KAPITEL EINUNDSIEBZIG

Eine weiße Welt dehnte sich jenseits der nördlichen Stadtgrenze von Cambridge aus. Das schneebedeckte Sumpfland zog sich bis zum frostig-frischen Horizont. Station DA, drei Hütten auf einem feuchten Feld im Marschland, war von einem zweireihigen Stacheldrahtzaun umgeben, an dem Eiszapfen hingen, von denen sich im kalten Sonnenschein Wassertropfen lösten. Ein Army-Posten stampfte auf dem gefrorenen Torf, unterzog Brookes Passierschein einer flüchtigen Überprüfung und wies ihn an, auf einem Abschnitt einer alten Piste zu parken, auf der einige Motorräder Schnee auf ihren Ledersätteln sammelten.

Die Ruinen einer alten Abtei standen auf einer kleinen Anhöhe. Brookes historische Kenntnisse über die Fen Islands waren eher wackelig, aber er glaubte sich zu erinnern, dass es da eine Verbindung zum Templerorden gab und das Land als Sicherheitsleistung gedient hatte. Es verströmte immer noch die triste, matte Energie einer verlorenen Zeit. Jenseits der alten Mauer saßen einige Schwäne in einem Torffeld, die Köpfe erhoben, die Hälse gekrümmt wie Fragezeichen. Über ihnen flog in V-Formation ein Schwarm Gänse gen Norden in Richtung Meer.

Marcus Ashmore wartete auf dem Besucherparkplatz auf ihn. Jede einzelne Parkbucht war mit gekalkten Ziegelsteinen markiert, die man auf dem Zementboden ausgelegt hatte.

»Brooke«, sagte er. »Gehen wir in mein Büro?«

Er zeigte auf eine der Hütten. Der Junge hat sich verändert, dachte Brooke, während sie schweigend zur Hütte gingen. Noch vor einem Monat, als sie einander in seinem Haus gesprochen hatten, war er eine scheue, introvertierte Version seines kindlichen Ich gewesen. Nun schritt er schwungvoll aus und verströmte ein so tiefes Selbstvertrauen, als hätte er endlich den Platz gefunden, an dem er wirklich er selbst sein konnte.

In der Hütte standen mit Papieren übersäte Tische auf Böcken, an denen zwanzig Männer und eine einzige Frau arbeiteten, deren Kleidung – Tweedjacke, weißes Hemd und Krawatte – eine Art informeller Uniform darzustellen schien. Pfeifenrauch hing in der Luft, und ein armseliges Gasfeuer verströmte einen Bernsteinschimmer von Wärme.

Brooke nahm das Aroma von zu lange ziehendem Tee wahr, das sich wie ein roter Faden durch den Sitzkrieg zu ziehen schien.

Alle Köpfe drehten sich zu den Neuankömmlingen um.

»Das ist Detective Inspector Brooke«, sagte Marcus. »Er hat die Sicherheitsfreigabe A-plus.«

Brooke lüftete grüßend den Hut.

Einer der Männer – im Anzug, aber wagemutigerweise ohne Krawatte – hustete, und das schien das Signal für alle zu sein, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

Auf dem Weg zu Marcus’ Büro, einem halb verglasten Kasten, warf Brooke einen Blick auf einige der Papierschnipsel auf den Tischen; Tabellen voller Zahlen beherrschten die Dokumente. Und dann waren da noch Zeitungen, etliche mit deutschen Titeln, aber er entdeckte auch eine in kyrillischer Schrift.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, was das alles zu bedeuten hat, Brooke. Eigentlich ist es auch ziemlich langweilig und ganz und gar undramatisch. Aber es stellt den Beginn von etwas dar. Es ist, wenn Sie so wollen, eine Saat.«

»Eine Spore?«, fragte Brooke.

Marcus schloss die Tür.

»Ich wurde angewiesen, Sie so gut wie möglich zu unterstützen«, sagte Marcus, ohne auf die Frage einzugehen. »Eine Strafverfolgung kommt nicht infrage. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie das ebenso sehen?«

Brooke nickte. »Ich wusste nicht, dass der Militärgeheimdienst Interesse an studentischen Überfliegern zeigt, die ihre Universitätsausbildung noch nicht abgeschlossen haben«, sagte er.

Ashmore lachte, und seine Augen fokussierten ein Geheimnis in mittlerer Entfernung in einer Landschaft, die sich nur Männern seines Kalibers und Intellekts offenbarte.

»Ich gebe zu, es gab an der Universität eine gewisse Begeisterung für die Rekrutierung«, sagte er. »Ich denke, als Kader – wenn ich uns so nennen kann – werden wir etwas bewegen können, im Geheimdienst und für unser Land. Man ist an mich herangetreten, und ich fühlte mich geehrt, das Angebot anzunehmen. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«

»Swift-Lane«, kommentierte Brooke.

»Allerdings. Er hatte Kontakte am College. Gibt es irgendwelche neuen Einzelheiten über sein Schicksal?«

Brooke zuckte mit den Schultern. »Er ist in Ely gestorben. Milzbrand, die gastrointestinale Infektion. Er war allein. Er war kein Mann, der Freundschaften pflegt. Der Junge hat ihn besucht, Frederick, das dürfte ihm ein kleiner Trost gewesen sein.«

»Was für ein Schlamassel«, sagte Ashmore und verschob die Angelegenheit damit geschickt in die Kategorie der vergessenen Katastrophen der Geschichte.

An einer Wand hinter seinem Schreibtisch hing ein Monatsplaner für die Jahre 1939, 1940, 1941, 1942. Bei dem Gedanken daran, dass das Jahre ermüdenden, bürokratischen Stumpfsinns sein würden, fühlte Brooke sich plötzlich alt.

»War es unbedingt nötig, Ernst Lux zu töten?«, fragte er. Diese Anschuldigung vorzubringen, war wichtig. Allein die Frage zu stellen, reichte, damit er sich so gut fühlte wie seit einem Monat nicht mehr.

Ashmore legte die Fingerspitzen aneinander. Aber seine Augen verrieten ihn, als sie zu dem Fluchtweg zuckten, den seine Bürotür ihm versprach.

»Seine Freundin sagte, ihr zwei hättet euch nahegestanden. Seid ihr euch nahegekommen? Als forschender Amerikaner muss er doch deine Intelligenzantenne gekitzelt haben. Hat er seinen Vater erwähnt, den pazifistischen Helden, der für seine Überzeugungen ins Gefängnis gegangen ist? Wenn wir all das in Betracht ziehen und in Beziehung setzen zu dem, was er in jener Nacht im Galen gesehen hat, in diesem Film, den ich inzwischen auch gesehen habe, dann verstehen wir sein Dilemma. Hat es nicht etwas Anstößiges, dass die Biologie, die Wissenschaft vom Leben, zum Töten genutzt werden kann? Eine einzige Achtzehn-Kilo-Bombe, abgeworfen über der Ruhr. Die würde wie viele Leben kosten? Tausend? Zwanzigtausend? Ein Angriff mit fünfzig Bombern hunderttausend?«

Ashmore sah auf die Uhr.

»Ernst war ein intelligenter Mann«, sagte er. »Er wollte seine Forschungen fortsetzen, aber das hatte seinen Preis. Die Erfordernisse des Krieges …«

»Aber was hat er gesagt, Marcus? Was hatte er vor? Wollte er die Sache öffentlich anprangern? Hat Swift-Lane sich einen weiteren Ausrutscher geleistet, indem er zugelassen hat, dass ein amerikanischer Staatsbürger diesen Film sieht? Es hätte ja nicht viel Sinn gehabt, ihn zu verpflichten, den Official Secrets Act zu unterzeichnen, nicht wahr? Er hätte sagen können, was er wollte, sobald er in New York von Bord gegangen wäre. Aber vielleicht hätte er sich auch gar nicht an die Öffentlichkeit gewandt. Was, wenn er sich an Washington gewandt hätte? Das ist tatsächlich eine verdammt gute Frage, Marcus. Sind unsere Verbündeten informiert

»Die Deutschen sind nicht informiert, darum geht es, Brooke«, konstatierte er. Offenbar wurde er den höflichen Ton ihres Gesprächs leid. »Unterdessen entwickeln die Nazis ihre eigenen Waffen. Ich habe Luftaufnahmen gesehen, und wir haben Leute vor Ort.«

Das »wir« entging Brooke nicht.

»Es gibt ein Dorf in der Lüneburger Heide, in dem sie ein Nervengas namens Tabun herstellen. In der gleichen Einrichtung, in der sie beim letzten Mal das Senfgas produziert haben. Denken Sie, die werden das nicht benutzen? Wo ist Luke? Jo sagte, er wäre in Frankreich, also wird er nahe an der Front sein.«

»Ich bin nur ein einfacher Polizist«, sagte Brooke. »Ich befasse mich mit dem Tod von Ernst Lux. Ich habe den Schauplatz untersucht und festgestellt, dass er mit annähernder Sicherheit nicht den Halt auf dem schmalen Steinsims verloren hat. Wann bist du zu dem Schluss gekommen, es könnte ganz gelegen kommen, sollte er abstürzen? Als die Sirene geheult hat? Als er dir erzählt hat, was er zu tun beabsichtigte? Oder als dir klar wurde, dass du ebenfalls eine Rolle bei diesem Sicherheitsverstoß gespielt hast? Er hat seiner Verlobten versprochen, er würde nie wieder klettern. Hast du ihn in jener Nacht zu einem Ausflug auf die Dächer überredet? Eine letzte Kletterei, vielleicht ehe er eine Überfahrt nach Hause buchte?«

Ashmore erhob sich und bearbeitete einen Bleistift mit beiden Händen.

»Das werden Sie nie erfahren«, sagte er.

Näher würde er einem Geständnis niemals kommen. Brooke fragte sich, ob die Erinnerung an den abstürzenden Ernst Lux und sein ihm zugewandtes Gesicht Marcus verfolgten, und welchen Ausdruck er als Letztes in den Augen des Toten gesehen hatte. Entsetzen über den Verrat oder nur Verwunderung?

»Sie haben einen kometenhaften Aufstieg geschafft«, bemerkte Brooke und musterte die Arbeiter an ihren Tischen, als ihm die Tür aufgehalten wurde.

»Es gibt große Probleme zu lösen. Puzzles, Brooke, Dinge die die menschliche Kraft übersteigen. Wir werden denkende Maschinen brauchen.«

Brooke rückte seinen Hut zurecht. »Wir brauchen denkende Menschen, Marcus. Vergiss das nicht.«