manches gesagt: über mein Leben, über die Männer, die zu mir kommen, über die Übel von Geld und Macht. Wenn Chris einmal angefangen hat, dann hat er einfach alles hingerotzt. Vielleicht hat es Streit gegeben, vielleicht haben sie sich geprügelt. Möglich ist das.«
Sie wirkte ehrlich bewegt. »Ich musste es Ihnen sagen. Ich habe gestern Abend Mary besucht. Die haben kein Geld. Sie ist eine Witwe mit zwei Kindern, so wie ich eine Witwe mit einem Kind war, als Harry nicht zurückgekehrt ist. Ihr Leben ist ruiniert, Inspector. Sie wird sich jeden Tag abstrampeln müssen. Ich hätte es Ihnen früher sagen sollen. Es tut mir leid.«
Die braunen Augen füllten sich mit Tränen. »Mary verdient Gerechtigkeit. Ich dachte, ich sollte Ihnen die Wahrheit sagen, ganz egal, was es mich kostet. Die Kinder sollten erfahren, was ihrem Vater zugestoßen ist. Das ist das Einzige, was ich für sie tun kann.«
»Ich verstehe«, sagte Brooke in neutralem Tonfall und ermahnte sich im Stillen, dass diese vielschichtige Frau politischen Aktivismus mit der Arbeit als Prostituierte kombiniert hatte. Vielleicht fühlte sie wirklich so sehr mit Mary in ihrer Notlage. Vielleicht hatte sie aber auch andere Motive. »Wie viele Freunde haben Sie, Mrs Staunton? Ich frage nur im Interesse unserer Ermittlungen. War Childe je so ein Freund?«
»Um Gottes willen, nein. Chris liebt Mary. Mary liebt Chris. Offen gesagt, habe ich von ihm überhaupt keine sexuellen …« Sie suchte nach dem passenden Begriff. »Keine sexuellen Signale empfangen. Was die Zahl meiner Freunde betrifft, Inspector: Sechs, manchmal acht. Kommt darauf an …«
»Ich verstehe«, sagte Brooke wieder. »Wir werden Major Stone mit diesen Angaben konfrontieren müssen, und wir benötigen möglicherweise auch eine Beweisaussage von Ihnen.«
Edison hatte noch eine abschließende Frage: »Gehören irgendwelche Ihrer anderen Kunden dem Militär an?«
Staunton erhob sich mit locker fließenden Bewegungen, und Brooke dachte, sie würde die Frage einfach ignorieren, doch an der Tür hielt sie inne und drehte sich noch einmal um. »Sie gehören alle dem Militär an.«