KAPITEL NEUNUNDSECHZIG

Sechs Stunden später holten sie Aldiss an seinem Labor im Herzen von Cambridge ab. Der Wissenschaftler kletterte mit einem Satz Laborkittel, einer Schachtel Gummihandschuhe und einer Vier-Gallonen-Ballonflasche, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, an Bord. Edison hatte bereits einen A-Ständer mit dem Schriftzug POLIZEI – ZUTRITT VERBOTEN besorgt. Ein Funkwagen, der schon zur Manor Farm geschickt worden war, ehe Brooke Sheffield verlassen hatte, war bereits vor Ort und hatte Anweisungen, niemanden rein- oder rauszulassen. »Sagen Sie, es handelt sich um eine Quarantänemaßnahme«, bat Brooke Carnegie-Brown telefonisch. »Aber lassen Sie darüber hinaus nichts verlauten.«

Kurz nach Tagesanbruch verließen sie Cambridge und folgten dem Fluss in nördlicher Richtung. Ein einsames Nebelband kennzeichnete seinen gewundenen Lauf durch die überschwemmten Auen. Der erste Kontrollpunkt der Polizei befand sich am Rand von Horningsea, wo ein uniformierter Constable mit weißen Manschetten gerade einen Traktor auf einen Nebenweg dirigierte. Bis auf einen Landarbeiter, der am Straßenrand Richtung Norden trottete, war das Dorf selbst noch nicht erwacht.

An der Zufahrt zur Manor Farm stießen sie auf den Funkwagen, der die Straße blockierte, während PC Cable das Hoftor bewachte.

»Sir.«

»Cable. Irgendwas los hier?«

»Der nächste Nachbar ist da drüben.« Er deutete über zwei Felder hinweg zu einem Doppelhaus. »Landarbeiter. Sie haben von Sneeths Tod gehört; Dorfklatsch. Die Ehefrau – Elspeth – wurde nicht mehr gesehen, seit sie den Leichnam identifiziert hat. Ich bin seit einer Stunde hier, und bisher hat sich nichts gerührt.«

Cable schaute den Weg zum Bauernhaus hinunter. Keine Katze, kein Hund, nicht mal eine Wolke am Himmel.

»Bleiben Sie hier, wir sehen uns das an«, sagte Brooke.

Aldiss ließen sie ebenfalls am Tor zurück, als sie sich auf den Weg zum Haus machten. Die Gesichtsmasken hingen an ihrem Hals, aber sie hatten sie noch nicht aufgesetzt.

»Doktor Comfort ist der Ansicht, dass es gar nicht so einfach ist, sich Milzbrand von einem anderen Menschen zu holen«, erklärte Brooke. »Alles, was wir zu tun haben, ist, direkten Hautkontakt zu vermeiden, Abstand zu halten, falls jemand hustet, und der Versuchung zu widerstehen, die Einladung zu hausgemachter Fleischpastete anzunehmen. Verstanden?«

Edison nickte.

Die Eingangstür des Bauernhauses war unverschlossen. Als sie die Schwelle überquerten, fühlte sich die Luft kälter an, und das weiße Licht der Dämmerung zeichnete kühle Flecken auf die Tapete. Sie kontrollierten das Erdgeschoss, fanden aber nichts. Die Tür zum Raum des Jungen im Obergeschoss stand offen wie schon bei ihrem ersten Besuch. Das Bett war leer. Brooke fragte sich, ob sie draußen auf den Feldern ein frisches Grab finden würden, als sie das unverkennbare Getrappel eines kanternden Pferdes hörten, dessen Hufe einen freudigen Rhythmus schlugen.

Brooke schob das Fenster hoch, gerade als Jed Sneeth auf einem braunen Pferd aus dem Wald kam. Er ritt das Tal hinauf und trieb das Tier immer weiter, die letzte Energie aus seinen Muskeln herauskitzelnd, ehe er es am Scheunentor zügelte.

Der Junge pfiff tatsächlich eine Melodie, als sie den Stall erreichten. Mit einer Bürste in jeder Hand strich er kraftvoll über die verschwitzte Flanke des Pferdes.

»Wir dachten, du bist krank«, sagte Brooke und hielt sich die Gesichtsmaske vor die Brust.

»Nein, ich hab doch gesagt, ich bin auf dem Weg der Besserung.« Erschrocken über die Masken, fuhr er sich mit der Hand durch die Mähne. »Was ist los?«

Sie antworteten nicht.

»Das ist Broomstick«, sagte Sneeth, »mein Pferd. Jedenfalls für heute. Mum sagt, wir müssen sie verkaufen und auch alles andere, was nicht festgenagelt ist. Wir gehen zurück nach Gainsborough – auf den Hof meines Onkels. Da wird es andere Pferde geben, trotzdem werde ich sie vermissen.«

»Das Pferdefleisch, das dein Vater verarbeitet hat, war kontaminiert«, sagte Brooke. »Es ist tödlich, Jed. Wir dachten, es würde dich umbringen …«

Der Junge schüttelte den Kopf und ließ die Bürste fallen. »Dad hat es cheval genannt, aber das ändert nichts daran, was es ist. Ich konnte das nicht …«

»Wir können deine Mutter nicht finden«, sagte Edison.

»Sie ist bei ihrer Schwester in Newmarket; gegen Mittag kommt sie zurück. Aber sie hat auch nichts davon gegessen.«

»Ist noch etwas übrig?«, fragte Brooke.

Der Junge führte sie in die Küche und öffnete die Tür zur Speisekammer. Brooke fand das Fleisch unter einem Nesseltuch; ein großes, außerordentlich mageres Stück, gemasert wie feinstes Rind.

»Dad hat es geliebt«, erzählte er. »Das ist unsere Sonderzulage. Von den anderen hat niemand etwas bekommen, nur wir und Currie, der Soldat. Er hat das organisiert. Dad meinte, das wäre riskant, Fleisch von toten Tieren, die nicht geschlachtet worden sind. Eigentlich hätte man das gar nicht anrühren sollen. Aber er mochte es so gern. Currie hat gesagt, die Pferde wären gestorben, als sie eine Droge ausprobiert haben, eine Arznei, und dass das Fleisch in Ordnung wäre. ›Für den Verzehr geeignet‹, sagte er. Ich mochte ihn nicht, aber er hat immer ein paar Flaschen Bier für Dad gekauft. Den Rest haben wir auch gegessen. Ein Stück Schwein, Hammel, einen Fasan. Dad meinte, es wäre wie bei der Arche, nur umgekehrt. Eine Hälfte für uns, eine für Currie, und da war das Pferdefleisch dabei.

Er hat es aber auch nicht gegessen. Er hat gesagt, er hätte einen besonderen Kunden oben in Madingley Hall, und der würde gut bezahlen. Spitzenpreise.«