KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG

Die Abenddämmerung legte sich über Cambridge. Ein Dunst aus Flussnebel und Kohlenrauch braute sich im Licht der untergehenden Sonne zusammen und trübte in mittlerer Entfernung die Aussicht, sodass der Blick aus Brookes Büro über die Universitätslabore nur mehr eine graue Dachlandschaft, durchbrochen von elektrischen Lampen, zutage brachte. An einem Fenster konnte er einen Labortechniker im weißen Kittel sehen, der im Licht eines Bunsenbrenners geduldig ein Teströhrchen mit einer Zange über die Flamme hielt. Das Galen ragte aus der Masse hervor, die weiße Fliesenfassade des Anatomiegebäudes schimmerte sonderbar im Zwielicht.

Brooke dachte an die fahlen Leichen im Inneren, verteilt auf ihre metallenen Särge. Dem Tod im Galen haftete etwas Albtraumhaftes an: Die Überreste von Lux, Childe und Sneeth kamen immer wieder ans Licht, wenn sie für eine weitere Untersuchung herausgeholt wurden. Gestrandet in diesem sonderbaren Fegefeuer, würde ihnen ihr Frieden verwehrt bleiben, bis ihre Fälle endlich abgeschlossen waren.

Brooke wies Edison an, Major Joelyn Stone aus den Zellen heraufzuholen. Als er ihn bald darauf von seinen Handschellen befreit hatte, setzten sie ihn hin und ließen ihm neben einem Tumbler eine Flasche Bell’s. Stones gesunde Hand war ruhig, als er an dem Whisky nippte. Seine Uniform hatte man ihm abgenommen, um sie zusammen mit Kleidungsstücken aus seinem Haus auf Schussrückstände zu untersuchen. In Ermangelung der militärischen Hülle wirkte er eigenartig verwundbar.

»Wir fanden diese Waffe in ihrem Spind auf dem Schießstand von Madingley«, sagte Brooke und ließ die Waffe aus dem grünen Filzbeutel poltern.

Stone streckte eine Hand aus, hielt dann inne und blickte zu Brooke hinauf.

»Bedienen Sie sich. Es gibt keine Fingerabdrücke; selbst unsere bescheidenen Ressourcen umfassen noch Kohlepulver und einen Pinsel. Sie ist sauber. Um genau zu sein, ist sie so sauber, dass ich annehme, sie wurde abgewischt.«

Stone hielt die Waffe locker in der Hand. »Aber die gehört nicht mir, Inspector. Ich habe diese Dinger gesehen, damals, am Ende des Krieges. Deutsche Gefangene hatten sie, Souvenirs von der Ostfront. Die hatten sie den Rotarmisten abgenommen.«

»Ich mache mir mehr Sorgen darüber, dass Sie bestritten haben, noch andere Pistolen zu besitzen. Sie vergaßen, die zu erwähnen, die Sie auf dem Schießstand aufbewahren.«

»Die in meinem Spind ist eine Webley .45 – uralt, ein verdammtes Museumsstück. Hab ich vergessen, tut mir leid.« Er kippte den Whisky hinunter und schenkte sich nach.

»Diese Waffe war in Ihrem Spind, Major. Welche Erklärung haben Sie dafür?«

»Nein. Meine ist eine .45 Webley«, sagte er matt.

»Diese Waffe hat Chris Childe getötet«, informierte ihn Brooke. »Daran besteht kein Zweifel. Ich habe Sie zweimal gefragt, ob Sie den Schuss abgefeuert haben, der ihn getötet hat, Major.«

»Ich habe diesen Schuss nicht abgefeuert«, beharrte Stone und betrachtete die Pistole eingehend, bis er die Inschrift entdeckte. »Ich habe diese Waffe nie zuvor gesehen. Was haben diese Buchstaben zu bedeuten?«

»Ah, dieses Rätsel hat interessanterweise Ihre Frau gelöst.«

Zum ersten Mal erkannte Brooke Furcht in Stones Augen, vielleicht spiegelte sich in ihnen eine Ahnung, dass er den Rest seines Lebens in einer Gefängniszelle verbringen könnte. Oder war es die Scham über die öffentliche Demontage, die sich plötzlich in aller Deutlichkeit vor ihm abzeichnete?

»Meine Frau? Was zum Teufel weiß die über Waffen?«

»Sie ist die Tochter eines Generals. Ich glaube nicht, dass ich Sie daran erinnern muss. Der General hat Pistolen gesammelt. Er hatte drei Söhne. Sie alle haben beim Militär gedient, und sie alle haben ihrem Vater interessante Waffen mitgebracht. Einer von ihnen war Captain in der Armoured Car Expenditionary Force in Russland. Der ACEF. Alles echte Draufgänger, ein Brüderbund, nach dem Großen Krieg auf die Rote Armee losgelassen. Weißer Terror und all das. Ruhm und Orden. Um fair zu sein, Ihre Frau konnte die Waffe an sich nicht identifizieren, aber es steht außer Frage, dass eine Jury diese Koinzidenz überzeugend finden würde, meinen Sie nicht?«

Stone trank einen weiteren großen Schluck von seinem Whisky. Inzwischen war er von einer Aura der Verzweiflung umgeben; vielleicht war es das Gefühl, dass das Leben, was er gekannt hatte, tatsächlich seinen verwundeten Fingern entglitt.

Er bemühte sich, seine Würde wiederzugewinnen, und wischte imaginären Staub von seinem weißen Hemd.

»Wenn Sie mich anklagen wollen, dann tun Sie das.«

Edison lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, bis der knarrte, und streichelte mit einer Hand die Pfeife in seiner Jackentasche.

»Ich werde Ihnen sagen, was passiert ist«, verkündete Brooke. »Sie sind an jenem Morgen in dem Haus in der Babylon Street mit Childe zusammengestoßen. Wenige Stunden später steht er unübersehbar vor Gericht, und Sie führen den Vorsitz. Keine Perücken, keine Roben. Sie haben ihn erkannt, hat er also auch Sie erkannt? Es stand eine Menge auf dem Spiel; nicht nur ihre Ehe mit der Generalstochter, sondern eine ganze Karriere. Sie sagten selbst, Sie erwarten, einen neuen Posten zu erhalten. Womöglich endlich eine Chance zu brillieren.«

Stones gesunde Hand schloss sich auf der Tischplatte zu einer festen Faust.

»Nach dem Tribunal haben Sie Vera Staunton aufgesucht. Sie dachten, Sie könnten Childe kaufen. Sie dachten, das Problem ließe sich mit Geld aus der Welt schaffen. Wie haben Sie ihn auf dem Friedhof aufgespürt? Vera Staunton wusste, dass Childe an diesem Tag auf Midsummer Common arbeiten würde. Ich denke, Sie haben sich dort umgesehen. Es wäre ein Leichtes für Sie gewesen, ihm zur Mill Road zu folgen … Haben Sie dort versucht, ihm Geld anzubieten, oder war die Gelegenheit zu gut, um sie zu verpassen? Ein verlassener Friedhof in der Abenddämmerung?«

Stone wollte etwas sagen, aber Brooke reckte eine Hand hoch.

»Dann, nehme ich an, sind Sie zum Abendessen nach Hause gegangen. Später sind Sie mit Ihrem eigenen Wagen wieder in die Babylon Street gefahren. Mein Sergeant sagte mir, das ist ein schwarzer Ford, und er steht in der Garage hinter Blenheim House. Wir überprüfen gerade, ob die Reifen zu den Spuren passen, die hinter Ida Trews Wohnung gefunden wurden. Denn Ida war diejenige, die Sie aufsuchen wollten.«

»Was hat das alles mit Ida zu tun?«

»Sie ist tot, Major, wie Sie sehr gut wissen, denn Sie haben sie getötet.«

Stone stand auf, aber darauf war Edison vorbereitet. Er setzte sein eigenes Gewicht ein, um den Major zurück auf seinen Stuhl zu befördern.

»Wenn Sie noch einmal aufstehen, legen wir Ihnen die Handschellen wieder an«, warnte Brooke. »Ja, Ida, die Türhüterin. Sie hat gesehen, wer da gekommen und gegangen ist. Ein Schwatz hier, eine Tasse guter Tee da? Sie hat Childe gesehen, einen Fremden, also wird sie sich an ihn erinnert haben. Was hat Ida noch gesehen? Was hätte sie gesagt, hätte man sie nach Veras Kunden gefragt? Wollten Sie sie umbringen? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sie eine unbeirrbare Seele war.«

»Ida? Brooke, sie ist eine achtzigjährige Frau. Denken Sie, ich hätte sie umgebracht, um meine Karriere zu schützen? Das ist lächerlich.«

»Die Leiche war ein Problem«, fuhr Brooke fort. »Ich nehme an, Sie haben sie in den Wagen geschafft und sind zum Fluss gefahren. Am Kofferraum Ihres Ford befinden sich Blutspuren. Auch die untersuchen wir …«

»Ein Ausflug nach Schottland, Brooke. Wir waren schießen. Ich hatte den Kofferraum voller Fasane.«

Brooke ignorierte ihn. »Es war Ihre Aufgabe, dort einen Wachmann zu postieren, aber ich habe nachgesehen, vor Mitternacht war der nicht auf seinem Posten. Also bot sich Ihnen eine günstige Gelegenheit. Das große Feuer würde keine Spuren zurücklassen. Aber dabei ist ein Fehler passiert. Sie war nicht tot. Vielleicht hat sich da ein Hauch von Panik gezeigt. Haben Sie sich überhaupt die Mühe gemacht, ihren Puls zu suchen? Aber Ihre Laufbahn ist in Bezug auf Furcht und Panik so oder so nicht ganz makellos, nicht wahr?«

Stone fing an zu zittern, eine hochfrequente Vibration, die sich in seinen Fingern offenbarte. »Was fällt Ihnen ein?«

»Möglicherweise sollten Sie heute Nacht in Ihrer Zelle über Ida nachdenken, Major. Sie war bewusstlos, das steht so gut wie fest, also gibt es wenigstens einen kleinen Trost. Wäre sie sich selbst überlassen geblieben, wäre sie früher oder später gestorben. Ihr Herz war schwach, es hätte irgendwann einfach versagt. Aber dann wurde das Feuer entfacht, und das hat sie ins Leben zurückgeholt, Stone. Der Schmerz des Feuers, die Flammen und die Hitze an ihrem Körper.«