KAPITEL NEUNUNDVIERZIG

Mit dem frisch ausgestellten Durchsuchungsbefehl nahm Edison den Wasp und fuhr zu Major Stones Haus. Brooke belegte einen Funkwagen mit einem uniformierten Fahrer mit Beschlag und ließ sich über halb beschattete Straßen hinaus zu Madingley Hall chauffieren. Am Schlagbaum begegnete er Colonel Swift-Lane, der das Gelände gerade am Steuer eines polierten schwarzen Bentley verlassen wollte.

»Inspector. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, rief der Colonel.

Brooke bat den Constable, das Fenster runterzukurbeln. Dennoch war diese Situation der unumwundenen Weitergabe von Informationen alles andere als förderlich. »Nein, Sir, wir ermitteln immer weiterhin; da sind noch ein paar lose Enden zu verknüpfen. Major Stone wird mir reichen. Kann ich Sie erreichen, falls ich Sie später sprechen möchte?«

»Auf jeden Fall. Rufen Sie einfach im Büro des Adjutanten an, die werden mich dann schon finden. Ich bin unterwegs zu einer Besprechung in Whitehall, werde aber gegen Abend zurück sein.«

Swift-Lane wirkte beinahe kindlich erregt. Brooke dachte an Kerridges sachkundige Zusammenfassung seiner Laufbahn und die geradezu jungenhafte Abenteuerlust. Der Mann wippte tatsächlich auf seinem Sitz auf und ab. »Wie kann Stone helfen?«, fragte er. »Er ist erst kurz vor Ihnen eingetroffen. Ist aus London zurückgekommen.«

»Ich werde Sie nicht länger aufhalten«, sagte Brooke und nickte seinem Fahrer zu.

Sie fuhren weiter und ließen Swift-Lane allein am Schlagbaum zurück.

Im Vorhof des Gebäudes herrschte reges Treiben. Tische auf Böcken voller schriftlicher Befehle standen auf dem Kies. Motorradkuriere mit Dokumentenmappen kamen und gingen.

»Ganz schöner Aufruhr«, kommentierte Stone, der immer noch neben seinem Dienstwagen stand, während ein Ordonnanzoffizier einen kleinen Koffer aus dem Kofferraum holte. »Invasionsübung, dieses Wochenende. Den Papierkram bekommen Sie zweifellos in der Stadt. Verdammtes Chaos hier … Und der CO ist losgefahren, um sich weitere Befehle von niemand Geringerem als der regionalen Truppenführung zu holen.«

»Ich müsste Sie einen Moment sprechen«, sagte Brooke, und Stone nickte liebenswürdig und ging voran zu seinem Büro. Von dem Argwohn, der bei ihrem letzten Zusammentreffen so deutlich spürbar war, war nichts mehr geblieben. Vielleicht, dachte Brooke, gefällt er sich einfach als Mann der Tat, auch wenn die Tat ausschließlich verwaltungstechnischer Natur ist.

»Geht es wieder um den Yankee-Wissenschaftler?«, fragte Stone hinter seinem Schreibtisch und entzündete einen Zigarrenstummel, der in einem Zinnaschenbecher gelegen hatte.

»Lux, Ernst Lux. Nein, jetzt geht es um eine ganz andere Angelegenheit.«

Stone ging zum Fenster und füllte seine Lunge mit frischer Landluft.

Brooke musterte seinen breiten Rücken. »Kennen Sie eine Frau namens Vera Staunton?«

Stone drehte sich um, versuchte sich an einem Lächeln, doch das wich schnell einem Ausdruck von Ärger, und er knallte das Stabkreuzfenster zu.

»Welches Interesse haben Sie an Vera?«, fragte er und kam zurück zu seinem Schreibtischstuhl.

»Major, ich weiß, das ist langweilig, aber ich fürchte, ich bin derjenige, der die Fragen stellt. Colonel Swift-Lane ist ebenso erpicht darauf wie ich, den Mörder von Chris Childe zu finden. Ich kann …«

Stone reckte abrupt die Hand hoch, um dem Gedanken an den CO eine Abfuhr zu erteilen.

»Ich denke, wir können die Grundlage ihrer Beziehung zu Vera Staunton als gegeben ansehen, Major«, sagte Brooke. »Ich bin nicht hier, weil mir daran gelegen wäre, ein unbedeutendes Urteil wegen sexueller Dienstleistungen zu erwirken. Sie …«

»Vera ist keine gewöhnliche Prostituierte«, sagte Stone so leise, es klang beinahe wie ein Flüstern.

»In welcher Hinsicht ist sie ungewöhnlich?«

»Sie wahrt den Anstand«, sagte Stone, hörte sich aber an, als wüsste er nicht, ob er ihr damit wirklich gerecht wurde. »Sie ist eine respektable Frau, eine Kriegswitwe. Eine …«

»Und eine Angehörige der kommunistischen Partei und der Peace Pledge Union …«

Stone entspannte die zuvor geblähte Brust. »Ich denke, Sie werden feststellen, dass ihre Rolle bei der bevorstehenden Revolution auf das Füllen von Briefumschlägen beschränkt sein wird. Die Parteizusammenkünfte liefern ihr einen Ausgleich auf intellektueller Ebene. Sie haben sie rekrutiert, wissen Sie? Sie ist eine überzeugte Pazifistin, aber keine Bolschewikin. Und dies ist ein freies Land. Ist das nicht das, worum es bei all dem hier geht?«

Brooke ahnte, dass Stone versuchte, den Verlauf der Befragung in eine andere Richtung zu lenken. »Sie dürften wissen, dass auf einem der städtischen Friedhöfe ein Mann mit einer tödlichen Schusswunde aufgefunden wurde. Die Zeitungen haben detailliert berichtet. Er war ein Kriegsdienstverweigerer namens Chris Childe. Getötet durch einen Schuss in die linke Schläfe.«

Stone hatte genickt, eine kaum wahrnehmbare Bewegung seines kantigen Kinns, und er nickte weiter, doch Brooke hatte das Gefühl, dass er damit ein gewisses Maß an Erschrecken zu überspielen versuchte. Hatte Swift-Lane seinen Stellvertreter vielleicht nicht umfassend über die Angelegenheit informiert?

»Ich verstehe«, sagte Stone. »Bin ich in irgendeiner Weise verdächtig?«

»Mrs Staunton hat eine Aussage gemacht, der zufolge Sie sie in der Nacht der Großen Verdunkelung in ihren Räumen aufgesucht haben und am nächsten Morgen, als Sie gegangen sind, auf der Treppe einem Mann begegnet sind. Sie behauptet weiterhin, dieser Mann sei Childe gewesen. Später sind Sie unerwartet zu ihr zurückgekehrt und haben ihr erzählt, dass Sie ihn ein weiteres Mal gesehen haben, vor Gericht, als er um eine bedingungslose Registrierung ersucht hat. Sie fürchteten, erkannt worden zu sein, und – mutmaßlich – dass der Mann Sie erpressen könnte. Staunton erklärte, sie hätte unter dem Eindruck gestanden, dass Sie versuchen würden, Childe Geld für ein bestimmtes Maß an Diskretion anzubieten. Haben Sie?«

»Nein.« Er ordnete seine Hände auf dem Schreibtisch neu an, hob den Metallfinger mit der gesunden Hand.

Einige unruhige Sekunden lang dachte Brooke, dass er nun nur noch mit platter Verleugnung würde rechnen können, doch der Major ließ die Schultern hängen und sah ihm in die Augen.

»Ich dachte, es wäre kontraproduktiv, an ihn heranzutreten, Brooke. Warum meine Ängste offenbaren? Sollte er den Mumm haben und versuchen, das, was er wusste, zu nutzen, dann, und nur dann, hätte ich ihm Geld angeboten, ja. Oder mir etwas ausgedacht, womit ich ihm meinerseits hätte drohen können. Die Entscheidungen des Tribunals sind schließlich anfechtbar. Er hatte nicht alle Trümpfe in der Hand.«

»Haben Sie irgendetwas unternommen?«

»Ja. Ich hatte den Eindruck, dass Childe dem Tribunal gegenüber hinsichtlich seiner politischen Verbindungen nicht ganz ehrlich war. Vera konnte meine Wissenslücken schließen. Ich habe beim Urkundsbeamten des Gerichts eine Notiz hinterlassen und darum gebeten, sie in Kopie meinen Beisitzern beim Tribunal zukommen lassen. Darin habe ich erklärt, dass ich eine unserer jüngsten Entscheidungen möglicherweise noch einmal überdenken werde. Ich habe dem Urkundsbeamten Childes Fallnummer genannt. Er wird eine Notiz dazu haben. Ich habe mich auf Veras Urteilsvermögen verlassen. Childe war kein Unruhestifter. Aber hätte er versucht, zu verwenden, was er über mich wusste, dann hätte ich zumindest die Mittel zu einem Gegenschlag gehabt. Ich hatte keine Veranlassung, den Mann zu töten, Brooke. Gar keine. Ich hatte die Situation unter Kontrolle.«

Brooke dachte an den Anblick von Childes zertrümmertem Schädel auf dem Stahlkissen in der Leichenhalle.

»Haben Sie den Schuss abgefeuert, der Chris Childe getötet hat?«

Dieses Mal gelang ihm das Lächeln, und er ließ ein kurzes Lachen folgen. »Ich bin nicht überzeugt, dass Panik oder Überreaktionen zu den militärischen Tugenden zählen«, sagte er gelassen.

»Es tut mir leid, aber das ist eine ernsthafte Befragung. Ich kann sie auch im Spinning House fortsetzen. Haben Sie diesen Schuss abgefeuert?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Pistole?«

Stone knöpfte sein Lederholster ab und legte es auf den Tisch. Brooke fielen die gezierten Initialen und das Regimentswappen auf dem Griff auf, und er fragte sich, ob dies die Waffe war, mit der er im Schützengraben seine eigene Hand verstümmelt hatte.

Brookes Jackett hatte eine Billettasche, aus der er nun eine Kugel holte, die er auf den Schreibtisch legte.

»Das ist die Kugel, die Chris Childe getötet hat; sie steckte in einem Baum. Ist direkt durch sein Gehirn durchgegangen und doch erstaunlich intakt. Es wird einfach sein, sie mit der Mordwaffe abzugleichen.«

»Zweifellos«, sagte Stone und schob die Pistole im Holster über den Tisch. »Bedienen Sie sich.«

»Ich habe einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Haus erwirkt. Die Durchsuchung läuft gerade. Besitzen Sie weitere Waffen?«

»Sie durchsuchen gerade mein Haus?« Stone, der normalerweise ein rosiges Gesicht hatte, wirkte plötzlich völlig blutleer. »Wird meine Frau eine Erklärung dazu erhalten?«

»Nein. Wir müssen einfach nur jegliche Feuerwaffen suchen und aus Ihrem Besitz entfernen. Und wir brauchen eine Aussage von ihr über Ihren Verbleib in der Nacht, in der Childe gestorben ist. Ich wiederhole meine Frage: Besitzen Sie noch weitere Pistolen, die dieses Kaliber abfeuern können?«

»Nicht, dass ich wüsste. Der Vater meiner Frau hat Pistolen gesammelt. Die liegen alle in vernagelten Kisten. Im Obergeschoss haben wir eine Art Waffenausstellung. Offen gestanden handelt es sich größtenteils um Antiquitäten der Indian Army. Und wir haben eine Flinte in der Küche, aber keine Munition.«

Brooke machte sich eine Notiz.

»Wenn die Kugel nicht passt, hat das dann ein Ende?«, fragte Stone.

»Nein, aber wenn wir auch keine andere passende Waffe finden und Sie Ihren Verbleib in der Nacht des Mordes schlüssig darlegen können, dann sind wir, denke ich, fertig. Können Sie?«

»Ich war bis fünf bei Gericht. Dann bin ich auf einem Umweg zu Veras Wohnung nach Hause gegangen. Ich habe den Fahrer weggeschickt, das ist nur eine Meile. Um acht Uhr dreißig haben wir mit Freunden zu Abend gegessen. Meine Frau kann das bestätigen. Unsere Gäste gingen um elf. Am nächsten Morgen habe ich ein Taxi zum Bahnhof genommen, und wir hielten kurz bei Gericht an, damit ich die Notiz für den Urkundsbeamten hinterlegen konnte …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Zug um neun Uhr siebzehn erwischt und dann zwei Nächte in meinem Club verbracht. Ich bin gerade erst zurückgekommen, Sie treffen mich hier unmittelbar nach meinem Eintreffen an.«

Brooke nickte. »Wir werden einige notwendige Überprüfungen durchführen müssen. Kann ich inzwischen davon ausgehen, dass Sie hier in der Hall im Dienst sein werden? Keine dringenden Militärübungen auf höchster Ebene außer Landes geplant?«

Brooke hatte seine Stimme um einen leicht spöttischen Tonfall angereichert, und er konnte sehen, dass Stones Selbstherrlichkeit ausreichend angekratzt war, dass er sich ein wenig in die Brust warf.

»Auf kurze Sicht, nein. Keine Pläne, Brooke. Aber mir wurde vom Kriegsministerium ein neues Kommando zugewiesen, um genau zu sein, vom Premierminister. Das unterliegt allerdings der Geheimhaltung, sonst würde ich Sie einweihen. Ende des Monats werde ich fort sein.«

»Hoffen wir es«, entgegnete Brooke.