Über der Bühne der auf dem Market Hill neu erbauten Guildhall – Rathaus, Bürgergemeinschaftshaus und Veranstaltungszentrum in einem – hing ein Banner, das in fußhohen Buchstaben brüllte:
WILLKOMMENSFRÜHSTÜCK
THE NATIONAL JOINT COMMITTEE
FOR SPANISH RELIEF
Als Brooke eintraf, saßen die Kinder alle an aufgebockten Tischen und schlangen gekochte Eier, Toast mit Margarine und Marmelade hinunter, umklammerten Krüge mit Milch oder wässrigen Sirupgetränken. Patriotische Musik plärrte aus Lautsprechern zu beiden Seiten der Orgelpfeifen, die die Bühne dominierten.
Ein Mann betrat das Podest und leitete den formellen Teil der Veranstaltung ein, indem er eine Liste von Namen verlas. Begleitet von Applaus traten die aufgerufenen Kinder vor, um einheimischen Familien zugewiesen zu werden, die sie als Ziehkinder aufnehmen würden.
Auf eine leichte Berührung an der Schulter hin drehte Brooke sich um und sah eine Frau dicht vor sich stehen. »Mister Brooke? Detective Inspector Brooke? Ich habe im Krankenhaus eine Nachricht bekommen. Ich bin Ginny Waites, Ernsts Freundin.«
Sie hatte zwei Gläser mit anämischer Siruplösung bei sich. Für eine Frau von vielleicht zwanzig schlug sich in ihrer Stimme und Körpersprache eine bemerkenswert gelassene Selbstsicherheit nieder.
»Sie waren Ernst Lux’ Freundin?«, fragte Brooke.
Sie nickte. »Ja. Wir sehen uns schon seit ein paar Jahren – nun ja, zwei Jahre und ein Monat. Aber ich nehme an, ich war die Einzige, die mitgezählt hat … Einmal, bei einem langen Spaziergang am Fluss, dachte ich, er würde mir einen Antrag machen. Nun werde ich es nie erfahren.«
»Es tut mir leid«, sagte Brooke und ließ der Plattitüde ein paar Sekunden Zeit, um ihr Wirkung zu verleihen, während sie zusahen, wie ein weiteres Kind die Stufen erklomm.
»Es geht darum, dass einer seiner Freunde, Marcus Ashmore, verschwunden ist«, fuhr Brooke dann fort. »Sind Sie ihm mal begegnet? Er hatte das Zimmer gegenüber von Ernst.«
»Ja, ein- oder zweimal. Diese Welt, das College, das war nicht meine Welt. Wir haben den größten Teil unserer gemeinsamen Zeit in meiner Wohnung verbracht, oder wir sind spazieren, ins Kino oder in einen Pub auf dem Land gegangen. In seine Arbeit habe ich mich nicht eingemischt, das habe ich ganz ihm überlassen, damit er weiterkommen konnte. Ich bin Krankenschwester, also verstehe ich das. Arbeit ist wichtig, nicht wahr?«
Ihr Blick schweifte wieder zu den feierlichen Vorgängen auf der Bühne zurück.
»Es gibt Gerede im Michaelhouse«, sagte sie. »Ich bin einem der Absolventen auf der Straße begegnet. Es mag Nonsens sein, aber er sagte, es würden Gerüchte die Runde machen, dass Ernst geklettert wäre in der Nacht, in der er gestorben ist. Dass er mit jemand anderem zusammen war. War das Marcus?«
»Ja, tut mir leid.«
Sie nickte. »Ich verstehe. Also hat er mich am Ende doch hintergangen«, konstatierte sie, und Brooke war erstaunt über den Ärger, der sich in ihrer Stimme kundtat.
»Inwiefern?«
»Wegen dieser Nachtkletterei. Die ist kindisch und lebensgefährlich. Ich bin Krankenschwester. Ernst war ein Wissenschaftler, der sich dafür eingesetzt hat, das Leben ausgebeuteter Arbeiter zu schützen. Das hat uns zusammengebracht. Klingt furchtbar, nicht wahr? Ein Weltverbessererpärchen.« Sie lachte kopfschüttelnd. »Diese Kinder … Ihre Eltern sind gestorben – oder vermisst oder Schlimmeres –, weil sie ein Ideal verfolgt haben. Ernst hingegen ist wegen eines Nervenkitzels umgekommen. Es wird mir nicht leichtfallen, ihm das zu vergeben.«
Wieder sah sie zur Bühne hinauf, wo die Kinder gerade für einen Fotografen posierten.
Brooke zog die Postkarte hervor, die Doric aus Lux’ Fach geholt hatte.
»Das hat mein Interesse geweckt«, sagte er und ließ sie die kurze Nachricht lesen. »Wissen Sie, warum Ernsts Vater einmal in einer Zelle in Alcatraz gesessen hat?«
Sie lachte. »Ich habe Frank und Millie letztes Weihnachten kennengelernt. Sie sind beide rübergekommen, auf der Normandie. Sehr mondän. Die Familie hat ihr Geld mit dem Export von Orangen gemacht, wie es scheint. Klingt idyllisch, nicht wahr? Pazifikstrände, Orangenhaine, Schnee auf der Sierra Nevada. Frank ist sehr stolz auf seine Zeit hinter Gittern. Und Ernst war auch stolz darauf. Sehen Sie, Frank hat sich geweigert, im Großen Krieg zu kämpfen. Er war Kriegsdienstverweigerer. Von der Sorte gibt es nicht so viele, schätze ich. Damals war die Insel ein Militärgefängnis. Ein paar Monate hinter Gittern, und dann haben sie ihn zum Holzfällen in die Berge geschickt.«
»Ernst hatte Verständnis für die Haltung seines Vaters, auf politischer Ebene?«
»Ja. Er war zweifellos Pazifist. Ich bin Siebenunddreißig für einen Monat nach Spanien gegangen, in ein Krankenhaus in Tarragona. Ernst fand das falsch, weil es die Kriegsanstrengungen unterstützen würde, auch wenn da Menschen waren, die uns gebraucht haben. Natürlich hat er für die hiesige Regierung gearbeitet, aber dafür hatte er eine Rechtfertigung, zumindest vor sich selbst. Einerseits bedeutete das, dass er seine Forschungen fortsetzen konnte, andererseits hat er sich irgendeine Art von Zusicherung verschafft, dass das Projekt humanitärer Art war. Aber er hat auch nicht allzu viele Fragen gestellt.«
Die Menge erhob sich, um gemeinsam ein Kirchenlied zu singen, das Brooke nicht kannte.
»Jetzt wünschte ich, er wäre mit mir nach Spanien gegangen. Da gab es einen Strand vor dem Krankenhaus in Tarragona, und die Wellen haben bei Nacht geleuchtet. Da gibt es so winzige Meeresalgen, die leuchten. Ernst kannte die Theorie, aber er hat es nie gesehen; es war wunderschön, wie die Wellen sich aufgebaut haben und dann brachen, wobei sie von innen leuchteten. Das hätte ich so gern mit ihm geteilt.«