Brooke hatte nicht mehr in der Kapelle gesessen seit dem Gedenkgottesdienst für seinen Vater vor nicht ganz zwanzig Jahren. Damals Schnee, heute strahlender Sonnenschein, der durch das Buntglas hereinströmte und rote, purpurne und blaue Farbtupfer auf das polierte Holz spritzte. Törichterweise reagierte er regelrecht erschrocken auf die nüchterne, fast schon banale Wirkung, die die Kapelle nun auf ihn erzielte. In seiner Erinnerung war das Kirchengestühl unter dem an ein Spinnennetz erinnernden Gewölbedach angefüllt mit Herrschaften in feinem Staat, die seinem Vater in feierlicher Atmosphäre das letzte Geleit geben wollten. Seinerzeit, in der vordersten Reihe direkt vor dem Pult, war es ihm vorgekommen, als wäre jeder Text, der aus der Bibel oder von Tennyson oder Kipling gelesen wurde, speziell für ihn ausgewählt worden.
Heute saß er allein in annähernder Stille da, und das einzige Geräusch, das er hörte, war das Rascheln eines Besens irgendwo jenseits der offenen Tür zur Sakristei. Die Kapelle fühlte sich schäbig an – oder, um es mit Claires Worten zu sagen – angegriffen; die neugotischen Könige wirkten fehl am Platz, die aufgehängten Regimentsstandarten unverhältnismäßig.
Auf Brookes Bitte hin hatte der Pförtner, der ihn hergeführt hatte, die in den Boden eingelassene Gedenktafel aus Messing aufgespürt.
Prof. Sir John Brooke
1833–1921
Schüler, Mitglied des Beirats, Förderer
Präsident der British Paediatric Association
Nobelpreis für Medizin im Jahr 1903
für seine Arbeit an Seren und auf dem Gebiet der Diphterie bei Kleinkindern
Der Pförtner stützte sich auf seinen Besen. »Hat Leben gerettet, jawohl«, sagte er. »So heißt es jedenfalls. Tausende – sogar Millionen. Im Empire, in Indien und so weiter. Sind Sie ein Arzt?«
»Er war mein Vater«, erklärte Brooke.
Der Pförtner hantierte mit seinem Besen. »Ich werd verrückt. Das ist ja ein Ding.«
Peinlich berührt ergriff der Mann die Flucht.
In der Nähe der Tafel stand auf einem Regalbrett ein Glaskasten, in dem eine Pistole lag. Eine Kupferplakette kündete von den Heldentaten des Eigners, eines jungen Subalternoffiziers, der im Sudan eigenhändig eine Revolte bezwungen hatte. Brooke erinnerte der Anblick daran, dass ein Alibi ebenso sehr von der exakten Kenntnis des Verbleibs eines Gegenstands – insbesondere wenn es sich um eine Mordwaffe handelte – abhängig sein konnte wie von einer Person.
Er ließ den Gedanken in der kühlen Stille gedeihen.
Schritte hallten durch das Kirchenschiff, und als Brooke sich umblickte, sah er einen Mann mit militärisch forschem Schritt näher kommen. Er stellte sich als Dr. Paget vor, Schuldirektor.
»Inspector? Man sagte mir, Sie seien hier.« Etwas unbeholfen setzte sich Paget auf den Chorstuhl gegenüber von Brooke und strich sich die schmale Krawatte glatt. »Ihr Vater hat dieser Schule große Ehre gemacht«, bekundete er.
Brooke rang sich ein minimales Nicken ab. »Frederick Staunton«, sagte er. »Um genauer zu sein, seine Mutter. Kennen Sie sie gut?«
»Ja. Eine Witwe. Sie besucht den Jungen oft, aber er geht nie nach Hause. In den Ferien besucht er Kadettenanstalten, bereitet sich auf das große Abenteuer vor. Mehrere der Jungs haben Familie hier in Cambridge; das bedeutet, sie können voll und ganz am Schulleben teilnehmen. Es sind zwar auch ein paar Jungs hier, die nicht im Internat leben, aber die sind, wie soll ich es sagen, Randerscheinungen?«
»Sie haben ihn unterrichtet?«
»Ich unterrichte ihn – Freddie ist in der elften Klasse. Dabei ist er gerade sechzehn, jung für dieses Schuljahr; tatsächlich glaube ich sogar, er ist der Jüngste. Er ist eher klein, aber zäh. Nächstes Jahr macht er seinen Abschluss, aber es gibt jetzt schon Gerede über angebotene Arbeitsstellen, sofern er nicht direkt weiter zur Universität geht. Klug ist er auch, also ist ein Stipendium in Reichweite, was ihm natürlich die Studiengebühren ersparen würde.«
Geboren 1923, überlegte Brooke; drei Jahre nach dem Heldentod seines Vaters.
Die Uhr der Kapelle schlug die Stunde, und Dr. Paget zog die Brauen hoch, als läutete sie auch das Ende des Gesprächs ein.
»Die Gebühren wurden immer pünktlich bezahlt?«, fragte Brooke.
»Pünktlich wie ein Uhrwerk«, sagte Paget, und Brooke konnte das eisige Missfallen in seinen Worten spüren. Er fragte sich, wie viele Mitarbeiter von St. Botolph wussten, welchem Gewerbe Mrs Staunton nachging.
»Ich würde gern mit ihm sprechen, wenn Sie gestatten«, sagte Brooke.
»Das ist nicht so einfach«, erwiderte Paget. »Wie ich bereits sagte, er ist ein eifriger Kadett. Derzeit sind sie außer Reichweite draußen auf dem Schießstand. Ein guter Schütze, dieser Freddy. Und alles in allem recht beliebt. Und ich benötige Mrs Stauntons Genehmigung, wenn ich Sie zu ihm lassen soll. Schulregeln, wissen Sie, in Anbetracht seines Alters … Ich bin sicher, Sie verstehen das. Aber Sie könnten sich auch die Erlaubnis seines Betreuers einholen.«
Brooke konnte dem Köder nicht widerstehen. »Freddie hat einen Betreuer?«
»Ja, einer der Angehörigen unseres Beirats seit dem letzten Krieg. Soweit ich es verstanden habe, war er der kommandierende Offizier des verstorbenen Mister Staunton. Er interessiert sich für Freddie, nicht allzu sehr, aber immerhin.«
»Ich brauche seinen Namen«, sagte Brooke.