KAPITEL DREIUNDSECHZIG

Brooke verbrachte eine kostbare Stunde schlafend in Zelle sechs, in der sein Unterbewusstsein jedoch ununterbrochen daran arbeitete, das komplizierte Puzzle um das Schicksal von Chris Childe zusammenzusetzen. Folglich schien es, als er kurz nach zwei Uhr morgens erwachte, als breitete sich, wenngleich nicht offen sichtbar, so doch zumindest in vagen Umrissen, die Geschichte in gröbsten Zügen vor ihm aus. Im Kern von all dem befand sich Vera Stauntons Lügengeschichte über den tragischen Tod ihres Gatten im Großen Krieg. Kaum hatte er das begriffen und erkannt, warum sie log, da zeigte sich alles Übrige in einem helleren Licht.

Die, wenn man so wollte, Feuerprobe sollte genau acht Stunden später stattfinden, um zehn Uhr vormittags an einer vereinbarten Stätte; genauer gesagt, an einer Hinrichtungsstätte. Noch hatte er die Schuldigen nicht hinbeordert, doch er zweifelte nicht daran, dass sie erscheinen würden, begierig, andere zu belasten und an den Ort des Verbrechens zurückzukehren.

Zunächst aber musste er einen Unschuldigen freilassen.

Trotz der Stunde traf er Major Stone lesend in seiner Zelle an. Brooke betrachtete den Einband: Clausewitz, On War.

Brooke zog die Waffe mit der Prägung ACEF hervor.

»Die Ironie ist, dass dies die Waffe ist, die beweist, dass Sie Chris Childe nicht getötet haben können«, sagte er und beanspruchte den einzigen Stuhl in der Zelle. Er hatte eine Flasche Whisky aus seinem Schreibtisch mitgebracht und schenkte jedem einen Schluck in einen Zinnbecher. »Es steht Ihnen frei zu gehen, Major, aber vielleicht wollen Sie sich zunächst anhören, was ich zu meiner Entschuldigung vorzubringen habe. Die Waffe, müssen Sie wissen, gehört Vera Staunton. Zunächst, das gebe ich zu, kam es mir durchaus denkbar vor, dass Sie sie aus ihren Räumlichkeiten mitgenommen haben. Dann wurde mir klar, dass die Waffe selbst Ihnen ein Alibi gibt …«

Brooke räusperte sich. »Ich fand sie zwei Tage nach dem Mord in Ihrem Spind in Madingley Hall. Sie haben die Hall vor dem Mord verlassen und drei Tage in London verbracht, und Sie sind bei Ihrer Rückkehr direkt unter meinen Augen selbst durch das Tor gefahren. Verstehen Sie? Die Hall ist gut gesichert, und alle Besucher müssen sich ein- und austragen. Sie konnten die Waffe nicht wieder dorthin zurückgebracht haben – gewiss nicht persönlich, und ich erinnere mich nicht, dass irgendjemand einen Hinweis darauf gegeben hätte, dass Sie eine Horde Helfershelfer haben könnten. Wer immer die Waffe in dem Spind deponiert und die Webley .45 verschwinden lassen hat, wollte Ihnen die Tat anhängen. Ausgehend von dieser Gewissheit können wir von vorn beginnen … Tatsache ist, dass der Mörder Ihre Unschuld bewiesen hat, als er versuchte, Ihnen die Schlinge um den Hals zu legen.«

Brooke kippte den Whisky hinunter und verzog das Gesicht.

»Es ist spät, sollten Sie also schlafen wollen, dann nur zu. Ich lasse die Tür offen, und der diensthabende Sergeant hat seine Anweisungen. Ich bitte erneut um Entschuldigung. Ich zweifle nicht daran, dass, wäre dieser Fall vor Gericht gelandet, eine Jury Sie für schuldig befunden hätte. Wir sind also beide gerade noch mal davongekommen.«

Sie schüttelten einander die Hand, dann ging Brooke und blickte nicht zurück. Stone hatte nicht ein einziges Wort gesagt.

Die Straßen waren dunkel. Nur wenige Fußgänger eilten heimwärts, und die Geschäftsfronten waren längst fest verrammelt. Der letzte Bus, in dem es nur Stehplätze gab, schob sich durch die Regent Street, mürrische Gesichter drückten sich an seine Fensterscheiben. Ein Trupp Soldaten, die vor dem Postamt eine Barriere aus Sandsäcken aufstapelten, hatte eine Pause eingelegt, um Zigaretten zu rauchen und ein wenig zu faulenzen. Einer von ihnen pfiff bewundernd einer jungen Frau hinterher, die auf einem Fahrrad vorübersauste.

Bei Frank Edwardes trank er Tee, und während die Funkgeräte ihre Morsebotschaften piepten, konsultierte er die Who’s-Who-Ausgabe des Hauses. Anschließend diskutierten sie das Aufziehen des Winters, den ersten Hauch von Frost in der Luft, das Laub, das sich über das Outfield von Fenner’s Spielfeld verteilte und jenseits der Begrenzung unter den Bäumen sammelte.

Die Sirene blieb stumm, folglich war der Market Hill, als er ihn später aufsuchte, voller Menschen, und an Roses Stand herrschte Hochbetrieb. Heißes Fett waberte durch die Luft, als sie geübt ein Bataillon Bratwürste durchrüttelte.

Er nahm seinen Becher entgegen und ging zum Brunnen hinüber.

In der Ecke des Platzes, auf der die Peas Hill am Gerichtsgebäude vorüberlief, fielen ihm fünf schwarze Taxis auf, die am Taxistand parkten. Jo Ashmores Stimme hallte in seinen Ohren nach, wie sie versuchte, Brooke ihre Sorge um das Wohlergehen ihres Bruders Marcus begreiflich zu machen: »Vater sagte, er sei gestern um Mitternacht in einem Taxi von zu Hause weggefahren.«

Er sprach mit den Taxifahrern. Der Erste hatte schon seit einer Woche keine Fahrt mehr gehabt, die ihn nach Newnham Croft hinausgeführt hätte, während der Zweite sagte, zu dieser speziellen Zeit hätte das die Nachtschicht betroffen. Also wartete Brooke, die fünf Taxis wurden in Anspruch genommen, und er lauschte den besänftigenden Klängen eines himmlischen Madrigals, das eine Gruppe Studenten auf den Stufen von Great St. Mary’s zum Besten gab.

Dann erklommen drei Taxis Peas Hill. Erklommen? Die Steigung war so minimal, dass man nicht einmal erkennen konnte, in welche Richtung es aufwärtsging und in welche abwärts. Von Castle Hill abgesehen war die ganze Stadt eine passende Pforte für die ebenen Fens.

Alle drei Taxifahrer erklärten nachdrücklich, dass sie keinen Fahrgast von einem der großen Häuser in Newnham Croft aufgenommen hatten.

Auch diese Taxis wurden wieder gebraucht, und der Taxistand blieb leer zurück.

Brooke wartete weitere zwanzig Minuten und wollte gerade weitergehen, als ein Taxi auf den Platz rollte, dessen abgedeckte Scheinwerfer kaum noch zu erkennen waren. Lediglich der polierte schwarze Lack verlieh ihm physische Substanz, und die Reflexionen auf der Oberfläche schimmerten geheimnisvoll, als es den vordersten Startplatz am Taxistand einnahm.

Ja, der Fahrer hatte jemanden in der Nacht zuvor an dem Haus abgeholt. Einen jungen Mann mit Koffer, einen Schlipsträger, der auf dem Rücksitz Platz genommen hatte.

»Er hatte etwas getrunken«, verriet der Fahrer und drehte bedeutsam das Handgelenk.

»Fahrtziel?«

»Madingley Hall. Das große Haus …«