Drei Tage später saß Brooke allein im Vorlesungssaal des Galen und betrachtete das flackernde schwarz-weiße Viereck, auf dem der Film ablief, den eine knisternde Tonspur begleitete, bis das Bild erlosch und eine handbeschriftete Tafel angezeigt wurde, auf der in Kreide geschrieben stand:
KRIEGSMINISTERIUM
EXPERIMENTE AUF SOAY
21.-25. JULI 1939
Ein verschwommenes Standbild, dann wieder die Tafel mit neuer Beschriftung:
VERSCHLUSSSACHE
HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG VON PORTON DOWN
Nun folgte ein Begleitkommentar ganz im Stil ranghoher Whitehall-Bürokraten.
»Soay«, so wurde dem Zuschauer erklärt, »ist eine abgelegene Insel der Inselgruppe St. Kilda, mehr als sechzig Meilen weiter westlich als die Äußeren Hebriden. Eine Insel im Atlantik, eine Tagesreise mit dem Boot von der Isle of Lewis.«
Die Stimme sprach die Namen auf betont traditionelle Art aus.
Diese Inselgruppe hatte man ausgewählt, weil sogar Hirta, die Hauptinsel, unbewohnt war, und das bereits seit der Evakuierung der gesamten Bevölkerung im Jahr 1930. Die Entfernung von Lewis bedeutete, dass ablandige Westwinde keinerlei tödliche Gefahr für Menschen bargen.
Warum, fragte sich Brooke, sollte Wind eine lebensbedrohliche Gefahr darstellen?
Forschungen in Bezug auf »BW« wurde sowohl in Oxford als auch in Cambridge betrieben, fuhr der Kommentator fort. Ein Serum war entwickelt worden, Vollum 14578, und man hoffte, die Experimente auf Soay würden Klarheit darüber schaffen, ob die Sporen eine Verbreitung über Mörser oder Eins-Komma-acht-Kilo-Bomben überstehen und eine Bevölkerung infizieren konnten.
Brookes Gehirn verarbeitete diese Information nicht; es nahm sie lediglich zur Kenntnis, analysierte sie aber nicht und verzichtete auf jede Art von Fragen. Was bedeutet BW?
Der Film lief mit dem vage fieberhaften Tempo von Stummfilmen an. Soay und Hirta waren von Bord eines stampfenden Boots aus zu sehen. Tausend Fuß hohe Klippen schienen optisch in der schweren grauen See zu versinken, während der Himmel so voller Vögel war, dass er geradezu brodelte. Trotz der körnigen Aufnahmen projizierte die Szene ein ganz eigenes Licht, bestehend aus der Gischt, die an sich aufbäumende weiße Rösser erinnerte, und den kreisenden Möwen, die sich in neon-weißer Intensität von einer grauen, veränderlichen Welt abhoben.
»Der gewählte Erreger ist das Milzbrandbakterium«, erklärte der Sprecher. »Der Film beginnt bei Base X auf Hirta.«
Milzbrand. Nun zwang sich Brookes Bewusstsein die erste Frage auf: Was wusste er über den Milzbranderreger? Ein Bakterium, sicher. Eines, das eine Infektion und eine tödliche Krankheit auslöste, die sich über seine Sporen verbreitete – seine Saat.
BW – Biologische Waffen.
Soay – Gälisch, so der Sprecher, für »windige Insel« – erwies sich als ein der Hauptinsel vorgelagertes felsiges Eiland, das von einem abgeböschten Hochmoor beherrscht wurde. Ein in einer Bucht vor Anker liegendes Boot wurde über einen Steg mit Schafen beladen und anschließend von einem Landungsboot zu der Insel gezogen, wo die Tiere dann von Hunden an Land geführt wurden.
Der Film sprang weiter zu einer anderen Szene. Hier waren die Schafe oben auf dem Hochmoor zu sehen, eingepfercht in Kisten, aus denen nur die Köpfe herausschauten, und die waren mit Hauben abgedeckt. Bei dieser neuesten Würdelosigkeit rutschte Brooke auf dem harten Stuhl herum. Verhüllte Köpfe verwiesen auf Exekution: Waren die Züge verborgen, ging das Mitgefühl – vielleicht – verloren. Die Nutzung solcher Mittel vermittelte eine Ahnung von der Schändlichkeit.
Die Stimme hingegen erklärte ganz kühl und gelassen, dass Kisten und Hauben dazu gedacht waren, sicherzustellen, dass jegliche mögliche Todesfälle allein das Ergebnis der Inhalation von Sporen waren und nicht durch irgendwelche anderen Einflüsse – sei es ein direkter physischer Kontakt oder die Infektion durch ein anderes Tier – ausgelöst worden war.
Die Männer trugen ebenfalls Kapuzen. Man hatte eine Gasmaske passend gefertigt, um sie mit einer großen Haube aus einer Art Folie zu verbinden, die über einem Ganzkörperanzug saß. Die Kisten wurden auf den Hang geschleppt und in drei parallelen Linien aufgestellt, sodass die Tiere der Wolke entgegenblicken würden. Die Stimme versuchte, dem Ganzen eine Aura vornehmer Pflichterfüllung zu verleihen, als hätten die Opfer irgendeine Wahl.
Die diversen Verteilungsmethoden wurden in einem Ton besprochen, der an einen aufgeregten Schuljungen erinnerte. Ein Bombenangriff war erprobt worden, doch die Eins-Komma-acht-Kilo-Bomben waren in die torfige Erde eingedrungen und stecken geblieben, ohne zu detonieren. Eine nächtliche Übung wurde in Betracht gezogen, in der das Bakterium mit einem lumineszierenden Stoff verbunden werden sollte, damit die Wolke bei Dunkelheit sichtbar war. Dies hatte sich als praktikabel erwiesen, und in Porton Down wurde die Suche nach einem passenden Uran-Isotop vorangetrieben.
Ein lumineszierender Stoff … war das, überlegte Brooke, Ernst Lux’ ungewollter Beitrag zu diesem Projekt?
»Aber der heutige Beschuss wird mithilfe eines umgekehrten Mörsers durchgeführt. Eine Granate wird von einem hölzernen Galgen in den Boden gefeuert.«
In einer Totalaufnahme des weiten Moors kontrastierte der Galgen stark mit dem weißen Himmel, doch hing an ihm ein nach unten zeigender Waffenlauf anstelle der Leiche eines Verbrechers. Eine plötzliche Erschütterung kennzeichnete den Schuss, und dann trieb eine schmutzige Rauchfahne von der Stelle aus auf die Schafe in ihren Kisten zu. Binnen einer oder zwei Sekunden war sie schon nicht mehr zu sehen, von der stürmischen Luft über dem Atlantik in der Atmosphäre verteilt.
»Nun ist es unerlässlich, die Wirkung des Erregers zu überwachen.«
Die Szene endete, und die Tafel verkündete: DER NÄCHSTE TAG.
Verhüllte Männer waren damit beschäftigt, die Schafe herauszulassen und an Seilstränge zu binden. Eines oder zwei rissen sich los, und der Ton des Sprechers änderte sich. »Jeder, der glaubt, ein Schaf sei ein frommes, seelenruhiges Tier, sollte einmal versuchen, eines zu bändigen, dem der Sinn nach Freiheit steht!« Wie in einer überspannten komischen Oper jagten Männer hinter den Tieren her.
TAG DREI
»Das Sterben hat begonnen.«
Mehrere der Tiere lagen regungslos an ihren Haltestricken. Diese wurden von ihren Seilen befreit und auf Schubkarren geladen. Brooke fiel auf, dass die Männer nicht einen Blick auf die Tiere warfen, die noch am Leben waren.
TAG SIEBEN
»Nur wenige Tiere haben überlebt. Nun ist es erforderlich, Autopsien durchzuführen, um sicherzugehen, dass der Tod infolge der Inhalation der Milzbrandsporen eingetreten ist.«
Einigen wenigen Schafen waren die Ohren abgeschnitten worden, um für mikroskopische Untersuchungen Blutproben auf Objektträger zu schmieren, aber die meisten wurden einfach auf einem Felsen unterhalb eines zweckdienlichen Wasserfalls aufgeschnitten.
Drei vermummte Gestalten standen daneben, während die Tiere ausgenommen wurden, und die Gasmasken wandten sich einander zu, als eine lebhafte Konversation einsetzte.
Die Kadaver und Eingeweide wurden vor Ort in einem Verbrennungsofen am Strand eingeäschert, die Anzüge und Masken der Männer in heiße Desinfektionsapparate gestopft, die man auf dem steinigen Ufer aufgebaut hatte.
Eine letzte Wendung der Ereignisse veranlasste Brooke, den Blick abzuwenden.
»Es ist weiterhin von Interesse, die Physiologie jener Schafe zu untersuchen, die den Test überlebt haben.«
Ein vermummter Mann streichelte ein Schaf, ehe er eine kleine Pistole hervorholte und seitlich an den Kopf presste. Der unhörbare Schuss löste einen Krampf aus, eine Sekunde später plumpste das Tier zu Boden.
»Die Befunde deuten darauf hin, dass die Soay-Expedition ein Erfolg war«, sagte der Sprecher und hob dabei die Stimme, um zu signalisieren, dass das Schlusswort gekommen war. »Der Erreger kann verteilt werden und ist effizient. Nun werden weitere Forschungen nötig, um festzustellen, welche Todesraten erzielt werden können, wenn es sich bei dem Zielbestand um große, komplexe Säugetiere handelt. Erste Untersuchungen werden auf Institutsebene an Pferden durchgeführt. Die Anfangsphase von Operation Pegasus ist bereits im Gang.«
Nun wurden sechs Männer gezeigt, die, sichtlich begeistert, endlich frei zu sein von den Schutzanzügen und Masken, um ein Feuer herumstanden und Tee tranken. Einer von ihnen hatte sich eine Wollmütze aufgesetzt, die er nun wie zur Feier eines Sieges lüftete.
Der Film schloss mit den Insignien von Porton Down und dem kurz eingeblendeten Bild einer flatternden Union Flag. Dann drehte sich die Spule frei auf dem Projektor. Das Licht wurde zu einem Leuchtfeuer auf dem Viereck aus weißem Papier, und Brooke dachte zurück an die Schüsse, die in der Nacht der Großen Verdunkelung von St. John’s Wilderness her an seine Ohren gedrungen waren und die er auf Wilderer zurückgeführt hatte. Und dann sah er wieder die Männer, die sich abrackerten, um die leeren Wagen zu ziehen.
»Pferde«, sagte er laut.
Sie hatten im Zuge ihrer Anthrax-Experimente Pferde infiziert. Einige waren gestorben, andere hatten keine Symptome entwickelt, aber sie konnten kein Risiko eingehen. Sie hatten die getöteten Pferde in den Gruben verscharrt und dann die übrigen erschossen, die die Wagen gezogen hatten.
Der Film hatte ihm ein Gefühl hilfloser Verzweiflung vermittelt. Aber was ihn nun auf die Beine brachte, war eine Idee, eine furchtbare Idee, so tödlich wie die Milzbrand-Saat. Und diese Idee sprang voll ausgereift aus dem Laderaum eines leeren Lasters, der am Castle Hill geparkt hatte.