Als Brooke ins Spinning House zurückkehrte, fand er Captain Kerridge schlafend auf einer Bank im Eingangsbereich vor. Der Sergeant der Wache erklärte, er sei kurz nach Tagesanbruch aufgetaucht, um den Inspector zu sprechen, und habe gesagt, er warte gern. Ein schwacher Geruch von Malzwhisky hing in der Luft, im Kampf gegen die Ausdünstungen der Bleiche in dem Reinigungsmittel, das unten in den Zellen benutzt wurde.
In Brookes Büro stürzte Kerridge einen Kaffee hinunter und zog eine Akte aus seinem Mantel. »Das hier ändert alles«, sagte er.
Und so war es.
Eine Stunde später saß Brooke immer noch an seinem Schreibtisch und versuchte einzuschätzen, welche genaue Bedeutung Corporal Stauntons Geschichte für den Fall insgesamt haben mochte. Vera Staunton war nicht die Witwe eines unbekannten Soldaten aus den Schützengräben des Großen Krieges; ihr Mann, ein Freiwilliger, war gestorben, als er im Russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken gekämpft hatte. Er hatte zur ACEF gehört – der Armoured Car Expeditionary Force, einer verwegenen Einheit, eine enthusiastische Komponente dessen, was später als Weißer Terror bekannt geworden war. Statt eines menschlichen Opfers des Gemetzels an der Westfront, Symbol der sinnlosen Brutalität des Krieges, war er ein reaktionärer Kämpfer gewesen, ein Mann, der die Schlacht gesucht hatte, einen halben Kontinent von seinem Heimatland entfernt.
Und dann war da die Pistole. Man hatte sie der Witwe zurückgegeben. Konnte es irgendeinen Zweifel daran geben, dass dies die Waffe war, die Brooke in Stones Spind gefunden hatte? Und wenn das der Fall war, warum ging sie dann zur Polizei und legte sein verräterisches Motiv bloß, Childe tot sehen zu wollen? Die Fragen wirbelten durch seinen Kopf, das Puzzle war wieder offen.
Die Akte deutete darauf hin, dass noch mehr Lügen erzählt worden waren. Mrs Staunton hatte den Kameraden ihres verstorbenen Mannes weisgemacht, es gäbe keine weiteren Angehörigen. Wo war der junge Frederick geblieben?
Staunton hatte gesagt, ihr Sohn habe eine Privatschulbildung genossen. Also hatte er eine gebührenpflichtige Internatsschule besucht, hatte mit den anderen Schülern zusammengelebt. Ida Trew, die Türhüterin in der Babylon Street, hatte bei Bedarf auf den Jungen aufgepasst, als er noch ein Kind gewesen war. Hatte Staunton beschlossen, ihren Jungen in der Nähe zu behalten, in der Stadt, als er größer geworden war?
Brooke schickte Edison in sein Büro im Erdgeschoss, um zu telefonieren und bei den vielen gebührenpflichtigen Schulen der Stadt anzuklingeln, in denen die Kinder der Reichen sich einer guten Bildung im Schatten jener großen Universität erfreuen durften, die sie später einmal besuchen würden. Sollte seine Suche fehlschlagen, würden sie Staunton zur Befragung festnehmen. Für den Augenblick wollte Brooke sie jedoch in Unkenntnis darüber belassen, dass ihre Lügen aufgedeckt worden waren.
Vorübergehend wandte sich Brooke wieder Ernst Lux und der Suche nach Marcus Ashmore zu. Er rief im Michaelhouse an und bat darum, in Professor Ashmores Räumlichkeiten durchgestellt zu werden. Das Gespräch war kurz und feindselig. Einmal waren sie Nachbarn gewesen, Freunde sogar. Nun, so schien es, wurde Brookes Platz in der Welt durch seinen Rang bestimmt. Der Professor hatte zu tun. Er habe keine Ahnung, wo Marcus war, gehe aber davon aus, dass er Cambridge verlassen hatte, um für die Regierung zu arbeiten.
»Wenn ich ihn finde, lasse ich es Sie wissen«, erbot sich Brooke, aber da war die Leitung schon tot.
Detective Inspector Solly, der an seinem Schreibtisch in West Bar, Sheffield, saß, war hingegen vergleichsweise redselig.
»Brooke? Nein, keine Spur, fürchte ich. Gretorix ist verschwunden. Am besten, wir vergessen ihn einfach. Currie, Ihr unerlaubt abwesender Soldat, wurde gestern in Sharrow Vale beigesetzt. Wir hatten einen Mann vor Ort, aber außer seiner Familie war niemand da. Jede Menge Blumen, die meisten vermutlich von den Männern, die ihn umgebracht haben. Die werden sich um seine Familie kümmern, das tun sie immer. Macht einen krank. Ginger Thorpe ist auch nirgends aufzutreiben; das war unser dritter Fahrer. Er hat es offensichtlich nach Sheffield zurückgeschafft, aber nun ist er auch verschwunden.«
Brooke hörte zu, wie Solly an einer Zigarette zog.
»Über das Fleisch gibt es bessere Nachrichten, also passen Sie auf.«
Die CID Sheffield hatte ausreichend Personal auftreiben können, um das alte genossenschaftliche Schlachthaus, von dem nun nur eine heruntergekommene Industrieruine im Flusstal des River Don übrig war, vierundzwanzig Stunden zu überwachen. Das Schlachthaus selbst war verfallen und hatte keinen Strom. Dennoch fuhren Lastwagen auf den alten Fahrzeughof und verließen ihn wieder, während ein Rudel Deutscher Schäferhunde das Gelände bewachte. Die aktuelle Theorie besagte, dass das Fleisch dorthin gebracht, zerlegt und dann rasch auf verschiedene Lager im Norden verteilt wurde.
»Wir versuchen, einen Mann da reinzubringen«, berichtete Solly. »Für den Augenblick bleibt nur, abzuwarten. Die hohen Tiere wollen wissen, wer die ganze Sache organisiert. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Brooke machte eine Mittagspause und ging zur Masonic Hall, wo er sich an seinen üblichen Tisch setzte, um in Frieden ein Sandwich zu essen und ein paar Notizen zu Stauntons Akte festzuhalten. Edison tauchte auf und holte sich eine Portion Cottage Pie, ehe er sich zu seinem Vorgesetzten setzte.
Edison begutachtete sein Essen und lächelte. »Wir haben ihn, Sir«, sagte er. »Den jungen Frederick Staunton. Der Direktor lässt grüßen. Ich habe ihm gesagt, Sie würden ihn gern sprechen, und er sagte, es wäre ihm ein Vergnügen, denn es handelt sich um die alte Schule Ihres Vaters, Sir. St. Botolphs?«